Nach dem Verfassungsschutz: Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik

Nach dem Verfassungsschutz: Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik

by Claus Leggewie, Horst Meier
Nach dem Verfassungsschutz: Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik

Nach dem Verfassungsschutz: Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik

by Claus Leggewie, Horst Meier

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Overview

Seit dem NSU-Skandal steckt der Verfassungsschutz in einer tiefen Vertrauens- und Sinnkrise. Zahlreiche Untersuchungsausschüsse brachten Erschreckendes zu Tage. Doch längst sind nicht alle Fragen zur Verstrickung des Dienstes ins Neonazi-Milieu beantwortet. Claus Leggewie und Horst Meier analysieren den "Verfassungsschutz" als Fehlkonstruktion der westdeutschen Demokratiegründung – und entwerfen eine Alternative zu einem nutzlosen bizarren Geheimdienst, der regelmäßig Skandale hervorbringt, die Bürgerrechte gefährdet und als "Frühwarnsystem" kläglich versagt. Der Millionen verschlingt und den niemand braucht – schon gar nicht eine selbstbewusste Demokratie. "Anstelle eines ideologisch motivierten Verfassungs- schutzes müsse morgen ein gefahrenorientierter Republikschutz treten, fassen die Autoren ihre liberale Reformperspektive zusammen. Mit diesem Ansatz wird die Streitschrift von Claus Leggewie und Horst Meier in der Diskussion eine wichtige Rolle spielen." Hendrik Wassermann, Recht & Politik, 1/ 2019

Product Details

ISBN-13: 9783947380985
Publisher: Hirnkost
Publication date: 03/01/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 200
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Claus Leggwie, geb. 1950 in Wanne-Eickel, ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen sowie des Käte-Hamburger-Kollegs Politische Kulturen der Weltgesellschaft in Duisburg. Dr. jur. Horst Meier wurde 1954 in Oberkaufungen (bei Kassel) geboren. Zunächst Strafverteidiger, seit 1992 freier Autor.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

"NATIONALSOZIALISTISCHER UNTERGRUND"

"Rechtsterroristische Aktivitäten könnten in Zukunft aus folgenden Konstellationen entspringen: [...] Einzelpersonen oder ein aus wenigen Personen bestehender harter Kern suchen für ihr terroristisches Projekt Beteiligte, die nicht als Mittäter in Frage kommen, sondern lediglich Zulieferfunktion für die Tatausführung haben und über die tatsächlichen Ziele und die Identität der Täter nicht unterrichtet sind. [...] Unorganisierte [oder organisierte] Einzelpersonen versuchen sich der staatlichen Beobachtung oder Verfolgung zu entziehen und schaffen sich einen Raum in der Illegalität, aus dem heraus sie planvoll gegen einen festumrissenen Opferkreis Straftaten begehen können." Aus dieser Einschätzung von Ernst Uhrlau, der 1993 über "die Gefahr rechtsterroristischer Gruppenbildung" nachdachte, spricht ein hohes Maß an prognostischer Urteilskraft. Uhrlau, damals Chef des Hamburger Verfassungsschutzes, ist als Sozialwissenschaftler einer der wenigen Nichtjuristen unter den leitenden Geheimdienstbeamten und auch sonst eine Ausnahmeerscheinung. Ihm wird ein Satz zugeschrieben, der einem in diesen Tagen wieder durch den Kopf geht: Im Kampf gegen Rechtsradikale entscheidet sich die Zukunft des Verfassungsschutzes.

Die Leserinnen und Leser dieses Buches laden wir ein, unserem Gedankengang sowie der Besichtigung und Analyse des realen Verfassungsschutzes zu folgen – und am Ende selbst über die Zukunft dieser Ämter und der "streitbaren Demokratie" zu urteilen. Oder vielleicht in Sachen NPD-Verbot ein schon längst gefälltes Urteil im Lichte guter Gegenargumente zu überdenken. So haben wir es gehalten. Es kann gar nicht schaden, die Sache gegen den Strich zu bürsten. Und sei es, um ein altes "Vorurteil" mit neuen Argumenten zu fundieren.

