Mit der Faust in die Welt schlagen: Roman

Zwei Brüder, ein Dorf in Ostsachsen und eine Wut, die immer größer wird

Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es.

Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarische  Auseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.

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Mit der Faust in die Welt schlagen: Roman

Zwei Brüder, ein Dorf in Ostsachsen und eine Wut, die immer größer wird

Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es.

Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarische  Auseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.

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Mit der Faust in die Welt schlagen: Roman

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by Lukas Rietzschel
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Zwei Brüder, ein Dorf in Ostsachsen und eine Wut, die immer größer wird

Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es.

Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarische  Auseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.


Product Details

ISBN-13: 9783843718516
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/07/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 320
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. 2012 wurde sein erster Text im "ZEIT Magazin" veröffentlicht, seitdem folgten Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. 2017 war er Gewinner bei poet|bewegt. Für das Manuskript seines Romandebüts wurde er 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet.
Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. 2012 wurde sein erster Text im »ZEIT Magazin« veröffentlicht, seitdem folgten Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. 2017 war er Gewinner bei poet|bewegt. Für das Manuskript seines Romandebüts wurde er 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Da waren eine Grube und ein Schuttberg daneben. Mutter stand am Rand und blickte hinab auf die grauen Steine, die zu einer Mauer gestapelt worden waren. Dann auf diesen Hügel aus Erde und Grasklumpen, Kies und Bruchstücken hoch. Ihre beiden Söhne darauf. Tobi und Philipp. Bunte Jacken dreckverschmiert. Unten ihr Mann, wo der Keller entstehen würde. Sie sah hin und her, dann über das Feld, gegenüber der Straße, die zu ihrem Haus führen würde. Dort verblassten die Flachdächer der Wohnblocks. Philipp sagte ihr, dass er sich nicht erinnern könne, dort jemals gelebt zu haben, er hatte davon gehört und die Bilder eines pummeligen Babys gesehen, das er sein sollte. Dann war der Umzug gekommen, weil Tobi sich angekündigt hatte, und jetzt, fünf Jahre später, das eigene Haus. Elf Jahre nach der Wende.

Das Feld war längst abgeerntet. Im Sommer würde dort wieder Futtermais wachsen. Die Kastanie, die auf dem Nachbargrundstück stand, war bereits durchlässig gegen die Sonne. Kaum ein Blatt, das mehr an den Ästen hing. Kaum eine Kastanie mehr zu finden, die nicht matschig auf der holprigen Straße lag. Einspurig, lediglich für die Anwohner an den Rändern asphaltiert. Dadurch rutschte kein Auto in den Graben, wenn sich zwei begegnen sollten.

Aus der Grube kam Vater und stellte sich neben Mutter. Herr und Frau Zschornack. Für sie roch er wie die Buchsbaumhecken im Frühjahr, nachdem der Schnee geschmolzen war und der Duft von Katzenpisse aus der Erde stieg. Mutter atmete aus und klopfte ihm Erde vom Rücken. Der Schornstein des Schamottewerkes war zu sehen. Eine Ziegelesse, die nicht mehr rauchte, seitdem die Mauer gefallen war. Eine Zeit lang war es noch möglich gewesen, in der alten Kantine mittags essen zu gehen, aber dann schloss sie von einem Tag auf den anderen. Seitdem trafen sich die ehemaligen Arbeiter nicht mehr dort. Gelegentlich liefen einige von ihnen zum Spazierengehen über das Gelände hinüber in den angrenzenden Wald. Verrostete Überreste von Schienen. Begannen und endeten abrupt. Die Erde war durch den Kaolinabbau von Mulden übersät und eingedellt. Neschwitz lag in dieser Landschaft wie ein Steg zwischen Tongruben und Steinbrüchen.

