Victoria: Eine Liebesgeschichte

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Overview

"Fragt jemand, was Liebe ist, so ist sie nichts als Wind, der in den Rosen rauscht und dann wieder dahinstirbt. Oft aber ist sie auch wie ein unzerbrechliches Siegel, das das ganze Leben lang dauert, bis zum Tode. Gott hat sie in vielerlei Arten geschaffen und hat sie bestehen oder vergehen sehen."
"Victoria" ist einer der bekanntesten Romane Knut Hamsuns, in dem er die unmögliche Liebe zweier Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten schildert. Eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur von zeitlosem Format.


Product Details

ISBN-13: 9783843721233
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/27/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 210
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Knut Hamsun wurde am 4. August 1859 in Gudbrandsdalen als Knud Pedersen geboren und gilt neben Henrik Ibsen als bedeutendster Schriftsteller Norwegens. Seine Schulausbildung war dürftig, eine Universität besuchte er nie und schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis ihm 1890 mit seinem Debütroman Hunger sogleich ein großer literarischer Erfolg gelang. 1920 erhielt er für sein Werk Segen der Erde den Literaturnobelpreis. Der wegen seiner Sympathien für den Nationalsozialismus politisch hoch umstrittene Hamsun starb 1952 in Nørholm.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Der Müllerssohn wanderte herum und dachte nach. Er war ein großer Bursche von vierzehn Jahren, braun von Sonne und Wind, voller Ideen.

Wenn er groß war, wollte er Streichholzmacher werden. Das war so schön gefährlich, an seinen Fingern könnte Schwefel hängen bleiben, sodass niemand ihm die Hand zu geben wagte. Er würde bei den Kameraden großen Respekt genießen wegen seines unheimlichen Handwerks.

Er sah nach seinen Vögeln im Wald. Er kannte sie alle, wusste, wo ihre Nester waren, verstand ihre Stimmen und beantwortete sie mit verschiedenen Rufen. Mehr als einmal hatte er ihnen Teigkugeln aus dem Mehl der Mühle seines Vaters gebracht.

All diese Bäume am Weg waren seine guten Bekannten. Im Frühjahr hatte er ihnen Saft abgezapft, und im Winter war er ihnen ein kleiner Vater gewesen, hatte sie vom Schnee befreit, ihren Ästen aufgeholfen. Und selbst oben in dem verlassenen Granitbruch war kein Stein ihm fremd, er hatte ihnen Buchstaben und Zeichen eingehauen und sie aufgerichtet, hatte sie wie eine Gemeinde um den Pfarrer gruppiert. In diesem alten Granitbruch geschahen alle möglichen merkwürdigen Dinge.

Er bog ab und kam zum Stauwasser hinunter. Die Mühle ging, ein ungeheurer, erdrückender Lärm umgab ihn. Er war es gewohnt, hier umherzugehen und laut mit sich selbst zu sprechen; jede Schaumperle hatte gleichsam ein kleines eigenes Leben, über das es etwas zu sagen gab, und drüben bei der Schleuse fiel das Wasser senkrecht ab und sah wie ein glänzendes Tuch aus, das zum Trocknen draußen hing. Im Teich hinter dem Wasserfall waren Fische; dort hatte er oft mit seiner Angel gestanden.

Wenn er groß war, wollte er Taucher werden. Das stand fest. Dann würde er vom Deck eines Schiffes ins Meer steigen und in fremde Reiche und Länder kommen, wo große, seltsame Wälder wogten und ein Korallenschloss auf dem Grund stand. Und aus einem Fenster winkt ihm die Prinzessin zu und sagt: Komm herein!

Da hört er hinter sich seinen Namen; der Vater stand da und rief Johannes.

Vom Schloss ist nach dir geschickt worden. Du sollst die jungen Herrschaften zur Insel rudern.

Er machte sich eilig auf den Weg. Eine neue, große Gnade war dem Müllerssohn widerfahren.

Das Herrenhaus sah in der grünen Landschaft wie ein kleines Schloss aus, ja, wie ein unglaublicher Palast in der Einsamkeit. Es war ein weiß gestrichener Holzbau mit vielen Bogenfenstern in den Wänden und am Dach, und vom runden Turm wehten Fahnen, wenn Gäste da waren. Man nannte es »Das Schloss«. Auf der einen Seite des Herrenhauses aber lag die Bucht, auf der anderen waren die großen Wälder; weit entfernt sah man ein paar kleine Bauernhäuser.