1. BESTANDSAUFNAHME EINER POLITISCHEN ERSCHÜTTERUNG

"Nationalsozialistischer Untergrund": Der schreckliche Name ist Programm. Diese beispiellose fremdenfeindliche Mordserie macht einen frösteln, ebenso wie der Gedanke, dass den Mördern in all den Jahren niemand in den Arm fiel. Stattdessen wurde "Döner-Morde" – von der Polizei aufgebracht und auch in kritischen Medien distanzlos verbreitet – zum Unwort des Jahres 2011. Monate sind vergangen, doch der Schock sitzt tief. Der Verdacht steht im Raum, dass Polizisten und Staatsanwälte einseitig ermittelten, dass V-Leute im Dunstkreis der späteren Terrorzelle aktiv waren, ja dass es womöglich eine fatale Nähe zwischen dem "NSU" und dem Verfassungsschutz gab. "Die Dienste beherrschen die Kunst der Lücke. Bundesanwalt Griesbaum freut sich, es gebe keine Belege für die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Zwickauer Zelle. Es übersteigt seine Phantasie, dass eine deutsche Behörde etwas ohne Belege unternehmen könnte. Doch nicht der Beleg schafft den Missstand, nicht das Bekennerschreiben ist das Verbrechen."

Aufklärung hat eine kriminalistisch-investigative und eine politisch-evaluative Seite. Der Generalbundesanwalt und seine Ermittler müssen alles daran setzen, den eigentlichen Fall nach allen Mittel ihrer Kunst kriminalistisch aufzuklären. Es gibt aber auch eine politische Dimension, nicht von ungefähr war im Zuge der ersten Enthüllungen von "Staats- und Vertrauenskrise", ja von "Systemversagen" die Rede. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, dass der Bundestag und der Thüringer Landtag sowie der Sächsische Landtag jeweils einen Untersuchungsausschuss eingesetzt haben; Hessen muss dem unseres Erachtens folgen. Ob diese parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wirklich eine zu allem entschlossene Aufklärung vorantreiben, muss sich erst noch zeigen. Es liegt auf der Hand, dass die in den Fall verwickelten Sicherheitsbehörden nicht in der Lage sind, die eigenen "Pannen" aufzudecken – einmal unterstellt, sie sind dazu überhaupt willens. Der Skandal um die jahrelange Mordserie des NSU – eine unglaubliche Verknüpfung von singulärem Kriminalfall und beispiellosen Behördenfehlern – muss auf allen Ebenen aufgeklärt werden. Das heißt, er muss aus allen Behördenunterlagen und dem gesamten Wissen aller Beteiligten lücken- und rücksichtslos rekonstruiert werden.

Die Untersuchungsausschüsse müssen Zugang zu ausnahmslos allen Akten bekommen und das Recht, sämtliche beteiligte Beamte zu befragen – einerlei, ob Polizisten, Staatsanwälte oder Geheimdienstler. Auch was die Vorladung von VLeuten betrifft, darf es auf keinen Fall den sonst üblichen "Quellen- und Geheimnisschutz" geben. Die jeweiligen Innenminister als oberste Dienstvorgesetzte sind in der Verantwortung, Polizisten und Verfassungsschützern umfassende Aussagegenehmigungen erteilen zu lassen. Sobald sich der erste Beamte auf eine fehlende oder beschränkte Aussagegenehmigung beruft, ist der zuständige Minister politisch haftbar zu machen: Ein Minister hat es in der Hand, über die jeweilige Behördenspitze direkt auf die Handhabung von Sperrvermerken Einfluss zu nehmen.

An der Art und Weise, wie die einzelnen Behörden dem Untersuchungsausschuss des Bundestages zuarbeiten und ihre gesamte Arbeit im Umfeld des Tatkomplexes NSU offenlegen, wird sich erweisen, ob sie wirklich kooperieren oder im Zweifel doch vertuschen wollen. Und an dem, was sich ein Untersuchungsausschuss von der Exekutive bieten lässt, wird sich wiederum erweisen, wie ernst es die Parlamentarier mit der "schonungslosen" Aufklärung meinen. Gerade in diesem Fall darf es nicht zu dem "paradoxen Zustand" kommen, den der einst im Widerstand aktive Jurist und Publizist Richard Schmid schon 1978 für Deutschland beklagte: dass nämlich "ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss an der Ermittlung der Fakten gehindert wird, weil derjenige, dessen Amtsführung untersucht werden soll, die Genehmigung zur Aussage nicht erteilt".