Philipp ging zu Vater, der ihm über die dunklen Haare strich. »Halten die Steine das aus, wenn mal Schnee drauf fällt?«, fragte er. »Nass werden sollten sie nicht«, sagte Vater. Philipp streckte sich nach dem Mauerstück in der Grube, balancierte und ging eine Runde darauf. Blickte von oben hinunter. »Wann kommen die Kabel?«, fragte er. Vater lachte auf und sagte, dass zunächst die Wände isoliert würden, mit Teer gegen die Feuchtigkeit, und erst viel später die Elektrik ins Haus kommen würde. »Fall nicht runter«, sagte Mutter. Philipp winkte ab. Kalter Wind wehte über das Feld. Mutter drehte sich zu Tobi, um zu kontrollieren, ob er seine Jacke geschlossen hatte. Seine Knie braun und nass von der Erde. In seinen Haaren klebten Grashalme. Mit seinen Händen rollte er Steine und Erdklumpen den Hügel hinab und machte Geräusche von Donner nach. Philipp hatte ihm das Bild eines Vulkanes gezeigt, und Tobi hatte mit seinem Zeigefinger den Weg der Funken nachgezeichnet. Es gab nur zwei Farben auf dem Bild: Rot und Schwarz. Tobi wollte das Buch haben, aber Philipp hatte gesagt, dass man dafür in die Schule gehen müsse. Also würde er sich noch ein Jahr gedulden müssen, ein Dreivierteljahr höchstens. Wenn er etwas über Vulkane lernen würde, war die Wartezeit akzeptabel.

In den Nachbarhäusern brannten erste Lampen. Die abendliche Luft voll Feuchtigkeit. »Ich nehme die beiden mit und fahre dann auf Arbeit«, sagte Mutter. »Mach nicht so lange.« Sie ging zu Vater und küsste ihn flüchtig auf die Wange. Vater packte Philipp unter den Armen und reichte ihn von der Mauer an den Grubenrand. Wie ein Werkzeug oder einen Sandsack. Früher war das leichter gewesen, war Philipp leichter gewesen.

Tobi musste seine dreckige Hose ausziehen, bevor er in den Wagen stieg. Er zitterte. Beim Wenden platzten noch einzelne Kastanien unter den Reifen. Das Feld sah aus wie ein schwarzes Loch. Der Trichter eines Vulkans. Eingang und Ausgang zum Inneren der Welt. Tobi gefiel der Gedanke, dass man den Rauch und das Feuer bis zum nächsten Dorf würde sehen können. Wie Dresden, als es brannte. Wann auch immer Dresden derart gebrannt haben mochte. Das hatte er nicht verstanden. Der blaue Renault bog auf die Hauptstraße. Philipp und Tobi blickten nach den Flutlichtmasten des Sportplatzes. In dünnen gelben Leibchen rannten Männer am Zaun entlang und hauchten in die Luft. Sie sahen vergnügt aus. In der angrenzenden Gaststätte mit Kegelbahn saßen Leute hinter Spitzengardinen und tranken Bier. Selbst im Vorbeifahren waren ihre Bäuche zu sehen, die gegen die Tischkanten drückten. Blechschilder an der holzgetäfelten Wand. Wimpel und Fußballtrikots. Nur jede zweite Straßenlaterne bis an den Ortsrand, wo der Wald anfing, eingeschaltet.

CHAPTER 2

In den Wochen darauf fiel das erste Mal Schnee in diesem Jahr. Der Erdhaufen neben der Baugrube glich einem Iglu. Die grauen Steine der Mauern verschwommen mit der durchgehenden Schneedecke. Philipp rührte mit dem nassen Pinsel so lange in den Wasserfarben, bis sich kleine Bläschen bildeten. Aus Ocker und Braun malte er den ersten Vogelkörper wie eine Birne mit Flügeln. Tauchte den Pinsel wieder in die Farben und malte zwei rundere Birnen daneben. Drei Spatzen in einem leeren Haselstrauch. Die Lehrerin hatte das Gedicht an die Tafel geschrieben. Dann braunes Papier verteilt. Darauf waren die Schneeflocken aus Deckweiß besser zu sehen. Philipp malte den Spatzen Mützen und kleine Schals. Schlitze als Augen. »Die schlafen wohl?«, fragte die Lehrerin. »Ja«, sagte Philipp. »Machen die Winterschlaf?« »Nein, die frieren.« Sie sah sich die Spatzen der anderen Kinder an. Die dünnen Haselzweige und dicken Schneeflocken. Dann kam sie wieder zu Philipp und hockte sich neben seinen Tisch. »Ich habe gehört, dass ihr ein Haus baut«, sagte sie. »Ja.« »Was arbeiten deine Eltern noch mal?« Die gleiche Frage von unterschiedlichen Leuten. Philipp antwortete darauf, wie er es für richtig hielt. »Elektriker und Krankenschwester.« Vater, der schlauer war, sowieso, sagte, dass das niemanden etwas angehen würde. Vor allem nicht diese ganzen Lehrer, Ärzte, Beamten, Bonzen und Politiker.