Johannes fand sich an der Anlegebrücke ein und ließ die Kinder ins Boot steigen. Er kannte sie, es waren die Kinder des Schlossherrn und ihre Kameraden aus der Stadt. Alle trugen hohe Stiefel, um durchs Wasser zu waten; Victoria aber, die nur Riemchenschuhe trug und auch erst zehn Jahre alt war, musste an Land getragen werden, als sie zur Insel kamen.

Soll ich dich tragen?, fragte Johannes.

Mit Verlaub!, sagte der Stadtherr Otto, ein Mann im Konfirmandenalter, und nahm sie auf die Arme.

Johannes schaute zu, wie sie weit aufs Land getragen wurde, und hörte sie Danke sagen. Dann sagte Otto zurückgewandt:

Du passt doch aufs Boot auf – wie hieß er noch gleich?

Johannes, antwortete Victoria. Ja, er passt aufs Boot auf.

Er blieb zurück. Die anderen gingen auf die Insel, in den Händen Körbe zum Eiersammeln. Er stand eine Weile da und grübelte; gern wäre er mit den anderen gegangen, und das Boot hätten sie einfach an Land ziehen können. Zu schwer? Es war nicht zu schwer. Und er packte das Boot und zog es ein Stück hinauf.

Er hörte das Lachen und Plaudern der jungen Gesellschaft, die sich entfernte. Auch gut, bis später. Sie hätten ihn aber ruhig mitnehmen können. Er kannte Nester und hätte sie hinführen können, seltsame, versteckte Löcher im Fels, wo Raubvögel mit Borsten auf dem Schnabel hausten. Einmal hatte er auch ein Hermelin gesehen.

Er schob das Boot ins Wasser und begann, zur anderen Seite der Insel zu rudern. Als er eine Strecke weit gekommen war, rief ihm jemand zu:

Ruder zurück. Du schreckst die Vögel auf.

Ich wollte euch nur das Hermelin zeigen?, erwiderte er fragend. Er machte eine kleine Pause. Und dann könnten wir das Schlangenloch ausräuchern? Ich habe Streichhölzer dabei.

Er bekam keine Antwort. So wendete er das Boot und ruderte zur Landungsstelle zurück. Er zog das Boot an Land.

Wenn er groß war, wollte er vom Sultan eine Insel kaufen und jeden Zugang zu ihr verbieten. Ein Kanonenboot würde seine Küsten schützen. Eure Herrlichkeit, würden die Sklaven melden, auf dem Riff sitzt ein Schiff fest, es ist aufgelaufen, die jungen Menschen darauf kommen um. Lasst sie umkommen!, antwortet er. Eure Herrlichkeit, sie rufen um Hilfe, noch können wir sie retten, eine weiß gekleidete Frau ist dabei. Rettet sie!, befiehlt er mit Donnerstimme. So sieht er die Kinder des Schlossherrn nach vielen Jahren wieder, und Victoria wirft sich vor ihm nieder und dankt ihm für seine Rettung. Nichts zu danken, es war nur meine Pflicht, antwortet er; bewegt euch frei in meinen Ländern, wo ihr wollt. Und dann lässt er der Gesellschaft die Tore des Schlosses öffnen und bewirtet sie aus goldenen Schüsseln, und dreihundert braune Sklavinnen singen und tanzen die ganze Nacht. Als aber die Schlosskinder wieder abreisen wollen, bringt Victoria es nicht fertig, sondern wirft sich schluchzend vor ihm in den Staub, weil sie ihn liebt. Lasst mich hierbleiben, verstoßt mich nicht, Eure Herrlichkeit, macht mich zu einer Eurer Sklavinnen ...

Er macht sich eilig auf den Weg auf die Insel, fröstelnd vor Ergriffenheit. Jawohl, er würde die Schlosskinder retten. Wer weiß, vielleicht hatten sie sich auf der Insel verirrt? Vielleicht hing Victoria zwischen zwei Felsen fest und konnte nicht loskommen? Es kostete ihn das Ausstrecken eines Arms, sie zu befreien.

Doch die Kinder sahen ihn erstaunt an, als er kam. Hatte er das Boot allein gelassen?

Ich mache dich für das Boot verantwortlich, sagte Otto.

Ich könnte euch zeigen, wo es Himbeeren gibt?, fragte Johannes.

