Zwei Prager Geschichten
" Als der große Mime Norinski um drei Uhr nachmittags in das National-Café, welches vor dem Prager tschechischen Theater liegt, eintrat, erschrak er ein wenig, lächelte aber gleich darauf sein verächtlichstes Lächeln: in dem Spiegel, schräg gegenüber der Thür, hatte sich irgend eine entfernte Ecke des Saales gefangen, und er hatte drinnen eine schiefe Marmorsäule und unter dieser Säule einen kleinen, buckligen Mann erkannt, dessen seltsame Augen dem Eintretenden wie lauernd aus einem unförmigen Kopfe entgegenstarrten. Das Fremde dieses Blickes, in dessen Tiefen irgend ein unerhörtes Geschehen sich dunkel zu spiegeln schien, hatte ihn einen Augenblick in Schrecken versetzt. Nicht etwan weil er besonders furchtsamer Natur gewesen wäre, sondern infolge des profunden und versonnenen Wesens, welches so großen Künstlern meistens eignet, und durch dessen Wall sich jedes Ereignisgleichsam durchbohren muß. Dem Original gegenüber empfand Norinski nichts ähnliches. Er übersah den Verwachsenen sogar eine ganze Weile, während er mit unnötiger Wichtigkeit den andern am Stammtisch die Hand reichte. Die Händedrücke nahmen eine ziemliche Zeit in Anspruch, denn jeder hatte gleichsam 3 Akte. 1. Akt: Zögernd folgt die Hand des Schauspielers dem Flehen der entgegengestreckten Hände. 2. Akt: Seine Hand spricht nachdrücklich zu der, welche sie umfaßt: Merkst du auch die Bedeutung dieses Moments? 3. Akt und Katastrophe, wobei Norinski jede Hand verächtlich loslies, fortwarf: Oh du Erbärmlicher, das kannst du ja gar nicht merken . . . Diese Erbärmlichen waren diesmal: Karás, der lange blasse Kritiker des Tschas, ausgezeichnet durch einen überaus langen Hals und - wie ein boshafter jüdischer Kollege mal behauptet hatte einen überaus höflichen Adamsapfel, welcher jeden Tropfen durch die Einsamkeit der Kehle bis an den Kragenrand, wo er sich nicht mehr verirren konnte, begleitete und von dort diensteifrig auf seinen Posten zurückschnellte, Schileder, der schöne Maler, der so traurige Ding
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Zwei Prager Geschichten
" Als der große Mime Norinski um drei Uhr nachmittags in das National-Café, welches vor dem Prager tschechischen Theater liegt, eintrat, erschrak er ein wenig, lächelte aber gleich darauf sein verächtlichstes Lächeln: in dem Spiegel, schräg gegenüber der Thür, hatte sich irgend eine entfernte Ecke des Saales gefangen, und er hatte drinnen eine schiefe Marmorsäule und unter dieser Säule einen kleinen, buckligen Mann erkannt, dessen seltsame Augen dem Eintretenden wie lauernd aus einem unförmigen Kopfe entgegenstarrten. Das Fremde dieses Blickes, in dessen Tiefen irgend ein unerhörtes Geschehen sich dunkel zu spiegeln schien, hatte ihn einen Augenblick in Schrecken versetzt. Nicht etwan weil er besonders furchtsamer Natur gewesen wäre, sondern infolge des profunden und versonnenen Wesens, welches so großen Künstlern meistens eignet, und durch dessen Wall sich jedes Ereignisgleichsam durchbohren muß. Dem Original gegenüber empfand Norinski nichts ähnliches. Er übersah den Verwachsenen sogar eine ganze Weile, während er mit unnötiger Wichtigkeit den andern am Stammtisch die Hand reichte. Die Händedrücke nahmen eine ziemliche Zeit in Anspruch, denn jeder hatte gleichsam 3 Akte. 1. Akt: Zögernd folgt die Hand des Schauspielers dem Flehen der entgegengestreckten Hände. 2. Akt: Seine Hand spricht nachdrücklich zu der, welche sie umfaßt: Merkst du auch die Bedeutung dieses Moments? 3. Akt und Katastrophe, wobei Norinski jede Hand verächtlich loslies, fortwarf: Oh du Erbärmlicher, das kannst du ja gar nicht merken . . . Diese Erbärmlichen waren diesmal: Karás, der lange blasse Kritiker des Tschas, ausgezeichnet durch einen überaus langen Hals und - wie ein boshafter jüdischer Kollege mal behauptet hatte einen überaus höflichen Adamsapfel, welcher jeden Tropfen durch die Einsamkeit der Kehle bis an den Kragenrand, wo er sich nicht mehr verirren konnte, begleitete und von dort diensteifrig auf seinen Posten zurückschnellte, Schileder, der schöne Maler, der so traurige Ding
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Zwei Prager Geschichten

Zwei Prager Geschichten

by Rainer Maria Rilke
Zwei Prager Geschichten

Zwei Prager Geschichten

by Rainer Maria Rilke

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" Als der große Mime Norinski um drei Uhr nachmittags in das National-Café, welches vor dem Prager tschechischen Theater liegt, eintrat, erschrak er ein wenig, lächelte aber gleich darauf sein verächtlichstes Lächeln: in dem Spiegel, schräg gegenüber der Thür, hatte sich irgend eine entfernte Ecke des Saales gefangen, und er hatte drinnen eine schiefe Marmorsäule und unter dieser Säule einen kleinen, buckligen Mann erkannt, dessen seltsame Augen dem Eintretenden wie lauernd aus einem unförmigen Kopfe entgegenstarrten. Das Fremde dieses Blickes, in dessen Tiefen irgend ein unerhörtes Geschehen sich dunkel zu spiegeln schien, hatte ihn einen Augenblick in Schrecken versetzt. Nicht etwan weil er besonders furchtsamer Natur gewesen wäre, sondern infolge des profunden und versonnenen Wesens, welches so großen Künstlern meistens eignet, und durch dessen Wall sich jedes Ereignisgleichsam durchbohren muß. Dem Original gegenüber empfand Norinski nichts ähnliches. Er übersah den Verwachsenen sogar eine ganze Weile, während er mit unnötiger Wichtigkeit den andern am Stammtisch die Hand reichte. Die Händedrücke nahmen eine ziemliche Zeit in Anspruch, denn jeder hatte gleichsam 3 Akte. 1. Akt: Zögernd folgt die Hand des Schauspielers dem Flehen der entgegengestreckten Hände. 2. Akt: Seine Hand spricht nachdrücklich zu der, welche sie umfaßt: Merkst du auch die Bedeutung dieses Moments? 3. Akt und Katastrophe, wobei Norinski jede Hand verächtlich loslies, fortwarf: Oh du Erbärmlicher, das kannst du ja gar nicht merken . . . Diese Erbärmlichen waren diesmal: Karás, der lange blasse Kritiker des Tschas, ausgezeichnet durch einen überaus langen Hals und - wie ein boshafter jüdischer Kollege mal behauptet hatte einen überaus höflichen Adamsapfel, welcher jeden Tropfen durch die Einsamkeit der Kehle bis an den Kragenrand, wo er sich nicht mehr verirren konnte, begleitete und von dort diensteifrig auf seinen Posten zurückschnellte, Schileder, der schöne Maler, der so traurige Ding

Product Details

ISBN-13: 9791041818402
Publisher: Culturea
Publication date: 06/27/2023
Pages: 42
Product dimensions: 5.83(w) x 8.27(h) x 0.10(d)
Language: German
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