Solange du lebst: Roman

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Overview

»Louise Erdrichs leuchtendes Meisterwerk.« Philip Roth.

Die kleine Stadt Pluto in North Dakota scheint am Rande des Universums zu liegen. Hier ist jeder mit jedem verbunden – durch Liebe, Freundschaft oder Blutsbande. Und vor allem durch eine dunkle Geschichte, die seit fast einhundert Jahren auf den Menschen lastet ...

»Ein chorisches Gesamtwerk, dessen erstaunlicher Registerreichtum Witz und Poesie, Lakonie und Pathos gleichermaßen einschließt, derart raffiniert, dass wir am Schluss das Buch sofort noch einmal lesen wollen. Mag Pluto noch so weit entfernt und unwirtlich erscheinen – in diesem Geschichtenkosmos fühlt man sich dort plötzlich seltsam heimisch.« Frankfurter Allgemeine Zeitung.


Product Details

ISBN-13: 9783841217233
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 02/15/2019
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 400
File size: 2 MB
Age Range: 18 Years
Language: German

About the Author

About The Author
Louise Erdrich, geboren 1954 als Tochter einer Ojibwe und eines Deutsch-Amerikaners, ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Gegenwartsautorinnen. Zuletzt erhielt sie den National Book Award für »Das Haus des Windes«, den PEN/Saul Bellow Award und den Library of Congress Prize. Louise Erdrich lebt in Minnesota und ist Inhaberin der Buchhandlung Birchbark Books. Im Aufbau Verlag ist ihr Roman „Der Gott am Ende der Straße“ lieferbar und im Aufbau Taschenbuch ihre Romane „Liebeszauber“, „Die Rübenkönigin“, „Der Klang der Trommel“, „Der Club der singenden Metzger“, „Das Haus des Windes“ und „Ein Lied für die Geister“.

Hometown:

Minneapolis, Minnesota

Date of Birth:

June 7, 1954

Place of Birth:

Little Falls, Minnesota

Education:

B.A., Dartmouth College, 1976; M.A., Johns Hopkins University, 1979

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Die Taubenplage

Im Jahr 1896 rief mein Großonkel, einer der ersten katholischen Pfarrer indianischer Herkunft, die Mitglieder seiner Gemeinde auf, sich mit ihren Skapulieren und Meßbüchern vor Sankt Joseph zu versammeln. Von dort wollten sie in einer weiten Kette über die Felder ausschwärmen und die Tauben wegbeten. Seine Gemeindekinder hatten zum Pflug gegriffen und beackerten ihr Land wie die deutschen und norwegischen Siedler. Anders als die Franzosen, die sich mit meinen Vorfahren vermischt hatten, zeigten diese Siedler wenig Interesse an indianischen Frauen und heirateten sie nicht. Die Norweger zumal behandelten jeden mit Verachtung außer sich selbst und hielten fest zusammen. Aber die Tauben fraßen auch ihre Felder kahl.

Wenn die Vögel kamen, zündeten die Indianer und die Weißen große Feuer an und versuchten sie in Netze zu treiben. Die Tauben fraßen die Weizensaat und den Roggen und machten sich über den Mais her. Sie vertilgten die sprießenden Blumen, die Apfelknospen, die harten Eichenblätter, selbst die vorjährige Spreu. Geräuchert schmeckten die fettgefressenen Tauben köstlich, aber man konnte ihnen zu Hunderten oder Tausenden den Hals umdrehen, ohne ihre Zahl merklich zu verringern. Die Lehmkaten der Mischlinge und die Rindenhütten der traditionellen Indianer brachen unter der Last der Vögel zusammen. Sie wurden in der Pfanne und am Spieß gebraten, zu Pasteten und Suppen verarbeitet, in Fässern gepökelt oder mit Knüppeln erschlagen und liegengelassen. Aber die toten Tauben dienten den lebenden zum Fraß, und jeden Morgen wurden die Leute erneut vom Scharren, Flügelschlagen und dem fürchterlichen Gemurre, Geraune und Gegurre der Tauben empfangen, und diejenigen, die noch ein intaktes Fenster besaßen, von den neugierigen, sanften Blicken dieser Kreaturen.

Mein Großonkel hatte in aller Eile ein Gitter aus Stöcken gebastelt, um die Scheiben seiner hochtrabend als Pfarrhaus bezeichneten Hütte zu schützen. In der Ecke schlief sein kleiner Bruder, den er vor einem allzu ungebundenen Lebenswandel bewahren wollte, auf einem Strohsack und einem Lager aus Tannenzweigen. Ein so weiches Bett hatte der Junge noch nie besessen, und er weigerte sich, es zu verlassen, doch mein Großonkel warf ihm die Roben der Chorknaben an den Kopf und befahl ihm, den Leuchter zu putzen, den er bei der Prozession tragen sollte.