Öffentlichkeit und Volksvertretungen sind vergesslich, aber die minutiöse Rekonstruktion und Aufklärung des Falles NSU muss professionell ins Werk gesetzt werden – mit höchster Priorität, unter Aufbietung aller sachlichen und personellen Mittel. Und da hier ein komplexes Staatsversagen im Spiel ist, muss die Untersuchung ohne Rücksicht auf irgendwen und irgendetwas durchgeführt werden: Unvermögen und Fehler Einzelner, von Dienststellen oder ganzen Institutionen oder das Versagen politischer Instanzen – all dies muss ins Licht der Öffentlichkeit. Auf keinen Fall darf sich jene Erfahrung mit der parlamentarischen Kontrolle von Geheimdiensten bestätigen, die der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach so auf den Punkt gebracht hat: "Wer etwas weiß, kommt nicht; wer kommt, weiß nichts; und wer etwas weiß und kommt, sagt nichts."

"Die NSU-Morde sind unser 11. September", erklärte Generalbundesanwalt Range (die tageszeitung vom 9. Juni 2012). Angesichts der politischen Dimension dieser Mordserie ist es auch nicht zu hoch gegriffen, in Sachen NSU einen Untersuchungsbericht im Stil des Nine-Eleven-Reports zu erwarten, den eine Kommission des US-Senats vorlegte. Diese tagte zwanzig Monate, befragte mehr als eintausend Personen, sichtete zwei Millionen, oft als geheim eingestufte Dokumente und rekonstruierte minutiös den Verlauf und die Hintergründe der Attacken des 11. September. All diese Bemühungen waren nicht zuletzt deswegen so ertragreich, weil sich in den USA kein Beamter gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss auf seine Verpflichtung zur Dienstverschwiegenheit berufen kann. Die Mitglieder des Berliner NSU-Ausschusses unter Leitung des erfahrenen Innenpolitikers Sebastian Edathy (SPD) wären gut beraten, die Maßstäbe, die der US-Senat gesetzt hat, ihrer eigenen Arbeit zugrunde zu legen.

Im deutschen Fall des NSU wird es neben der Arbeit der Kriminalpolizei nicht zuletzt um die Rolle von V-Leuten gehen und um die Frage, ob und inwieweit Ämter für Verfassungsschutz über deren Aktivitäten in die Mordserie verstrickt sind. Die Herkulesaufgabe wird viel Zeit beanspruchen, nötigenfalls ist die Arbeit des Untersuchungsausschusses nach der nächsten Bundestagswahl durch einen neuerlichen Beschluss fortzusetzen.

Zwei Beispiele für das eklatante Fehlverhalten mögen hier genügen. Nach einem Bericht des MDR sollen Zielfahnder 1998 oder 1999 den Aufenthaltsort der drei untergetauchten späteren NSU-Mitglieder in Chemnitz entdeckt haben. Daraufhin leitete man ihre Festnahme durch ein Sondereinsatzkommando in die Wege; indes wurde die Aktion unmittelbar vor ihrem Anlaufen gestoppt – sehr zur Empörung der daran beteiligten Polizeibeamten, die sich bei der Amtsleitung beschwert haben sollen. Gerüchte besagen, der Zugriff sei auf Veranlassung des thüringischen Verfassungsschutzes gestoppt worden – ebenso wie der Rückzug der Zielfahnder. Das Thüringer Landeskriminalamt (LKA) hat diese Darstellung des MDR dementiert. Vorausgesetzt, an der Geschichte ist etwas dran: Welches Interesse könnte der Verfassungsschutz gehabt haben, die Untergetauchten zu schützen?

Des Weiteren gibt es Anhaltspunkte dafür, dass der Verfassungsschutz in Thüringen aus eigenen Ermittlungen gewusst hat, wo sich Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zeitweise aufhielten. Ein Observationsfoto des Trios, aufgenommen am 15. Mai 2000 in Chemnitz, das in die Akten des Thüringer LKA gelangte, soll dies belegen – weil es ursprünglich, so die Vermutung, vom Verfassungsschutz stammt. Sollte sich das bestätigen, gäbe es ein weiteres Indiz dafür, dass die Untergetauchten, zumindest zeitweise, durch den Verfassungsschutz gedeckt wurden. Aber warum?