* * *

Vater lief neben seinem Chef die schmale Straße entlang, die zur Baustelle führte. In den Nachbarhäusern noch Lichter. Gardinen wurden durch die warme Luft der Heizkörper bewegt. Bald die ersten Schwibbögen und Herrnhuter Sterne. Der Duft von Weihrauch aus den geschnitzten Schornsteinfegern und Bergmännern.

»Was ist aus den Offizieren geworden?«, fragte der Chef.

»Die wohnen hier noch«, sagte Vater. »Die meisten kriegen Rente, manche arbeiten.« Sie gingen an einem Haus mit Metallzaun vorbei. »Der hier guckt die ganze Zeit aus dem Fenster«, sagte er. »Im Sommer ist er im Garten und gießt Blumen. Frühs und abends.« Er drehte sich um und zeigte auf zwei Häuser. Beide hatten den gleichen braunen Putz. Den Grundstücken gegenüberliegend je zwei Garagen. Im Schnee waren Reifenspuren. »Der dort ist Fahrprüfer.«

»Fahrlehrer?«

»Nein, der sitzt bei der Prüfung hinten und schreibt die Fehler auf. Mierisch heißt der«, sagte Vater, »ekelhafter Typ.« In dem Haus nebenan, sagte er weiter, lebte ein ehemaliger Lehrer, der jetzt Direktor an einer Schule war.

»Schön ruhig hier«, sagte der Chef, wechselte das Thema. Eine Frau lief vorbei, nickte den beiden Männern zu und verschwand in einem der Häuser. Die Männer wandten sich ab. Liefen über die dünne Schneeschicht zur Baugrube. »Helfen euch eure Eltern?«, fragte der Chef. Er setzte seine Füße fest auf, das Gewicht verlagert, und versuchte, ein wenig auf der Straße zu rutschen. In den Knien abgefedert, als wollte er Schlittschuh laufen. Vater sagte, dass sein Vater später beim Streichen helfen würde. Sein Bruder auch. »Der wohnt noch zu Hause. Ist nie rausgekommen.« Der Vater seiner Frau sei zu krank, um zu helfen.

»Was hat er?«

»Diabetes. Und vor zwei Jahren einen Schlaganfall.«

»Scheiße«, sagte der Chef.

Vater nickte. »Hat seitdem Probleme mit dem Sprechen. Autofahren geht auch nicht mehr.«

Einzelne Steine, die aus der Erde und dem Schnee ragten, stießen sie in die Grube. Sie spürten sie nicht durch die Stahlkappen in ihren Schuhen. In den Jackentaschen ballte der Chef seine Hände zu Fäusten.

»Ich versteh nicht, wie die sich das vorgestellt haben«, sagte er. »Was uns alles versprochen wurde.«

Vater beobachtete, wie sein Atem in der Luft aufstieg, und antwortete nicht. Abschluss aberkannt, Umschulung, Umschulung, Weiterbildung. Zwischendurch hatte er durchgerechnet, ob er die Familie kurzzeitig vom Arbeitslosengeld hätte ernähren können. Sein Bruder war jetzt Altenpfleger, er Elektriker. Beide hatten ursprünglich Kupplungen gebaut.

»Guck dir Uwe an«, sagte der Chef. »Der sitzt allein zu Hause, weil seine Frau drüben ein besseres Gehalt bekommt.« Er zog ein Feuerzeug aus seiner Tasche, rieb aus Gewohnheit am Plastik, schüttelte es und zündete sich schließlich eine Zigarette an. »Gestern kam er betrunken auf Arbeit.«

Vater schüttelte den Kopf und drehte sich vom Zigarettenrauch weg.