Schweigen in der Gesellschaft. Victoria ging sofort darauf ein.

Ja? Wo denn?, fragte sie.

Der Stadtherr aber überwand sich schnell und sagte:

Damit können wir uns jetzt nicht befassen.

Johannes sagte:

Ich weiß auch, wo man Muscheln finden kann.

Erneutes Schweigen.

Sind Perlen darin?, fragte Otto.

Stellt euch vor, es wären Perlen darin!, sagte Victoria.

Johannes antwortete, nein, das wisse er nicht; die Muscheln lägen weit draußen auf dem weißen Sand, man brauche ein Boot, und man müsse nach ihnen tauchen.

Da wurde ausgiebig über die Idee gelacht, und Otto bemerkte:

Du siehst mir auch wie ein Taucher aus.

Johannes begann, schwer zu atmen.

Wenn ihr wollt, gehe ich auf den Felsen dort und rolle einen schweren Stein hinunter ins Meer, sagte er.

Wozu das?

Nein, zu gar nichts. Aber dann könntet ihr zuschauen.

Aber auch dieser Vorschlag wurde nicht angenommen, und Johannes schwieg beschämt. Dann begann er, weit weg von den anderen, auf einer anderen Seite der Insel, Eier zu suchen.

Als die ganze Gesellschaft wieder beim Boot versammelt war, hatte Johannes viel mehr Eier als die anderen; er trug sie vorsichtig in seiner Mütze.

Wie kommt es, dass du so viele gefunden hast?, fragte der Stadtherr.

Ich weiß, wo die Nester sind, antwortete Johannes glücklich. Ich lege sie zu deinen, Victoria.

Halt!, schrie Otto. Wozu das?

Alle sahen ihn an. Otto zeigte auf die Mütze und fragte:

Wer garantiert mir, dass die Mütze sauber ist?

Johannes sagte nichts. Sein Glück war mit einem Schlag vorbei. Dann machte er sich mit den Eiern auf den Weg zurück auf die Insel.

Was hat er? Wo geht er hin?, sagt Otto ungeduldig.

Wohin gehst du, Johannes?, ruft Victoria und läuft ihm nach.

Er bleibt stehen und antwortet leise:

Ich lege die Eier in die Nester zurück.

Sie standen eine Weile da und sahen sich an.

Und heute Nachmittag gehe ich in den Steinbruch hinauf, sagte er.

Sie antwortete nicht.

Dann könnte ich dir die Höhle zeigen.

Ja, aber ich habe solche Angst, antwortete sie. Sie ist so dunkel, hast du gesagt.

Da lächelte Johannes, trotz seines großen Kummers, und sagte mutig:

Ja, aber ich bin doch bei dir.

Er hatte seit der Kindheit in dem alten Granitbruch gespielt.

Man hatte ihn da oben reden und arbeiten gehört, obwohl er allein war; manchmal war er Pastor gewesen und hatte Gottesdienst gehalten.

Der Ort war seit Langem verlassen, auf den Steinen wuchs Moos, und alle Spuren von Bohrern und Sprengkeilen waren verwischt. Das Innere der geheimen Höhle aber hatte der Müllerssohn aufgeräumt und mit großer Kunst geschmückt, und dort wohnte er als Anführer der tapfersten Räuberbande der Welt.

Er läutet mit einer Silberglocke. Ein kleines Männchen, ein Zwerg mit einer Diamantenbrosche an der Mütze, hüpft herein. Es ist der Diener. Er verbeugt sich bis zur Erde. Wenn Prinzessin Victoria kommt, führt sie herein!, sagt er mit lauter Stimme. Der Zwerg verbeugt sich wieder bis zur Erde und verschwindet. Johannes rekelt sich gemächlich auf dem weichen Diwan und denkt nach. Dort würde er sie zu ihrem Sitz führen und ihr die köstlichsten Gerichte aus Silber- und Goldschüsseln reichen; ein loderndes Holzfeuer würde die Höhle erleuchten; hinter dem schweren Vorhang aus Goldbrokat am Ende der Höhle sollte ihr Lager bereitet werden, und zwölf Ritter sollten Wache stehen ...

Johannes steht auf, kriecht aus der Höhle und lauscht. Unten auf dem Pfad knistern Zweige und Laub.

Victoria!, ruft er.

Ja.

Er geht ihr entgegen.

Ich trau mich fast nicht, sagt sie.