Mit der Ausgangsfrage, warum die drei überhaupt untertauchen konnten, nachdem im Zuge einer Razzia am 26. Januar 1998, die sieben Wohnungen in Jena und mehreren Garagen galt, in einer der Garagen eine Bombenwerkstatt ausgehoben wurde – mit dieser Frage beschäftigt sich ein Sonderermittler. Zeitungsberichten zufolge soll Uwe Böhnhardt während der Durchsuchung einer Garage, die neben der elterlichen Wohnung lag, noch zugegen gewesen sein. Er wurde jedoch nicht festgehalten und konnte sich, nachdem dort nichts gefunden wurde, ungehindert entfernen. Der ehemalige Bundesrichter Gerhard Schäfer, bestellt vom thüringischen Innenminister Jörg Geibert, soll unter anderem die Frage untersuchen, warum der erst zwei Tage später ausgestellte Haftbefehl nicht vollstreckt werden konnte. Und warum es keine vorläufigen Festnahmen unmittelbar durch die Polizei gab. Immerhin waren, kurz nachdem man Böhnhardt hatte laufen lassen, in einer anderen Garage fünf funktionsfähige Rohrbomben sichergestellt worden – zwar ohne Zünder, doch mit insgesamt 1,4 kg TNT. Der ehemalige Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, eine besonders zwielichtige Figur, der man eine geistige Nähe zur radikalen Rechten unterstellen darf, mutmaßte, die Untergetauchten müssten Helfer bei der Polizei in Jena gehabt haben. Ist dies ein substantiierter Verdacht oder eher ein Ablenkungsmanöver, das der Entlastung des arg in Bedrängnis geratenen Verfassungsschutzes dienen soll? Was wird aus dem Ermittlungsverfahren, das eine Staatsanwaltschaft gegen den Thüringer Verfassungsschutz aufgrund einer Privatanzeige aufnahm: Gab es also Strafvereitelung im Amt und behördliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung?

Über diesen verwickelten Details steht die generelle Überlegung, ob die Mordserie hätte verhindert oder wenigstens irgendwann gestoppt werden können. Wie der Spiegel berichtet, seien in den neunziger Jahren im Umfeld des Trios mindestens drei V-Leute aktiv gewesen. "Es gibt [...] einen Satz, der noch nie widerlegt wurde", schrieb Nils Minkmar in der FAS: "'Wenn sich jemand über viele Jahre einer intensiven Fahndung entziehen kann, dann genießt er staatlichen Schutz.' Das ist das Fazit des Terrorexperten und früheren CIAAgenten Bruce Riedel nach dem Ende der größten Suchaktion der Geschichte, der Jagd auf Usama Bin Laden." Und mit Blick auf das Aussageverhalten von Sicherheitsbeamten im neuen Strafprozess gegen die RAF-Terroristin Verena Becker setzt Minkmar hinzu: "Es ist immer die gleiche Geschichte: Verfolgt man die Spur des Terrors nur lange genug, endet man vor einem geheimen Dienstgebäude. [...] Die offene Gesellschaft unterhält eine geschlossene und wundert sich nun."

Bedenkt man das Wenige, das von den Praktiken des Thüringer Verfassungsschutzes bis heute bekannt ist, so scheint der Verdacht einer Nähe, jedenfalls aber eines Laufenlassens, eines Duldens und Teilwissens als Arbeits- und Untersuchungshypothese gerechtfertigt. Dabei muss auch folgende Frage beantwortet werden: Waren mutmaßliche Mitglieder des NSU zeitweilig für den Verfassungsschutz tätig? Gelang es ihnen, diesen über die wahren Aktivitäten der Zelle zu täuschen? Über Beate Zschäpe kursierten in der Szene Gerüchte, sie habe ein doppeltes Spiel gespielt. Das würde erklären, warum der Verfassungsschutz das Trio nicht nur untertauchen ließ, sondern später auch noch in der Illegalität abschirmte.

