Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart

Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart

by Byung-Chul Han
Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart

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Byung-Chul Han macht in seinem neuen Buch deutlich, wie verloren der Einzelne in einer Gesellschaft zunehmender Individualisierung ist und warum wir dringend eine neue Lebensform brauchen. 


Product Details

ISBN-13: 9783843718738
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 06/14/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 128
File size: 698 KB
Language: German

About the Author

Byung-Chul Han, geboren 1959, studierte in Freiburg im Breisgau und in München Philosophie, deutsche Literatur und katholische Theologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter "Müdigkeitsgesellschaft", "Transparenzgesellschaft" , "Die Errettung des Schönen", "Psychopolitik" und "Die Austreibung des Anderen".

Byung-Chul Han, geboren 1959, studierte in Freiburg im Breisgau und in München Philosophie, deutsche Literatur und katholische Theologie. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter Müdigkeitsgesellschaft, Transparenzgesellschaft, Die Errettung des Schönen, Psychopolitik und Die Austreibung des Anderen. Bei Ullstein sind erschienen: Lob der Erde, Vom Verschwinden der Rituale sowie Undinge. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

ZWANG DER PRODUKTION

Rituale sind symbolische Handlungen. Sie tradieren und repräsentieren jene Werte und Ordnungen, die eine Gemeinschaft tragen. Sie bringen eine Gemeinschaft ohne Kommunikation hervor, während heute eine Kommunikation ohne Gemeinschaft vorherrscht. Konstitutiv für die Rituale ist die symbolische Wahrnehmung. Das Symbol (griech. symbolon) bedeutet ursprünglich das Wiedererkennungszeichen zwischen Gastfreunden (tessera hospitalis). Der eine Gastfreund bricht ein Tontäfelchen durch, behält die eine Hälfte für sich und gibt dem anderen die andere Hälfte als Zeichen der Gastfreundschaft. So dient das Symbol der Wiedererkennung. Diese ist eine besondere Form von Wiederholung: »Wiedererkennen ist nicht: etwas noch einmal sehen. Wiedererkennungen sind nicht eine Serie von Begegnungen, sondern Wiedererkennen heißt: etwas als das, als was man es schon kennt, erkennen. Es macht den eigentlichen Prozess menschlicher ›Einhausung‹ aus – ein Wort Hegels, das ich in diesem Fall gebrauche –, dass jede Wiedererkenntnis von der Kontingenz der ersten Kenntnisnahme bereits gelöst und in das Ideelle erhoben worden ist. Wir kennen das alle. In Wiedererkenntnis liegt immer, dass man jetzt eigentlicher erkennt, als man in der Augenblicksbefangenheit der Erstbegegnung vermochte. Wiedererkennen sieht das Bleibende aus dem Flüchtigen heraus. «Die symbolische Wahrnehmung als Wiedererkenntnis nimmt das Dauernde wahr. Die Welt wird dadurch von ihrer Kontingenz befreit und erhält etwas Bleibendes. Die Welt ist heute sehr arm an Symbolischem. Daten und Informationen besitzen keine Symbolkraft. So lassen sie keine Wiedererkenntnis zu. In der symbolischen Leere gehen jene sinn- und gemeinschaftsstiftenden Bilder und Metaphern verloren, die das Leben stabilisieren. Die Erfahrung der Dauer nimmt ab. Und die Kontingenz nimmt radikal zu.

Rituale lassen sich als symbolische Techniken der Einhausung definieren. Sie verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort. Sie sind in der Zeit das, was im Raum eine Wohnung ist. Sie machen die Zeit bewohnbar. Ja, sie machen sie begehbar wie ein Haus. Sie ordnen die Zeit, richten sie ein. In seinem Roman Citadelle beschreibt Antoine de Saint-Exupéry die Rituale als Zeittechniken der Einhausung: »Und die Riten sind in der Zeit, was das Heim im Raume ist. Denn es ist gut, wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint, das uns verbraucht und zerstört wie die Handvoll Sand, sondern als etwas, das uns vollendet. Es ist gut, wenn die Zeit ein Bauwerk ist. So schreite ich von Fest zu Fest, von Jahrestag zu Jahrestag, von Weinlese zu Weinlese, so wie ich als Kind vom Saal des Rates in den Saal der Ruhe ging, im festgefügten Palast meines Vaters, wo alle Schritte einen Sinn hatten.« Der Zeit fehlt heute das feste Gefüge. Sie ist kein Haus, sondern ein unbeständiger Fluss. Sie zerfällt zu bloßer Abfolge punktueller Gegenwart. Sie stürzt fort. Nichts gibt ihr einen Halt. Die fortstürzende Zeit ist nicht bewohnbar.