Aus dem Jungen wurde später der Vater meiner Mutter, mein Mooshum. Getauft war er auf den Namen Seraph Milk, und da er über hundert wurde, hatte ich mit meinen etwa elf Jahren immer mal wieder Gelegenheit, mir die Geschichte vom folgenschwersten Tag seines Lebens anzuhören, der mit dem Versuch begann, die Tauben zu vertreiben. Er saß auf einem harten Stuhl zwischen unserem ersten Fernseher und der kleinen Büchernische, die in die Wand unseres Hauses eingelassen war, das der Regierung gehörte und auf dem Reservatsgebiet des Büros für Indianische Angelegenheiten stand. Mooshum also erzählte uns, wie er die Tauben, die auf den Fenstergittern seines Bruders herumkletterten, mit den Füßen kratzen hörte. Ihm graute vor dem Gang zum Klohäuschen, weil viele Vögel in den Kot unter dem Loch gefallen waren und so verzweifelt um Hilfe schrien, daß sich ihre Artgenossen von außen gegen das Häuschen warfen, um sie zu retten. Doch er wagte nicht, sich woanders zu erleichtern. Also bahnte er sich einen Weg durch das Geflatter, mit schlurfenden Schritten, um nicht auf Füße oder Leiber zu treten, und erledigte sein Geschäft mit geschlossenen Augen im Klohäuschen. Hinterher machte er die Tür fest zu, damit nicht noch mehr Tauben in die Falle gerieten.

Das Drama im Klohäuschen, mit dem er den Bericht vom folgenschwersten Tag seines Lebens stets begann, enthielt all die Details, die meinen Bruder und mich interessierten. Obwohl wir inzwischen Kanalisation hatten, war uns das Häuschen wohlbekannt, und die Schrecken eines Todes in der Kloake sowie andere Details seiner Geschichte fanden wir sehr fesselnd. Was Spannung und Unterhaltung betraf, kam Mooshum gleich nach dem Fernsehen. Doch unser Vater hatte die Knöpfe vom Fernseher abgezogen und versteckt. Vergeblich durchsuchten wir das ganze Haus und fanden uns schließlich mit dem Gedanken ab, daß er sie ständig bei sich trug. Fortan hielten wir uns an Mooshum und seine Geschichten. Er erzählte, und wir saßen auf den Küchenstühlen und zwirbelten unser Haar. Unsere Mutter hatte ihm eine rote Kaffeedose hingestellt, in die er seinen Tabaksaft spuckte. Er trug alte grüne Arbeitskleidung von Sears, ausgelatschte braune Schnürstiefel und eine Baseballkappe, auch im Haus. Seine Augen leuchteten aus Schlitzen hervor, die sich tief in sein Gesicht einkerbten. Die obere Hälfte seines linken Ohrs war ihm abhanden gekommen, weshalb er ein wenig schief aussah. Er war krumm und ausgemergelt, weiße Strähnen wucherten ihm um die Ohren und in den Nacken. Wenn er sprach, sahen wir manchmal seine braunen Zahnstummel. Doch seine Geschichte erzählte er mit einer solchen Überzeugungskraft, daß es uns nicht schwerfiel, in ihm den zwölfjährigen Jungen zu sehen.

Sein großer Bruder kleidete sich ins Ornat, das beste, das er besaß – gebraucht bekommen von einer Gemeinde in Minneapolis. Da an echten Weihrauch nicht zu denken war, füllte er das Rauchfaß mit trockenem, zu Kugeln gerolltem Salbei. In der Hütte gab es eine Handpumpe mit Ausguß, undMooshums Bruder oder Halbbruder, Father Severine Milk, befeuchtete einen Kamm und kämmte erst sein Haar zurück, dann das Haar seines kleinen Bruders. Seit etwa einer Stunde schon trafen die Pferdewagen ein. Die Kirche war eine große Hütte auf der anderen Hofseite, in der jetzt die Gemeinde wartete, und der ganze Hof stand voller Pferdewagen, und auf jedem waren ein oder zwei Hunde angebunden, damit sie die Vögel und ihre Exkremente von den Strohballen fernhielten, auf denen die Leute saßen. Das ständige Hin und Her der Vögel machte die Pferde nervös. Viele trugen Scheuklappen und außerdem Kamillesträußchen am Geschirr, damit sie ruhig blieben. Als unser Mooshum den Hof überquerte, sah er die Tauben auf dem Kirchendach, die immerfort wie im Spiel zum heiligen Kreuz aufflogen, das die Hütte als Kirche kenntlich machte, um den Vogel, der es gerade besetzte, von seinem Platz zu vertreiben und gleich darauf vom nächsten vertrieben zu werden. Mein Großonkel war ein hagerer, furchtsamer Mensch von über einem Meter achtzig, der den allgemeinen Lärm mit gereizter Stimme übertönte, als er seine Gemeinde Aufstellung nehmen ließ. Die beiden Brüder bildeten die Mitte, und die lieben Gemeindeglieder schwärmten zu beiden Seiten aus, während sich die Kette langsam den Hang hinabbewegte, auf das erste Feld zu, das von den Tauben befreit werden sollte.

