Schneemann

»Jo Nesbøs Meisterstück.« DER SPIEGEL

Ein Serienmörder tötet auf bestialische Art und Weise. Seine Opfer: junge Mütter. Auf der fieberhaften Jagd nach dem unheimlichen »Schneemann« kämpft sich Kommissar Harry Hole durch ein Labyrinth aus Verdächtigungen und falschen Spuren. Immer neue Morde geschehen. Als Hole selbst ins Visier des Killers gerät, kommt es zu einem gnadenlosen Duell.

Verfilmt mit Michael Fassbender, Val Kilmer, Chloë Sevigny & Charlotte Gainsbourg.
Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

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Schneemann

»Jo Nesbøs Meisterstück.« DER SPIEGEL

Ein Serienmörder tötet auf bestialische Art und Weise. Seine Opfer: junge Mütter. Auf der fieberhaften Jagd nach dem unheimlichen »Schneemann« kämpft sich Kommissar Harry Hole durch ein Labyrinth aus Verdächtigungen und falschen Spuren. Immer neue Morde geschehen. Als Hole selbst ins Visier des Killers gerät, kommt es zu einem gnadenlosen Duell.

Verfilmt mit Michael Fassbender, Val Kilmer, Chloë Sevigny & Charlotte Gainsbourg.
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»Jo Nesbøs Meisterstück.« DER SPIEGEL

Ein Serienmörder tötet auf bestialische Art und Weise. Seine Opfer: junge Mütter. Auf der fieberhaften Jagd nach dem unheimlichen »Schneemann« kämpft sich Kommissar Harry Hole durch ein Labyrinth aus Verdächtigungen und falschen Spuren. Immer neue Morde geschehen. Als Hole selbst ins Visier des Killers gerät, kommt es zu einem gnadenlosen Duell.

Verfilmt mit Michael Fassbender, Val Kilmer, Chloë Sevigny & Charlotte Gainsbourg.
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Product Details

ISBN-13: 9783550920073
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 10/14/2009
Series: Ein Harry-Hole-Krimi , #7
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 512
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Mittwoch, 5. November 1980. Der Schneemann

Es war der Tag des ersten Schnees. Um elf Uhr vormittags fielen plötzlich und ohne jede Vorwarnung dicke Schneeflocken aus einem farblosen Himmel und legten sich auf die Felder, Gärten und Wiesen von Romerike wie eine Armada aus dem Weltraum. Um zwei Uhr nachmittags waren bereits zwei Räumfahrzeuge in Lillestrøm im Einsatz, und als Sara Kvinesland eine halbe Stunde später ihren Toyota Corolla SR5 langsam und vorsichtig zwischen den vornehmen Häusern des Kolloveien hindurchsteuerte, lag der Novemberschnee bereits wie eine weiße Daunendecke über der hügeligen Landschaft.

Sie fand, dass die Häuser bei Tageslicht irgendwie anders aussahen. So anders, dass sie fast an seiner Garageneinfahrt vorbeigefahren wäre. Als das Auto beim Bremsen ins Rutschen geriet, hörte sie hinter sich ein Stöhnen, blickte in den Rückspiegel und sah das genervte Gesicht ihres Sohnes.

»Keine Sorge, es dauert nicht lang«, versprach sie.

Vor der Garage prangte ein großes schwarzes Stück Asphalt in all dem Weiß. Dort musste der Möbelwagen gestanden haben. Ihr Hals schnürte sich zusammen. Hoffentlich war sie nicht zu spät gekommen.

»Wer wohnt denn da?«, kam es vom Rücksitz.

»Ach, nur ein Bekannter von mir«, anwortete Sara und überprüfte im Rückspiegel, ob ihre Frisur noch saß. »Zehn Minuten, okay? Ich lasse den Schlüssel stecken, dann kannst du Radio hören.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg sie aus dem Wagen und trippelte auf glatten Sohlen zu der Tür, durch die sie so oft ein und aus gegangen war. Nur nicht am helllichten Tag, wie jetzt, gut sichtbar für die neugierigen Augen der vornehmen Nachbarschaft. Ihre spätabendlichen Besuche waren sicher nicht weniger anrüchig gewesen, aber zumindest kam es ihr passender vor, so etwas nach Einbruch der Dunkelheit zu machen.