Rituale stabilisieren das Leben. In Abwandlung des Wortes von Antoine de SaintExupéry lässt sich sagen: Die Rituale sind im Leben das, was im Raum die Dinge sind. Für Hannah Arendt ist es die Haltbarkeit der Dinge, die diesen eine »Unabhängigkeit von der Existenz der Menschen« verleiht. Die Dinge haben »die Aufgabe, menschliches Leben zu stabilisieren«. Ihre Objektivität liegt darin, dass »sie der reißenden Veränderung des natürlichen Lebens [ ...] eine menschliche Selbigkeit darbieten«, nämlich eine stabilisierende Identität, die »sich daraus herleitet, dass der gleiche Stuhl und der gleiche Tisch den jeden Tag veränderten Menschen mit gleichbleibender Vertrautheit entgegenstehen«. Die Dinge sind stabilisierende Ruhepole des Lebens. Die Rituale haben die gleiche Funktion. Vermittels ihrer Selbigkeit, ihrer Wiederholung stabilisieren sie das Leben. Sie machen das Leben haltbar. Der heutige Zwang der Produktion nimmt den Dingen ihre Haltbarkeit. Er zerstört bewusst die Dauer, um mehr zu produzieren, um mehr Konsum zu erzwingen. Das Verweilen aber setzt die Dinge voraus, die dauern. Werden die Dinge nur verbraucht und konsumiert, so ist kein Verweilen möglich. Und derselbe Zwang der Produktion destabilisiert das Leben, indem er das Dauernde im Leben abbaut. So zerstört er die Haltbarkeit des Lebens, obwohl das Leben sich verlängert.

Das Smartphone ist kein Ding im Sinne von Hannah Arendt. Ihm fehlt gerade die Selbigkeit, die das Leben stabilisiert. Besonders haltbar ist es auch nicht. Es unterscheidet sich von Dingen wie einem Tisch, die in ihrer Selbigkeit mir gegenüberstehen. Alles andere als selbig sind seine medialen Inhalte, die unsere Aufmerksamkeit ständig in Beschlag nehmen. Ihr rascher Wechsel lässt kein Verweilen zu. Die dem Apparat innewohnende Unruhe macht ihn zu einem Un-Ding. Zwingend ist außerdem der Griff nach ihm. Vom Ding aber sollte kein Zwang ausgehen.

Es sind rituelle Formen, die wie Höflichkeit nicht nur einen schönen zwischenmenschlichen Umgang, sondern auch einen schönen, schonenden Umgang mit den Dingen möglich machen. Im rituellen Rahmen werden die Dinge nicht konsumiert oder verbraucht, sondern gebraucht. So können sie auch alt werden. Unter dem Zwang der Produktion aber verhalten wir uns gegenüber den Dingen, ja gegenüber der Welt verbrauchend statt gebrauchend. Im Gegenzug verbrauchen sie uns. Rücksichtsloses Verbrauchen umgibt uns mit dem Verschwinden, was das Leben destabilisiert. Rituelle Praktiken sorgen dafür, dass wir nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit den Dingen schön umgehen und resonieren: »Mit Hilfe der Messe lernen die Priester, schön mit den Dingen umzugehen: das sanfte Halten von Kelch und Oblate, das gemächliche Auswischen der Behältnisse, das Umblättern des Buchs; und das Ergebnis des schönen Umgangs mit den Dingen: herzbeflügelnde Fröhlichkeit.«

Heute konsumieren wir nicht bloß die Dinge, sondern auch die Emotionen, mit denen sie aufgeladen werden. Dinge kann man nicht unendlich konsumieren, Emotionen aber schon. So eröffnen sie ein neues, unendliches Konsumfeld. Die Emotionalisierung und die mit ihr zusammenhängende Ästhetisierung der Ware unterliegen dem Zwang der Produktion. Sie haben Konsum und Produktion zu erhöhen. Somit wird das Ästhetische durch das Ökonomische kolonialisiert.