2. ENDLOSSCHLEIFE PARTEIVERBOT: NPD UND NSU

Statt nun alles daran zu setzen, diesen Kriminalfall aufzuklären, erliegen nicht wenige der Versuchung, offene Rechnungen zu begleichen: Die NPD, das "Flaggschiff der Rechtsradikalen", müsse nun endlich "versenkt" werden. Was soll das mit der Aufklärung in Sachen NSU zu tun haben? Diese Spielart des Schiffeversenkens ist grotesk. Dass sich die Sicherheitsbehörden bis auf die Knochen blamiert haben, versetzt die deutsche Politik in einen Zustand gesteigerter Hilf- und Kopflosigkeit. Und was tut sie? Statt wenigstens die eigene Ratlosigkeit – die im Grunde doch alle teilen – einzugestehen und nachzudenken, wird Handlungsfähigkeit simuliert: hier eine neue Antiterrordatei, da ein "Abwehrzentrum Rechtsextremismus" und dort ein energisches Parteiverbot. Im Spielfilm Casablanca lässt der Polizeichef "die üblichen Verdächtigen" verhaften; hiesige Politiker lassen, sobald es brenzlig wird, die "üblichen Extremisten" verbieten.

Diese deutschen Zustände sind unter aller Kritik, doch sie bleiben ihr Gegenstand. Um es gleich zu sagen: Die neuerliche Verbotsdebatte hat kein Fundament in der Sache. Symptomatisch dafür ist, dass sie sogleich mit dem Bekanntwerden der Mordserie aufgewärmt wurde: zu einer Zeit, als es nicht den geringsten Hinweis auf irgendeine direkte Verbindung zwischen der NPD und der Terrorzelle NSU gab. Doch als käme es darauf gar nicht an, kaprizierten sich die Verbotsbefürworter, einer schlechten Gewohnheit folgend, auf dieindirekten Verbindungen. Dabei geriet die Sprache der Kommentatoren arg ins Schleudern. "Geistige Brandstifter" war noch das Geringste; die Partei als "Schulungszentrum für handgreiflichen Rassismus" und "Durchlauferhitzer für Gewalt", als "Nährboden für Hass und tödliche Gewalt" und "Hort" der Terroristen – die vielfach variierten Anwürfe steigerten sich ins NebulösFantastische. Das mag sich für kritischen Journalismus halten; es begründet aber keine Kausalität zwischen schlimmer Hetze und schlimmerer Tat. Mutmaßungen über Fernverbindungen taugen nichts; das wird klar, sobald hieb- und stichfeste, das heißt gerichtsverwertbare Tatsachen verlangt werden, die man für ein Parteiverbot bekanntlich braucht.

Aber es gehe doch, lautet ein oft zu hörender Einwand, um politische Brunnenvergiftung: Zählt die gar nicht? Als Frage der politischen Kultur sicher, aber nicht als Kurzschluss zwischen Wort und Tat. Rassistische genau wie antisemitische Propaganda kann das gesellschaftliche Klima vergiften – doch bleibt selbst das Schüren von Vorurteilen Teil des Meinungskampfes und ist durch die Meinungsfreiheit geschützt. Bei weitem nicht alles, was viele als abstoßend und unanständig empfinden, ist in einer Demokratie als Volksverhetzung strafbar. Und das ist gut so. Es gehört, auch wenn es manchmal weh tut, zum Ertragen, ja zum Stolz auf das Grundgesetz, selbst Ausländerfeinden und Antisemiten die Meinungs-, Versammlungs- und Parteienfreiheit zuzugestehen.

Um noch einmal Missverständnissen vorzubeugen: Gäbe es wirklich direkteVerbindungen zwischen NPD und NSU, das Schicksal der Partei wäre besiegelt. Die Unterstützung fremdenfeindlicher Mordtaten, und sei sie noch so geringfügig, ist ein Verbotsgrund par excellence. Einer Partei der Helfershelfer könnte das Verfassungsgericht, bei Gefahr im Verzuge, sogar im Eilverfahren alle Aktivitäten vorläufig untersagen. Nehmen wir zum Beispiel an, ein hauptamtlicher Funktionär der NPD hätte sich am Tatort in Kassel aufgehalten – aber anwesend war, rein zufällig, ein hauptamtlicher Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes! Oder nehmen wir an, die späteren Hinrichter hätten sich in der NPD radikalisiert – aber nein, sie taten es ja im "Thüringer Heimatschutz"! Und der wurde, wie man inzwischen weiß, von einem hochbezahlten V-Mann des Verfassungsschutzes aufgebaut und angeführt. Zutreffend ist, dass Ralf W., ein ehemaliger Thüringer NPD-Funktionär, als mutmaßlicher Unterstützer des NSU festgenommen wurde; er sitzt in Untersuchungshaft, die Vorwürfe gegen ihn wiegen schwer. Und der Verdacht, er habe dem NSU eine Waffe zukommen lassen, scheint sich zu erhärten. Das geht aus einem Geständnis des später inhaftierten, mutmaßlichen Helfers Carsten S. hervor: Er will 1999 von Ralf W. Geld für das Besorgen der späteren Tatwaffe, der berüchtigten Ceska-Pistole bekommen haben (und war so wie W. zeitweise in der NPD aktiv). Ob sich das Verhalten beider der NPD als Partei zurechnen lässt, das müssen die Ermittlungen allerdings erst noch zeigen. Der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, bezeichnete den springenden Punkt: Das kriminelle Verhalten eines Einzelnen muss der Partei als organisationsspezifische Eigenart zugerechnet werden können. Gerade das aber ist, nach allem, was wir heute wissen, nicht möglich. So warnte denn Papier davor, mit einem waghalsigen Verbotsantrag in eine „unsägliche Falle" zu tappen.