An dem Tag war die Sonne in Dunst gehüllt und matt, es herrschte drückende Windstille, der beißende Qualm aus dem Weihrauchfäßchen stand unbewegt in der Luft. Zügig schritten die Leute voran. Doch schon auf dem ersten Acker saßen die Tauben so dichtgedrängt, daß Unruhe unter den Frauen ausbrach, weil sie nicht weiterkamen, ohne daß ihnen die Tiere unter die Röcke gerieten. Die Vögel in ihrer Panik verfingen sich in den Unterkleidern. Abrupt kam die Kette zum Stehen, und die Frauen begannen – vor Mooshums Augen – mit einem wilden Tanz. Sie wirbelten herum, stampftenmit den Füßen, schlugen um sich, schüttelten die Röcke, jede auf ihre Weise. Von einer solchen Urgewalt war der Tanz, daß die Tauben ringsumher erschrocken aufflogen, andere Tauben mitrissen und sich das ganze Feld mitsamt dem angrenzenden Wald in einen einzigen Vogelsturm verwandelte, der mit Getöse auf die Gemeinde herniederfuhr. Die jedoch hielt stand, indem alle ihre aufgeschlagenen Meßbücher über den Kopf hoben. Ihren Anstand vergessend, banden sich die Frauen die Röcke hoch. Rosenkränze oder Skapuliere vorgestreckt, schritten sie voran und sangen das Ave Maria in den Sturm der Flügelschläge. Mooshum, der die unteren Gliedmaßen einer Frau nur selten zu Gesicht bekam, machte sich zunutze, daß sein Bruder vollauf damit beschäftigt war, das Weihrauchfaß am Brennen zu halten, und blieb hinter den anderen zurück. Entzückt vom Anblick der nackten, strammen, stampfenden braunen Frauenbeine, ließ er den Leuchter sinken, der keine Kerzen trug und den ihm der Bruder nur deshalb gegeben hatte, damit er sein Gesicht schützen konnte. Und kaum hatte er den Leuchter sinken lassen, wurde er von einer Taube an der Stirn getroffen, die mit einer solchen Wucht vom Himmel fuhr, als wäre sie von Gott gesandt, um ihn mit Blindheit zu schlagen und fürderhin vor der Sünde des Glotzens zu bewahren.

An diesem Punkt seiner Geschichte geriet Mooshum so in Fahrt, daß er uns die Gottesstrafe vorführte und sich zu unserem großen Vergnügen auf den Boden warf. Er spielte uns seinen Zusammenbruch vor, dann öffnete er die Augen, hob den Kopf und starrte ins Leere, wo er erneut sah, wie ihm der Heilige Geist erschien – offenbar nicht als weiße Taube unter all den braunen, sondern in der irdischen Gestalt eines Mädchenkörpers.