Die Emotionen sind flüchtiger als die Dinge. So stabilisieren sie das Leben nicht. Beim Konsum der Emotion bezieht man sich außerdem nicht auf die Dinge, sondern auf sich selbst. Gesucht wird nach emotionaler Authentizität. So verstärkt der Konsum der Emotion den narzisstischen Selbstbezug. Der Weltbezug, den die Dinge zu vermitteln hätten, geht dadurch immer mehr verloren.

Auch Werte dienen heute als Gegenstand individuellen Konsums. Sie werden selbst zu Waren. Werte wie Gerechtigkeit, Menschlichkeit oder Nachhaltigkeit werden ökonomisch ausgeschlachtet. »Tee trinkend die Welt verändern«, so lautet der Slogan eines Fairtrade-Unternehmens. Weltveränderung durch Konsum, das wäre das Ende der Revolution. Vegan sollten auch Schuhe oder Kleider sein. Bald wird es wohl vegane Smartphones geben. Der Neoliberalismus beutet vielfach die Moral aus. Moralische Werte werden als Distinktionsmerkmal konsumiert. Sie werden auf dem Ego-Konto verbucht, was den Selbstwert erhöht. Sie steigern die narzisstische Selbstachtung. Über Werte bezieht man sich nicht auf die Gemeinschaft, sondern auf das eigene Ego.

Mit dem Symbol, mit der tessera hospitalis besiegeln die Gastfreunde ihr Bündnis. Das Wort symbolon ist im Bedeutungshorizont von Beziehung, Ganzheit und Heil angesiedelt. Dem Mythos zufolge, den Aristophanes in Platons Dialog Gastmahl erzählt, war der Mensch ursprünglich ein kugelförmiges Wesen mit zwei Gesichtern und vier Beinen. Da er zu übermütig war, zerschnitt Ihn Zeus in zwei Hälften, um ihn zu schwächen. Seitdem ist der Mensch ein symbolon, das sich nach seiner anderen Hälfte, nach einer heilenden Ganzheit sehnt. So heißt Zusammenbringen auf Griechisch symbállein. Rituale sind auch insofern eine symbolische Praxis, eine Praxis des symbállein, als sie Menschen zusammenführen und ein Bündnis, eine Ganzheit, eine Gemeinschaft hervorbringen.

Das Symbolische als Medium der Gemeinschaft verschwindet heute zusehends. Entsymbolisierung und Entritualisierung bedingen einander. Die Sozialanthropologin Mary Douglas stellt verwundert fest: »Eines der ernstesten Probleme unserer Zeit ist das Schwinden des Verbundenseins durch gemeinsame Symbole. [...] Wenn es sich nur darum handelte, dass die Gesellschaft sich in kleine Gruppen aufsplitterte, von denen jede ihre eigenen Formen der symbolischen Verbundenheit entwickelte, wäre das ein nicht besonders schwer zu verstehender Vorgang. Wesentlich weniger leicht verständlich sind der verbreitete Abscheu und Widerwille gegen das Ritual überhaupt. ›Ritual‹ ist ein anstößiges Wort geworden, ein Ausdruck für leeren Konformismus; wir sind Zeugen einer allgemeinen Revolte gegen jede Art von Formalismus, ja gegen ›Form‹ überhaupt.« Das Verschwinden der Symbole verweist auf die zunehmende Atomisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wird die Gesellschaft narzisstisch. Der narzisstische Verinnerlichungsprozess entwickelt eine Formfeindlichkeit. Objektive Formen werden verworfen zugunsten subjektiver Zustände. Rituale entziehen sich der narzisstischen Innerlichkeit. Die Ich-Libido kann an sie nicht andocken. Wer sich ihnen hingibt, muss von sich selbst absehen. Rituale erzeugen eine Selbst-Distanz, eine Selbst-Transzendenz. Sie entpsychologisieren, entinnerlichen ihre Akteure.

Die symbolische Wahrnehmung verschwindet heute immer mehr zugunsten serieller Wahrnehmung, die nicht zur Erfahrung der Dauer fähig ist. Die serielle Wahrnehmung als fortgesetzte Kenntnisnahme des Neuen verweilt nicht. Vielmehr eilt sie von einer Information zur nächsten, von einem Erlebnis zum nächsten, von einer Sensation zur nächsten, ohne je zum Abschluss zu kommen. Serien sind heute wohl deshalb so beliebt, weil sie der Gewohnheit der seriellen Wahrnehmung entsprechen. Auf der Ebene des Medienkonsums führt sie zum Binge Watching, zum Komaglotzen. Die serielle Wahrnehmung ist extensiv, während die symbolische Wahrnehmung intensiv ist. Aufgrund ihrer Extensität hat sie eine flache Aufmerksamkeit. Die Intensität weicht heute überall der Extensität. Die digitale Kommunikation ist eine extensive Kommunikation. Sie stellt nicht Beziehungen, sondern nur Verbindungen her.