Drinnen im Haus summte die Klingel wie eine Hummel in einem Marmeladenglas. Während sie wartete und spürte, wie die Verzweiflung in ihr hochstieg, warf sie rasche Blicke nach rechts und links zu den Fenstern der Nachbarschaft, doch sie sah nur die Spiegelungen der schwarzen, kahlen Apfelbäume, des grauen Himmels und der milchig weißen Landschaft. Als sie drinnen endlich Schritte hörte, atmete sie erleichtert auf. Im nächsten Augenblick war sie im Haus und lag in seinen Armen.

»Geh nicht weg, Geliebter!«, flehte sie und hörte bereits das Zittern unterdrückter Tränen in ihrer Stimme.

»Ich muss«, erwiderte er, und es klang wie der Refrain eines Liedes, dessen er mittlerweile überdrüssig war. Seine Hände suchten die altbekannten Wege, derer sie niemals überdrüssig geworden waren.

»Nein, du musst nicht«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Aber du willst. Du kannst es nicht mehr ertragen.«

»Das hat doch nichts mit uns zu tun.«

Sie hörte die Verärgerung in seiner Stimme, während seine kräftige und doch so zärtliche Hand über die Haut ihres Rückens nach unten glitt und sich unter den Bund ihres Rocks und ihrer Strumpfhose schob. Sie waren wie eingespielte Tanzpartner, die die kleinsten Bewegungen ihres Gegenübers kannten, die Schritte, den Atem, den Rhythmus. Erst die weiße Liebe, die gute. Dann die schwarze, der Schmerz.

Seine Hand strich über ihren Mantel und suchte unter dem dicken Stoff ihre Brustwarzen. Er verlor nie die Lust daran, fand immer wieder dorthin zurück. Vielleicht weil er selbst keine hatte?

»Hast du vor der Garage geparkt?«, fragte er und kniff fest zu.

Sie nickte und spürte, wie ihr der Schmerz einen Pfeil der Lust in den Kopf schoss. Ihr Schoß hatte sich längst für die Finger geöffnet, die gleich ihren Weg dorthin finden würden. »Der Junge wartet im Auto.«

Seine Hand hielt abrupt inne.

»Er weiß nichts«, stöhnte sie und spürte das Zögern seiner Finger.

»Und dein Mann, wo ist der jetzt?«

»Na, wo wohl? Auf der Arbeit natürlich.«

Jetzt war sie es, die ärgerlich klang. Zum einen, weil er ihren Mann erwähnt hatte und sie kaum über ihn sprechen konnte, ohne schlechte Laune zu bekommen, und zum anderen, weil ihr Körper jetzt nach Liebe verlangte, jetzt sofort. Sara Kvinesland öffnete seinen Hosenschlitz.

»Nicht«, stammelte er und packte ihr Handgelenk. Da gab sie ihm mit der anderen eine kräftige Ohrfeige. Verblüfft sah er sie an, während sich über seinem Wangenknochen ein dunkelroter Fleck ausbreitete. Sie lächelte, fuhr ihm mit den Fingern durch die dichten schwarzen Haare und zog sein Gesicht zu ihrem herunter.

»Von mir aus kannst du fahren«, fauchte sie. »Aber erst fickst du mich noch mal. Verstanden?«

Sie spürte seinen keuchenden Atem an ihrem Gesicht. Erneut schlug sie mit der einen Hand zu, während sie spürte, wie sein Glied in ihrer anderen wuchs.

Er stieß jetzt härter in sie, mit jedem Mal etwas härter, aber trotzdem, es war vorbei. Plötzlich war sie empfindungslos, die Magie war verloschen, die Spannung verschwunden. Einzig ihre Verzweiflung war geblieben. Sie verlor ihn. Jetzt, da sie hier auf seinem Bett lag, verlor sie ihn. All die Jahre der Sehnsucht, all die Tränen, die sie vergossen hatte, all die Verzweiflungstaten, die sie um seinetwillen begangen hatte. Und er hatte ihr niemals etwas zurückgegeben. Abgesehen von dem einen.

Jetzt stellte er sich ans Fußende des Bettes und nahm sie mit geschlossenen Augen. Sara starrte auf seine Brust. Anfangs hatte sie der Anblick irritiert, doch mit der Zeit hatte sie Gefallen gefunden an der durchgehenden weißen Hautfläche über seinen Brustmuskeln. Er erinnerte sie an alte Statuen, bei denen man die Brustwarzen aus Scham weggelassen hatte.