(Continues…)


Excerpted from "Nach dem verfassungsschutz"
by .
Copyright © 2019 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin.
Excerpted by permission of Hirnkost KG.
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Table of Contents

Vorwort zur zweiten Auflage,
"Verfassungsschutz" – und kein Ende?,
Vorwort,
Wann, wenn nicht jetzt?,
Holländische Straße,
Halit-Straße,
I. "Nationalsozialistischer Untergrund",
1. Bestandsaufnahme einer politischen Erschütterung,
2. Endlosschleife Parteiverbot: NPD und NSU,
3. Innehalten: Ein kollektives Problem gesellschaftlicher Wahrnehmung,
II. In der V-Leute-Falle,
1. Rückblende: Verfassungsschutz in flagranti (2002),
2. Mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften,
III. Die Erfindung des Verfassungsschutzes,
1. Die westdeutsche Demokratiegründung von 1949 als Sonderweg,
2. Exkurs: Kritik der "streitbaren Demokratie",
3. Aus der Skandalchronik: Verfassungsschutz 1950–2012,
IV. Was macht eigentlich der Verfassungsschutz?,
1. Die Kernaufgabe und der Zentralbegriff des "Extremismus",
2. Das nachrichtendienstliche Mittel,
3. Politische Parteien im Visier des Verfassungsschutzes,
4. Wer bestimmt den Verfassungsfeind?,
V. Die Lebenslüge vom "Frühwarnsystem",
1. Eine Serie der Ahnungslosigkeit (Brand- und Mordanschläge, NPD, Hamburger Terrorzelle, NSU),
2. Vorfeldaufklärung ohne sicherheitspolitischen Nutzen: eine notorische Gefährdung der Bürgerrechte,
VI. Wie lange noch?,
1. Exkurs: Science-Fiction und Verfassungsschutz,
2. Ein irreparabler Konstruktionsfehler: Extremistenüberwachung zwischen polizeilicher Gefahrenabwehr und politischer Bildung,
3. Das Ende des Sonderwegs: Verfassungsschutz als Anachronismus in einer aufgeklärten Gesellschaft,
VII. Skizze einer neuen Sicherheitsarchitektur,
1. Das Gewaltkriterium als Grenze des politischen Kampfes,
2. Verfassungsreform in bürgerlich-liberaler Absicht: Weder Grundrechteverwirkung noch präventives Parteiverbot,
3. "Politische Polizei" statt Verfassungsschutz: Strafverfolgung ohne Feinderklärung,
4. Institutionelle Flurbereinigung: Ein Fünfjahresplan zur Abwicklung des Verfassungsschutzes,
VIII. Nach dem Verfassungsschutz: Eine unabhängige Stiftung zur Verteidigung der Demokratie,
IX. Republikschutz statt Verfassungsschutz,
1. Zukunftsmusik,
2. Thesen,
Anhang,
Appell gegen Neonazis: Was jetzt zu tun ist,
Entschließungsantrag des Bundestages,
Parlamentarische Untersuchungsausschüsse,
Materialien (Stand 2018),
"Der Letzte macht das Licht aus" (von Karl Tallhover),
Literaturauswahl (Stand 2018),
Internet,
Fußnoten,

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