Das neoliberale Regime forciert die serielle Wahrnehmung, verstärkt den seriellen Habitus. Es schafft bewusst die Dauer ab, um mehr Konsum zu erzwingen. Das ständige Update, das inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, lässt keine Dauer, keinen Abschluss zu. Der permanente Zwang der Produktion führt zu einer Enthausung. Das Leben wird dadurch kontingenter, vergänglicher und unbeständiger. Das Wohnen aber bedarf der Dauer.

Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung resultiert aus einer pathologischen Verschärfung der seriellen Wahrnehmung. Die Wahrnehmung kommt nie zur Ruhe. Sie verlernt das Verweilen. Die tiefe Aufmerksamkeit als Kulturtechnik bildet sich gerade aus rituellen und religiösen Praktiken heraus. Religion stammt nicht zufällig von relegere, aufmerken. Jede religiöse Praxis ist eine Aufmerksamkeitsübung. Der Tempel ist ein Ort tiefer Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit ist Malebranche zufolge das natürliche Gebet der Seele. Die Seele betet heute nicht. Sie produziert sich unablässig.

Heute werden viele Formen von Wiederholung wie Auswendiglernen mit dem Verweis auf das Unterdrücken von Kreativität, Innovation etc. unterbunden. Auswendiglernen heißt auf Französisch apprendre par cœur. Allein Wiederholungen erreichen offenbar das Herz. Angesichts zunehmender Aufmerksamkeitsdefizitstörung wurde unlängst die Einführung des neuen Schulfaches »Ritualkunde« vorgeschlagen, um rituelle Wiederholungen als Kulturtechnik wieder einzuüben. Wiederholungen stabilisieren und vertiefen die Aufmerksamkeit.

Die Wiederholung ist der Wesenszug der Rituale. Sie unterscheidet sich von der Routine durch ihre Fähigkeit, eine Intensität zu erzeugen. Woher kommt die Intensität, die die Wiederholung auszeichnet und sie vor der Routinisierung schützt? Wiederholung und Erinnerung stellen für Kierkegaard dieselbe Bewegung dar, aber in entgegengesetzter Richtung. Was erinnert wird, ist vergangen, wird »nach rückwärts wiederholt«, während die eigentliche Wiederholung »nach vorwärts erinnert«. Die Wiederholung als Wiedererkenntnis ist also eine Schlussform. Vergangenheit und Zukunft werden zusammengeschlossen zu einer lebendigen Gegenwart. Als Schlussform stiftet sie Dauer und Intensität. Sie sorgt dafür, dass die Zeit verweilt.

Kierkegaard setzt die Wiederholung sowohl der Hoffnung als auch der Erinnerung entgegen: »Die Hoffnung ist ein neues Stück Kleidung, steif und glatt und glänzend, man hat es jedoch nie angehabt und weiß daher nicht, wie es einen kleiden wird und wie es sitzt. Die Erinnerung ist ein abgelegtes Kleidungsstück, das, so schön es auch ist, doch nicht passt, da man aus ihm herausgewachsen ist. Die Wiederholung ist ein unzerschleißbares Kleid, das fest und doch zart anschließt, weder drückt noch schlottert.« Es ist, so Kierkegaard, »nur das Neue, dessen man überdrüssig wird, nie das Alte«. Das Alte ist das »tägliche Brot, das sättigt mit Segen«. Es beglückt: »Nur der wird recht glücklich, der sich nicht selbst in der Einbildungskraft betrügt, die Wiederholung sollte etwas Neues sein, denn dann wird man ihrer überdrüssig.«

Das tägliche Brot hat keinen Reiz. Reize verblassen sehr schnell. Die Wiederholung entdeckt im Reizlosen, im Unscheinbaren, im Faden eine Intensität. Wer hingegen immer Neues, Aufregendes erwartet, übersieht das, was bereits da ist. Der Sinn, also der Weg, ist wiederholbar. Des Weges wird man nicht überdrüssig: »Ich kann nur das ganz und gar Ereignislose wiederholen, wobei aber doch etwas in den Augenwinkeln mich erfreut hat (das Licht des Tages, oder die Dämmerung); selbst ein Sonnenuntergang ist schon ereignishaft und unwiederholbar; ja ich kann nicht einmal ein bestimmtes Licht wiederholen, oder eine Dämmerung, sondern nur einen Weg (und muss dabei auf alle, auch die neuen, Steine gefasst sein).«