Sein Stöhnen wurde lauter. Sie wusste, dass er gleich mit einem gewaltigen Brüllen kommen würde. Wie sie dieses Geräusch geliebt hatte. Diesen immer wieder überraschenden, ekstatischen, beinahe schmerzerfüllten Gesichtsausdruck, als übersteige der Orgasmus jedes Mal aufs Neue seine wildesten Erwartungen. Sie wartete jetzt nur noch auf dieses letzte Brüllen, den dröhnenden Abschied in seinem kahlen Schlafzimmer, das längst all seiner Bilder, Gardinen und Teppiche beraubt war. Danach würde er sich anziehen und in einen anderen Teil des Landes ziehen, wo ihm, wie er ihr beteuert hatte, eine Stelle angeboten worden war, die er nicht ablehnen konnte. Ihre Beziehung jedoch konnte er ablehnen, all das hier. Und trotzdem vor Genuss brüllen.

Sie schloss die Augen. Aber es kam kein Brüllen. Er war erstarrt. »Was ist los?«, fragte sie und schlug die Augen auf. Sein Gesicht war tatsächlich verzerrt. Aber nicht vor Ekstase.

»Ein Gesicht«, flüsterte er.

Sie zuckte zusammen. »Wo?«

»Da draußen, vor dem Fenster.«

Das Fenster befand sich am Kopfende des Bettes, direkt über ihr. Sie drehte sich herum und spürte ihn aus sich herausgleiten. Sein Glied war bereits erschlafft. Das Fenster über ihrem Kopf war so weit oben, dass sie aus ihrer Position nichts sehen konnte. Und zu weit oben, als dass man von außen hätte hineinsehen können. Da es draußen bereits dunkel wurde, sah sie nur das doppelte Spiegelbild der Deckenlampe.

»Du hast dich selbst gesehen«, meinte sie. Ihr Ton klang beinahe bittend.

»Das hab ich auch erst gedacht«, sagte er und starrte noch immer auf das Fenster.

Sara zog die Knie an, richtete sich auf und blickte in den Garten. Und da war es, das Gesicht.

Vor lauter Erleichterung lachte sie laut los. Das Gesicht war weiß, mit Augen und Mund aus schwarzem Schotter, der vermutlich aus der Einfahrt stammte. Als Arme dienten zwei Apfelbaumzweige.

»Aber mein Gott«, rief sie lachend, »das ist doch nur ein Schneemann!«

Dann ging ihr Lachen in Weinen über, und sie schluchzte hilflos, bis sie seine Arme um sich spürte.

»Ich muss jetzt gehen«, flüsterte sie unter Tränen.

»Bleib noch ein bisschen«, bat er.

Sie blieb noch.

Als Sara zur Garage ging, stellte sie fest, dass beinahe vierzig Minuten vergangen waren.

Er hatte ihr versprochen, sie anzurufen. Er war schon immer ein guter Lügner gewesen, aber dieses Mal freute sie sich darüber. Schon bevor sie zum Auto kam, sah sie das weiße Gesicht des Jungen, der sie von der Rückbank aus anstarrte. Als sie am Türgriff zog, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass das Auto abgeschlossen war. Sie sah durch die beschlagene Scheibe zu ihm herein, doch erst als sie ans Seitenfenster klopfte, machte er ihr auf.

Sie stieg ein. Das Radio war aus. Es war eiskalt im Auto. Der Zündschlüssel lag auf dem Beifahrersitz. Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. Er war blass, seine Unterlippe zitterte.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er. »Ich hab ihn gesehen.«

In seiner Stimme schwang der dünne, schrille Unterton mit, den sie nicht mehr gehört hatte, seit er als kleiner Junge zwischen ihnen auf dem Sofa gesessen und sich beim Fernsehen die Hände vor die Augen gehalten hatte. Doch jetzt war er im Stimmbruch, gab ihr keinen Gutenachtkuss mehr und begann sich für Motoren und Mädchen zu interessieren. Und eines Tages würde er sich mit einem von ihnen in ein Auto setzen und sie verlassen, auch er.

»Was meinst du damit?«, erkundigte sie sich und drehte den Zündschlüssel.

»Der Schneemann«

Als der Motor nicht ansprang, befiel sie jähe Panik. Dabei wusste sie gar nicht, wovor sie eigentlich Angst hatte. Sie starrte durch die Windschutzscheibe und drehte den Schlüssel noch einmal. Konnte die Batterie ihren Geist aufgegeben haben?

