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Bulimie ist eine Krankheit, die sich in dein Leben einschleicht. Anfangs eine "anlassbezogene Ausnahmeerscheinung", wird das Erbrechen bald schon eine "gelegentliche Ausweichmöglichkeit", anschließend eine "schlechte Angewohnheit" und ehe man sich's versieht, wird man es nicht mehr los und steckt mitten in einer ausgewachsenen Sucht. Ich frage mich sehr oft, wie mir das passieren konnte. Warum bin ich da hineingeraten, wann hat die Krankheit begonnen, wo verlief die Grenze zur Essstörung, warum habe ich sie nicht erkannt? Allein in unserem täglichen Sprachgebrauch finden sich dutzende Beispiele, die darauf hinweisen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und Gemütsverfassung in unserer Gesellschaft nicht nur existent ist, sondern einen immensen Stellenwert besitzt. In Verbindung mit Essstörungen, speziell Bulimie, werden Phrasen wie "Das kotzt mich an", "Ich hab es satt", "Da muss ich mich durchbeißen", "Das muss ich erst verdauen" vor allem für Betroffene besonders "gewichtig", ihre Bedeutung "wiegt schwer". Man "schluckt" Dinge, Probleme, Gedanken im wahrsten Sinne des Wortes "hinunter", um sie dann wieder in Form von halbverdauter Nahrung rauszukotzen, loszuwerden, all das, was man nicht verarbeiten kann, was belastet, was zu viel ist. Das Ritual des Essens und anschließenden Erbrechens wird zum Ventil: unterdrückte Aggressionen, Wünsche, Schmerz, übermächtige Emotionen werden dadurch kompensiert und so scheinbar Druck abgebaut. Bulimie bietet die "wunderbare Scheinmöglichkeit", einmal getroffene Entscheidungen (wie zum Beispiel die eine große Portion Spaghetti gegessen zu haben, stellvertretend für andere, noch schwierigere Entscheidungen, die das Leben täglich fordert) einfach wieder rückgängig, sozusagen ungeschehen zu machen. Man hat den Eindruck, sich selbst und seinen Körper kontrollieren zu können, Macht über ihn zu besitzen, nach Belieben eine innere Leere zu füllen und sich dann wieder zu reinigen, sich von allem zu befreien, was belastet. Man übersieht dabei, dass die Sucht Macht und Kontrolle über den Süchtigen ausübt, nicht umgekehrt. Mit diesem Buch möchte ich meinen Beitrag zum Kampf gegen eine Sucht leisten, die immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist, obwohl eben diese Gesellschaft sie zu einem großen Teil mitverschuldet. Jugendliche werden heutzutage über die Gefahren von Drogen, Aids und Krebs aufgeklärt, aber nur wenige scheinen sich der stetig wachsenden Zahl von Essstörungen Betroffener bewusst zu sein. Betroffene und Eltern stehen ratlos vor dem "Problem Essen". Während Magersucht in fortgeschrittenem Stadium für die Außenwelt sichtbar ist, spielt sich Bulimie im Verborgenen ab wie ein Verbrechen. Nahrung ist dabei die legale Droge. Das nicht Gesellschaftstaugliche und Komplizierte daran ist, wie man sie unauffällig in großen Mengen zu sich nimmt und anschließend im Geheimen wieder los wird. Auf den ersten Blick bleibt die Krankheit so von der Außenwelt unerkannt. Die Kombination von gezieltem, manipulativem Marketing, das Jugendlichen Erfolg durch Schlankheit verspricht, und den "normalen" Problemen, die das Erwachsenwerden mit sich bringen, führt nicht selten zur Flucht eines jungen Menschen in ein noch riesigeres, unüberschaubareres Chaos. Bulimie bedeutet vor allem Widerspruch, Gegensatz: Essen - Erbrechen, voll - leer, Druck - Entspannung. Die Betroffenen leiden deswegen unter größten Schuldgefühlen.