Unsere Familie steht im Ruf, zu unsterblichen Romanzen zu neigen. Selbst mein Vater, ein eher gesetzt wirkender Naturkundelehrer, ließ sich von einem einzigen verheißungsvollen Blick meiner Mutter durch den ganzen Zweiten Weltkrieg tragen. Ihre Schwester Geraldine wurde vom Lächeln eines jungen Mannes überwältigt, der im Zug an ihr vorüberfuhr. Sie winkte ihm aus dem Graben zu, in dem sie Beeren pflückte, und obwohl sie nicht einmal wußte, ob er zurückgewinkt hatte, trieb sie irgend etwas dazu, bis zum Dunkelwerden weiterzupflücken, an Ort und Stelle zu schlafen und einen weiteren Tag geduldig auf ihrem Campinghocker auszuharren, bis der Mann von der sechzig Meilen entfernten Bahnstation zurückgelaufen kam. Mein Onkel Whitey liebte die Indianerprinzessin von der Haskell University, die ihre Zöpfe abschnitt und ihm in der Nacht, als sie an Tuberkulose starb, zum Geschenk machte. Ihr zum Gedenken blieb er Junggeselle, bis er mit über fünfzig Jahren eine Kleinstadtstripperin heiratete. Agathe, die Cousine meiner Mutter, auch Happy genannt, floh aus dem Kloster, weil sie einen Pfarrer liebte, und ward nicht mehr gesehen. Meinem Bruder Joseph reichte eine Anwandlung von Verliebtheit aus, um einer Kommune beizutreten. John, ein entfernter Cousin meines Vaters, entführte seine eigene Frau und benutzte das Lösegeld, um sich in Fargo eine Geliebte zu halten. Von einer Frau zur Verzweiflung getrieben, ertränkte sich Octave Harp, der Onkel meines Vaters, im knietiefen Wasser. Und so weiter und so fort. Wie schon an meinem Vater ersichtlich, standen diese hochdramatischen Verstrickungen stets im krassen Gegensatz zur Gewöhnlichkeit der Ehen und Schicksale, die aus ihnen hervorgingen. Wir sind eine Sippe von Büroangestellten, Bankkassierern, Bücherwürmern und Bürokraten. Der wildeste von uns (Whitey) ist Koch in einem Schnellimbiß, und der heldenhafteste (mein Vater) ist Lehrer. Und doch, so glaube ich zumindest, bildet dieser Hang zur Romanze ein Bindeglied zwischen den Generationen. Mein Bruder und ich, wir lauschten Mooshum nicht nur zum Vergnügen, sondern auch, um zu lernen, wie wir uns zu verhalten hatten, wenn der Moment der Erkenntnis oder gar der Heimsuchung kam.

Millionenmal

In Wirklichkeit war ich überzeugt, daß meine Heimsuchung längst stattgefunden hatte, denn selbst während ich Mooshum zuhörte, schrieben meine Finger unablässig den Namen meines Geliebten auf meinen Arm, in meine Handfläche oder auf mein Knie. Wenn ich seinen Namen millionenmal auf meinen Körper schrieb, würde er mich küssen, glaubte ich. Ich wußte, daß er mich liebte, und er konnte sicher sein, daß ich seine Gefühle erwiderte, aber in einer römisch-katholischen Grundschule der Mittsechziger redeten Jungs und Mädchen, die als verliebt galten, kaum miteinander und berührten sich nie. Wir spielten Softball und Kickball und hielten Verbindung über andere Kinder, die sich darum rissen, unsere Botschaften zu überbringen. Eine ganze Reihe solcher Liebeserklärungen zweiter Hand hatte ich in mein winziges leopardengemustertes Notizbuch mit dem goldenen Schloß eingetragen, dessen Schlüssel ich im hohlen Knauf meines Bettpfostens versteckte. Außerdem hatte ich den Namen meines Geliebten mit dem Blut eines aufgekratzten Mückenstichs an die Innenwand meines Schranks geschrieben. Dieser Name hatte für mich den heiligen Klang der Wörter, die im Alten Testament von unsichtbarer Hand mit Feuer an die Wand geschrieben waren:Mene mene tekel upharsin. Laut aussprechen konnte ich ihn nicht. Ich konnte ihn nur mit den Fingern auf meine Haut schreiben, und das tat ich so lange, bis meine Mutter glaubte, ich hätte Läuse. Sie schmierte mir den Kopf mit Mayonnaise ein, setzte mir eine Duschkappe auf und befahl mir, mich in die Wanne zu setzen und heißes Wasser nachlaufen zu lassen, so heiß, daß ich es gerade noch aushalten konnte.

Das Badezimmer, die Wanne, die ganzen Installationen waren nagelneu. Weil mein Vater in der Schule und meine Mutter in der Stammesverwaltung arbeiteten, hatte man uns an die Wasserversorgung angeschlossen. Ich verriegelte die Badezimmertür, prüfte das heiße Wasser mit dem großen Zeh und beschloß, da ich sonst nichts zu tun hatte, den Namen noch ein paar tausendmal zu schreiben. Unter dieser Beschäftigung fand ich Stellen an meinem Körper, die sich bei wiederholtem Schreiben der Buchstaben erregten und erhitzten, und ohne zu wissen, wie mir geschah, verpaßte ich mir lauter alphabetische Orgasmen – so schockierend in ihrer Intensität, daß mir die Mayonnaise auf dem Kopf zerlaufen sein muß. Mit dem Schreiben hörte ich dann auf. Ich war mir sicher, die Millionengrenze erreicht zu haben, und traute mich nicht, dasselbe noch einmal zu probieren.