Er wiegt die Schultern und erwidert:

Ich bin eben drin gewesen. Ich komme gerade von dort.

Sie gehen in die Höhle. Er weist ihr einen Platz auf einem Stein an und sagt:

Auf diesem Stein hat der Bergriese gesessen.

Hu, rede nicht weiter, erzähl es mir nicht! Hast du keine Angst gehabt?

Nein.

Du hast gesagt, er hat nur ein Auge; das sind aber Trolle, die mit einem Auge.

Johannes überlegte.

Er hatte zwei Augen, aber auf dem einen war er blind. Das hat er selbst gesagt.

Was hat er sonst noch gesagt? Nein, sag es nicht!

Er hat gefragt, ob ich in seinen Dienst treten will.

Das wolltest du doch nicht? Um Gottes willen.

Doch, ich habe nicht Nein gesagt.

Bist du bei Trost? Willst du in den Berg gesperrt werden?

Ich weiß nicht. Auf der Erde ist es ja auch nicht schön.

Pause.

Seit diese Stadtjungen da sind, gehst du nur mit ihnen, sagt er.

Wieder Pause.

Johannes lässt nicht locker:

Ich bin aber stärker und kann dich besser tragen und aus dem Boot heben als sie alle. Ich bin sicher, ich würde es schaffen, dich eine ganze Stunde lang zu tragen. Pass auf.

Er nahm sie in die Arme und hob sie hoch. Sie legte die Arme um seinen Hals.

So, nun brauchst du mich nicht mehr zu schaffen.

Er setzte sie nieder. Sie sagte:

Aber Otto ist auch stark. Und er hat sich sogar mit Erwachsenen geprügelt.

Johannes fragt zweifelnd:

Mit Erwachsenen?

Ja, hat er. In der Stadt.

Pause. Johannes denkt nach.

Na, dann ist nichts mehr zu machen, sagt er. Ich weiß, was ich tue.

Was denn?

Ich verdinge mich beim Bergriesen.

Nein, bist du bei Trost!, schreit Victoria.

Oh doch, mir ist alles egal. Ich tu's.

Victoria denkt über einen Ausweg nach.

Aber vielleicht kommt er gar nicht wieder?

Johannes antwortet:

Er kommt.

Hierher?, fragt Victoria schnell.

Ja.

Victoria steht auf und zieht sich zum Ausgang zurück.

Komm, lass uns lieber hinausgehen.

So eilig ist es nicht, sagt Johannes, der selbst blass geworden ist. Er kommt nämlich erst in der Nacht. Zur Mitternachtsstunde.

Victoria ist beruhigt und will ihren Platz wieder einnehmen. Johannes aber fällt es schwer, das Unheimliche, das er selbst heraufbeschworen hat, zu verkraften, es wird ihm in der Höhle zu gefährlich, und er sagt: Wenn du unbedingt hinauswillst, dann habe ich da draußen einen Stein mit deinem Namen drauf. Den kann ich dir zeigen.

Sie kriechen aus der Höhle und suchen den Stein. Victoria ist stolz und glücklich über ihn. Johannes ist gerührt, er könnte weinen und sagt: Wenn du ihn ansiehst, musst du hin und wieder an mich denken, wenn ich fort bin. Mir einen freundlichen Gedanken schenken.

Aber ja, antwortet Victoria. Aber du kommst doch zurück?

Oh, das weiß Gott. Nein, zurück komme ich wohl nicht.

Sie machten sich auf den Heimweg. Johannes ist den Tränen nahe.

Also, leb wohl, sagt Victoria.

Nein, ich kann dich noch ein Stück begleiten. Dass sie ihm so herzlos Lebwohl sagen kann, je früher, desto besser, macht ihn übrigens bitter, treibt die Wut in sein verwundetes Gemüt. Er bleibt jäh stehen und sagt mit gerechtem Zorn: Aber das will ich dir sagen, Victoria, du wirst keinen finden, der so lieb zu dir ist, wie ich es wäre. Lass dir das gesagt sein.

Aber Otto ist auch lieb, wendet sie ein.

Ja, ja, dann nimm ihn doch.

Sie gehen einige Schritte schweigend weiter.

Mir wird es bestens ergehen. Da brauchst du keine Angst zu haben. Du weißt nämlich noch nicht, was ich zum Lohn bekomme.

Nein. Was denn?

Das halbe Reich. Und das ist nur das eine.