»Und, wie sah der Schneemann aus?«, fragte sie, trat aufs Gaspedal und drehte den Schlüssel verzweifelt und mit einer solchen Kraft, als wollte sie ihn abbrechen. Ihr Sohn antwortete, aber seine Worte wurden von dem ohrenbetäubenden Aufbrüllen des startenden Motors übertönt.

Sara legte den Gang ein und ließ die Kupplung kommen, als hätte sie es plötzlich sehr eilig fortzukommen. Die Räder drehten auf dem weichen, lockeren Neuschnee durch. Sie gab kräftiger Gas, aber sie bewegten sich nicht vom Fleck, nur das Heck des Wagens bewegte sich langsam zur Seite. Schließlich hatten sich die Räder durch den Schnee bis zum Asphalt durchgefressen, und sie schossen auf die Straße hinaus.

»Papa wartet auf uns«, sagte sie. »Wir müssen uns beeilen.«

Sie schaltete das Radio ein und drehte die Lautstärke auf, um das Auto mit anderen Geräuschen als ihrer eigenen Stimme zu füllen. Ein Nachrichtensprecher verkündete zum hundertsten Mal, dass Ronald Reagan in der vergangenen Nacht Jimmy Carter in der amerikanischen Präsidentschaftswahl besiegt hatte.

Als der Junge noch einmal etwas sagte, blickte sie in den Rückspiegel.

»Wie bitte?«, fragte sie laut.

Er wiederholte es, aber sie verstand ihn noch immer nicht, so dass sie das Radio leiser drehte, während sie den Wagen den Hang Richtung Hauptstraße hinuntersteuerte. Dort unten konnte man den Fluss erkennen, der sich wie ein Trauerflor durch die Landschaft zog. Sie zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass der Junge sich zwischen den Sitzen nach vorn gebeugt hatte. Seine Stimme war ein trockenes Flüstern dicht an ihrem Ohr. Als sei es wichtig, dass niemand sonst seine Worte hörte.

»Wir werden sterben.«

CHAPTER 2

2. November 2004. 1. Tag. Kieselaugen

Harry Hole fuhr zusammen und riss die Augen auf. Es war eiskalt und dunkel. Eine Stimme hatte ihn mit der Nachricht geweckt, dass das amerikanische Volk an diesem Tag darüber entschied, ob sein Präsident auch in den nächsten vier Jahren George Walker Bush heißen würde. November. Nun waren sie wirklich langsam auf dem Weg in die Finsternis, dachte Harry. Er schlug die Decke zur Seite und stellte die Füße auf den Boden. Das Linoleum war so kalt, dass ihm die Fußsohlen weh taten. Er ließ den Radiowecker mit den Nachrichten laufen, ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Auch hier November: schlaff, grau und wolkenverhangen. Die Augen wie immer blutunterlaufen und die Poren auf der Nase so groß wie schwarze Krater. Die Ringe unter den Augen mit der hellblauen, alkoholgespülten Iris würden verschwinden, wenn er sich erst mit warmem Wasser gewaschen, abgetrocknet und gefrühstückt hatte. Nahm er jedenfalls an. Harry war aber nicht ganz sicher, wie sich sein vierzigjähriges Gesicht im Laufe des Tages halten würde. Ob sich die Falten glätten und der gehetzte Gesichtsausdruck verschwinden würde, mit dem er aus seinen quälenden Alpträumen aufgewacht war. Wie in den meisten Nächten. Sobald er die kleine, spartanisch eingerichtete Wohnung in der Sofies gate verlassen hatte, um wieder Hauptkommissar Hole im Osloer Dezernat für Gewaltverbrechen zu werden, ging er jedem Spiegel aus dem Weg. Dann starrte er nur noch in die Gesichter anderer Menschen, um deren Schmerzen und Achillesferse zu finden, deren Alpträume, Motive und Gründe, sich selbst zu betrügen. Er lauschte ihren ermüdenden Lügen und versuchte einen Sinn darin zu finden, Leute einzusperren, die sich schon längst selbst eingesperrt hatten. In einem Gefängnis aus Hass und Selbstverachtung, das er selbst nur allzu gut kannte. Er fuhr sich mit der Hand über die blonden Haarstoppeln, die genau 193 Zentimeter über den kalten Fußsohlen aus seiner Kopfhaut sprossen. Seine Schlüsselbeine ragten wie Kleiderbügel unter der Haut hoch. Seit dem letzten Fall hatte er viel trainiert. Geradezu frenetisch, wie er fand. Neben dem Fahrradfahren hatte er begonnen, im Kraftraum im Keller des Präsidiums Gewichte zu stemmen. Es gefiel ihm, wenn die brennenden Schmerzen einsetzten und jeden Gedanken verdrängten. Trotzdem war er immer nur dünner geworden. Das Fett war verschwunden, und die Muskeln hatten sich wie schmale Streifen zwischen Haut und Knochen geschoben. Und während er früher breitschultrig gewesen war und – wie Rakel meinte – auf eine natürliche Weise athletisch, glich er jetzt dem Bild eines gehäuteten Eisbären, das er irgendwo einmal gesehen hatte: ein muskulöses, aber schockierend mageres Raubtier. Er stand ganz einfach kurz vorm Verschwinden. Nicht dass das irgendwie wichtig gewesen wäre. Harry seufzte. November. Es würde noch finsterer werden.

Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser gegen die Kopfschmerzen und starrte verwundert aus dem Fenster. Das Dach auf der anderen Seite der Sofies gate war weiß, und das reflektierte Licht stach grell in seinen Augen. In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Er dachte an den Brief. Solche Briefe bekam er immer wieder mal, aber dieser letzte war mit seiner Anspielung auf Toowoomba wirklich sehr speziell gewesen.

Im Radio hatte jetzt ein Naturprogramm begonnen. Eine Stimme redete voller Begeisterung über Seehunde. »Jeden Sommer versammeln sich die Seehunde in der Beringstraße, um sich dort zu paaren. Da die Männchen in der Überzahl sind und sich gegen harte Konkurrenz durchsetzen müssen, bleiben sie während der ganzen Paarungszeit bei ihrer Partnerin. Das Männchen bewacht sein Weibchen, bis das Junge zur Welt gekommen ist und alleine zurechtkommt. Nicht aus Liebe zu dem Weibchen, sondern aus Liebe zu seinen eigenen Genen. Nach Darwins Theorie ist die natürliche Selektion im Kampf ums Überleben der Grund für die Monogamie der Seehunde in der Beringstraße – und nicht die Moral.«

Na dann, dachte Harry.

Die Stimme im Radio überschlug sich fast vor Begeisterung: »Aber bevor die Seehunde die Beringstraße verlassen, um im offenen Meer Nahrung zu suchen, wird das Männchen versuchen, das Weibchen zu töten. Und warum? Weil sich ein Seehundweibchen nie zweimal mit demselben Männchen paart. Es geht dabei um eine Art biologische Risikoverteilung des Erbmaterials, genau wie im Aktienmarkt. Für sie ist es biologisch sinnvoll, sexuell freizügig zu sein, und das Männchen weiß das. Indem er ihr das Leben nimmt, hindert er sie daran, andere Seehundjunge in die Welt zu setzen, die seinem eigenen Nachwuchs Konkurrenz machen.«

»Wir sind doch wohl auch Teil der darwinistischen Theorie, warum verhalten sich also Menschen nicht wie Seehunde?«, fragte eine andere Stimme.

»Aber das tun sie doch! Unsere Gesellschaft ist weiß Gott nicht so monogam, wie sie aussieht. Und sie ist das nie gewesen. Eine schwedische Studie, die vor kurzem veröffentlicht wurde, zeigt, dass fünfzehn bis zwanzig Prozent aller Kinder einen anderen Vater haben als sie – und der mutmaßliche Vater – glauben. Zwanzig Prozent! Das bedeutet, jedes fünfte Kind lebt mit so einer Lüge. Und sorgt für biologische Vielfalt.«

Harry drehte den Sender weiter, auf der Suche nach einigermaßen erträglicher Musik. Bei Johnny Cashs Rentnerversion von »Desperado« blieb er hängen.

Es klopfte laut an der Tür.

Er ging ins Schlafzimmer und zog sich eine Jeans an. Dann machte er die Tür auf.

»Harry Hole?« Der Mann trug einen blauen Overall und sah ihn durch dicke Brillengläser an. Seine Augen waren klar wie die eines Kindes.

Harry nickte.

»Haben Sie Pilze?« Der Mann verzog keine Miene bei dieser Frage. Eine lange Haarsträhne klebte ihm schräg auf der Stirn. Unterm Arm hatte er ein Plastikschreibbrett mit Clip, unter dem ein dicht beschriebenes Blatt klemmte.

Harry wartete auf eine erklärende Fortsetzung, aber es kam nichts. Nur dieser offene Blick.

(Continues…)



Excerpted from "Schneemann"
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Copyright © 2007 Jo Nesbø.
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