Das geschah um den Aschermittwoch, der mich daran erinnerte, daß ich nur aus Staub gemacht war und wieder zu Staub werden würde. Dieser Körper, über und über mit dem heiligen Namen Corwin Peace (jetzt kann ich's ja verraten) beschriftet, war ein vergängliches Medium, er würde zergehen wie Eis, zerfallen wie Laub. Wie immer waren wir bei Beginn der Fastenzeit auf unsere Vergänglichkeit hingewiesen worden, auch darauf, daß unser Heißhunger auf Süßigkeiten oder Salzbrezeln nur ein Phantomhunger war. Allein der Hunger des Geistes war real. Zum Glück wußte ich nicht, daß es eine unreine Handlung war, sich den Namen des Geliebten auf den Leib zu schreiben. Daher hatte ich nichts Schlimmeres zu sühnen als die Komplizenschaft mit meinem Bruder, der herausgefunden hatte, daß sich der Fernseher mit der Zange aus dem Werkzeugkasten genausogut bedienen ließ wie mit den Knöpfen. Und kaum waren meine Eltern aus dem Haus, konnten wir die von unseren Eltern verabscheuten 3 Stooges gucken, die auch Mooshum immer gern sah. So ging das bis Palmsonntag, als mein Vater von irgendeiner Besorgung nach Hause kam und zufällig die Hand auf den glühheißen Fernseher legte. Er durchbohrte uns mit einem Blick, den seine Schüler sicherlich an ihm fürchteten. Im Handumdrehen holte er die Wahrheit aus uns heraus. Die Zange wurde ebenfalls beschlagnahmt, und Mooshums Geschichte ging weiter.

Eine Erscheinung

Das Mädchen, das später meine Großmutter wurde, war hinter den anderen Frauen auf dem Feld zurückgeblieben, weil sie zu verschämt war, um sich die Röcke hochzubinden. Ihr Name war Junesse. Wie sie herausfand, mußte man nur langsam genug gehen, damit die Tauben Zeit fanden, höflich Platz zu machen, statt erschrocken aufzuflattern. Junesse trug ihr langes weißes Kommunionskleid, das aus mehreren Schichten hauchdünnen Musselins genäht war. Sie hatte darauf bestanden, dieses Kleid anzuziehen, und die Tante, die für sie sorgte, war von ihrer Hartnäckigkeit schon so zermürbt, daß sie es erlaubte, ihr aber Schläge androhte, falls sie das Kleid zerriß oder schmutzig machte. Außer ihrem Schamgefühl hatte sie auch diese Drohung davon abgehalten, den wilden Tanz mit den Tauben unterm Rock mitzumachen. Doch jetzt, beim Versuch, den niedergestreckten Leuchtenträger ins Leben zurückzuholen, setzte sie sich über alle Bedenken hinweg und nahm ihr Schicksal in die eigene Hand, indem sie sich mitten in den Vogeldreck kniete und es damit besiegelte, daß sie ihre Schärpe benutzte, um das Blut von Mooshums Stirn zu wischen – und von seinem Ohr, das ihm zur Hälfte von den Tauben weggehackt worden war, als er bewußtlos am Boden lag. Doch dann wachte er auf.

Und erblickte sie! Mooshum unterbrach seine Erzählung. Er breitete die Hände aus, die tausend Fältchen seines Gesichts formten sich zu einer Grimasse höchster Glückseligkeit. Es gab ein Bild von ihr, das wenig später entstanden war, und sie sah wirklich wunderschön aus. In ihr schwarzes Haar hatte sie ein weißes Band geflochten, das Mieder ihres weißen Kleids war mit weißen Blüten und Blättern bestickt, und sie hatte die blasse Haut und die schwarzen Mandelaugen der Métisoder Michif-Frauen. Nicht ohne Grund hatte der Bischof jener Diözese seine Pfarrer per Hirtenbrief angewiesen, in der Gegenwart von Mischlingsfrauen ohne Unterlaß zu beten und stets daran zu denken, daß diese Frauen trotz ihrer liebreizenden Gestalt in ihrem Innersten Wilde seien, anfällig für alles Böse, ja, der Teufel gehe nach Belieben in ihnen ein und aus. Junesse Malaterre natürlich war unschuldig, aber einen scharfen Verstand besaß sie allemal. Ihr Nachname, der von irgendeinem französischen Pelzhändler zu uns kam, steht für die zerklüfteten, gottverlassenen Felsschluchten und die labyrinthartig aufragenden Schichtungen aus rosa, grauem, braunem und rotem Gestein, die für die Badlands von North Dakota charakteristisch sind. Dorthin machten sich Mooshum und Junesse auf.

(Continues…)


Excerpted from "Solange du lebst"
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