Nein, wirklich, das halbe Reich!

Und dann bekomme ich die Prinzessin.

Victoria blieb stehen.

Das ist doch nicht wahr, oder?

Doch, sagte er.

Pause. Victoria murmelt vor sich hin: Wie sie wohl aussieht?

Oh mein Gott, sie ist schöner als irgendein Mensch auf der Erde. Das weiß man ja seit eh und je.

Victoria muss kapitulieren.

Wirst du sie denn nehmen?, fragt sie.

Ja, erwidert er, es wird wohl so kommen. Aber da Victoria wirklich bestürzt ist, fügt er hinzu: Es kann aber sein, dass ich irgendwann wiederkomme. Dass ich einen Ausflug auf die Erde mache.

Aber bring sie dann nicht mit, bat sie. Wozu solltest du sie mitbringen?

Nein, ich kann auch allein kommen.

Versprichst du mir das?

Doch, das kann ich versprechen. Aber was kümmert dich das eigentlich! Ich kann doch nicht erwarten, dass dich das kümmert.

Das darfst du nicht sagen, hörst du, erwidert Victoria. Ich bin sicher, dass sie dich nicht so lieb hat wie ich.

Ein warmer Jubel zittert durch sein junges Herz. Er hätte vor Freude und Verlegenheit über ihre Worte in der Erde versinken können. Er wagte sie nicht anzusehen, er sah weg. Dann hob er einen Zweig auf, nagte die Rinde ab und schlug sich damit auf die Hand. Schließlich begann er in seiner Verlegenheit zu pfeifen.

Na, ich gehe jetzt besser nach Hause, sagt er.

Ja, leb wohl, antwortet sie und gibt ihm die Hand.

CHAPTER 2

Der Müllerssohn ging fort. Er war lange weg, besuchte die Schule und lernte viel, wuchs, wurde groß und stark und bekam Flaum auf der Oberlippe. Die Stadt war weit entfernt, die Reise hin und zurück teuer, der sparsame Müller ließ den Sohn viele Jahre lang im Sommer wie Winter in der Stadt bleiben. Er lernte und lernte.

Jetzt aber war er ein erwachsener Mann geworden, war achtzehn, zwanzig Jahre alt.

Da stieg er eines Nachmittags im Frühling vom Dampfschiff an Land. Auf dem Schloss war die Fahne gehisst, denn der Sohn kam mit demselben Schiff in die Ferien nach Hause; man hatte ihm einen Wagen zur Anlegebrücke geschickt. Johannes grüßte den Schlossherrn, die Schlossherrin und Victoria. Wie erwachsen und groß Victoria geworden war! Sie erwiderte seinen Gruß nicht. Er nahm die Mütze noch einmal ab und hörte, wie sie ihren Bruder fragte:

Du, Ditlef, wer grüßt mich da?

Der Bruder antwortete:

Das ist Johannes. Müllers Johannes.

Sie sah ihn wieder an, jetzt aber genierte er sich, noch öfter zu grüßen. Dann fuhr der Wagen ab.

Johannes ging nach Hause.

Du lieber Gott, wie lustig und klein das Wohnzimmer war! Er konnte nicht aufrecht durch die Tür gehen. Die Eltern empfingen ihn mit einem Willkommensschnaps. Er war sehr bewegt, alles war so rührend und vertraut, Vater und Mutter so grau und gut, sie reichten ihm nacheinander die Hand und hießen ihn willkommen.

Noch am selben Abend ging er umher und schaute alles an, war bei der Mühle, beim Steinbruch und besuchte den Angelplatz, lauschte wehmütig den vertrauten Vögeln, die schon Nester in den Bäumen bauten, und machte einen Abstecher zu dem großen Ameisenhaufen im Wald. Die Ameisen waren verschwunden, der Haufen war ausgestorben. Er stocherte drin herum; da war kein Leben mehr. Während er umherschlenderte, bemerkte er, dass der Wald des Schlossherrn stark ausgeholzt worden war.

Erkennst du alles wieder?, fragte der Vater im Scherz. Bist du deinen alten Drosseln wiederbegegnet?

Alles erkenne ich nicht mehr. Der Wald ist abgeholzt.

Der Wald gehört dem Schlossherrn, antwortete der Vater. Es ist nicht unsere Sache, seine Bäume zu zählen. Jeder braucht mal Geld, und der Schlossherr braucht viel.

(Continues…)


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