Auf der Jagd nach neuen Reizen, Erregungen und Erlebnissen verlieren wir heute die Fähigkeit zur Wiederholung. Den neoliberalen Dispositiven wie Authentizität, Innovation oder Kreativität wohnt ein permanenter Zwang zum Neuen inne. Sie erzeugen aber letzten Endes nur Variationen des Gleichen. Das Alte, das Gewesene, das eine erfüllende Wiederholung zulässt, wird beseitigt, denn es stellt sich der Steigerungslogik der Produktion entgegen. Wiederholungen aber stabilisieren das Leben. Ihr Wesenszug ist die Einhausung.

Das Neue verflacht schnell zur Routine. Es ist eine Ware, die sich verbraucht und wieder das Bedürfnis nach Neuem entfacht. Der Zwang, das Routinemäßige zurückweisen zu müssen, erzeugt mehr Routine. Dem Neuen wohnt eine Zeitstruktur inne, die es schnell zur Routine verblassen lässt. Es lässt keine erfüllende Wiederholung zu. Der Zwang der Produktion als Zwang zum Neuen vertieft nur den Morast der Routine. Um der Routine, der Leere zu entkommen, konsumieren wir noch mehr Neues, neue Reize und Erlebnisse. Gerade das Gefühl der Leere treibt Kommunikation und Konsum voran. Das ›intensive Leben‹ als Reklame des neoliberalen Regimes ist nichts anderes als intensiver Konsum. Angesichts der Illusion des ›intensiven Lebens‹ gilt es, über eine andere Lebensform nachzudenken, die intensiver ist als fortgesetztes Konsumieren und Kommunizieren.

Rituale bringen eine Resonanzgemeinschaft hervor, die zu einem Zusammenklang, zu einem gemeinsamen Rhythmus fähig ist: »Rituale stiften soziokulturell etablierte Resonanzachsen, entlang deren vertikale (zu Göttern, zum Kosmos, zur Zeit und zur Ewigkeit), horizontale (in der sozialen Gemeinschaft) und diagonale (auf die Dinge bezogene) Resonanzbeziehungen erfahrbar werden.« Ohne Resonanz ist man auf sich selbst zurückgeworfen und für sich isoliert. Der zunehmende Narzissmus wirkt der Resonanzerfahrung entgegen. Die Resonanz ist kein Echo des Selbst. Ihr wohnt die Dimension des Anderen inne. Sie bedeutet Zusammenklang. Die Depression entsteht am Nullpunkt der Resonanz. Die heutige Krise der Gemeinschaft ist eine Resonanzkrise. Die digitale Kommunikation besteht aus Echokammern, in denen man in erster Linie sich selbst sprechen hört. Likes, Friends und Follower bilden keinen Resonanzboden. Sie verstärken nur das Echo des Selbst.

Rituale sind Verkörperungsprozesse und Körperinszenierungen. Die gültigen Ordnungen und Werte einer Gemeinschaft werden körperlich erfahren und verfestigt. Sie werden dem Körper eingeschrieben, inkorporiert, das heißt, körperlich verinnerlicht. So bringen die Rituale ein verkörperlichtes Wissen und Gedächtnis, eine verkörperlichte Identität, eine körperliche Verbundenheit hervor. Die rituelle Gemeinschaft ist eine Körperschaft. Der Gemeinschaft als solcher wohnt eine körperliche Dimension inne. Die Digitalisierung schwächt insofern die gemeinschaftliche Bindung, als von ihr eine entkörperlichende Wirkung ausgeht. Die digitale Kommunikation ist eine entkörperlichte Kommunikation.

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Table of Contents

Über das Buch und den Autor,
Titelseite,
Impressum,
Vorbemerkung,
Zwang der Produktion,
Zwang der Authentizität,
Rituale des Schließens,
Fest und Religion,
Spiel um Leben und Tod,
Ende der Geschichte,
Reich der Zeichen,
Vom Duell zum Drohnenkrieg,
Vom Mythos zum Dataismus,
Von der Verführung zum Porno,
Literatur,
Feedback an den Verlag,
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