»Der bringt sich um, wenn ich den feuere.«

Der Schneepflug fuhr an ihnen vorbei. Ein kleines oranges Auto. Schob Erde vom Wegesrand auf die Straße. Die gestreuten Salzkörner bildeten Kreise auf dem feuchten Asphalt. Erhebungen in der Mitte wie kleine Mitesser.

»Hat ein ganz aufgedunsenes Gesicht und stinkt«, sagte der Chef. »Letztens hat sich eine Kundin bei mir über ihn beschwert, weil sie so erschrocken war. Ich kam zu spät, steckte bei Räckelwitz fest. Die eine Baustelle dort. Die dachte, dass er ein Penner ist. Oder einer von den Zigeunern, weil er so über ihr Grundstück geschlichen ist.« Er hustete, dann ließ er den Zigarettenstummel in den Schnee fallen.

Vater bemerkte einen Fuchs, der geduckt über die Wiese rannte. »Was hat Uwe gelernt?«, fragte er.

»VEB in Bautzen«, sagte der Chef, »Waggonbau, oder was die dort gemacht haben.«

Der Fuchs lief am Gartenzaun des Nachbarn vorbei. Der alte Offizier hatte ihn sicherlich längst bemerkt. Vielleicht besaß er ein Gewehr, wahrscheinlich sogar, dann könnte er ihn erschießen.

»Hat dann lange bei seinen Eltern gewohnt, dort geholfen und sie gepflegt. So genau weiß ich das nicht. Ist dann Elektriker geworden, also was ganz anderes«, sagte der Chef. »So ähnlich wie du.«

»Vielleicht kann er mir ja helfen«, sagte Vater und deutete auf die Mauern, die aus der Grube ragten. Ganz unverbindlich. Hauptsache, er würde rauskommen und seine abgehauene Frau vergessen. Bisschen Geld verdienen, Gesellschaft haben.

Der Chef drehte sich zu ihm und sah Vater an. Erst die gerötete Nase und die Ohren, die Stirn und das schmale Kinn. Dann lange in die Augen. Er steckte seine Hände in die Taschen und rieb sie am Innenfutter. »Uwe ist ein guter Mann«, sagte er.

CHAPTER 3

Vater lief an den Gärten der Nachbarn vorbei und auf die Baustelle zu. Schnee, der die Beete verdeckte. Das Erdgeschoss war fertiggestellt worden. Es gab eine provisorische Eingangstür. Er trat in Pfützen aus Streusalz und Schneematsch und wich ihnen schließlich aus, nachdem sein Hosenbein nass geworden war. Den Mann, der auf einem Mauerabsatz saß und seine Hacken gegen die Steine schlug, bemerkte er zunächst gar nicht. Hagere Gestalt, offene Jacke. Die Schuhe zu dünn für den Winter und eine Baustelle. Vater blieb vor ihm stehen.

»Hab gehört, du brauchst Hilfe«, sagte Uwe und richtete sich auf. Er streckte Vater die Hand entgegen und drückte sie fest. »Der Chef hat's mir erzählt«, sagte er.

Vater sah ihn an und hielt seine Arme eng am Körper. »Ja«, sagte er. Stockte. »Ich wollte dich eigentlich fragen.« Er hatte Uwe eine Weile nicht gesehen. Nicht auf Arbeit und nicht auf der Straße.

»Musst bloß sagen, dann geh ich wieder«, sagte Uwe. Er trug seine alte Arbeitskleidung und hatte einen Eimer dabei, eine Schaufel und eine Trittleiter aus Holz. An der Mauer lehnte außerdem eine schwarze Sporttasche.

»Nur, wenn du Zeit hast«, sagte Vater. Er ging an Uwe vorbei und öffnete die Eingangstür. Es klang wie ein Glockenspiel, als Uwe die Sporttasche nahm und sie auf dem nackten Betonboden absetzte. Er öffnete sie und schob das lose Werkzeug darin zur Seite. Legte Pakete mit Schrauben, Nägeln und Dübeln an den Rand und fand zwei Bierflaschen. Beide stellte er auf den Boden. Dann folgte er Vater, der ihn durch die Räume im Erdgeschoss führte.

Dort sollte das Wohnzimmer entstehen, da die Küche und hier das kleine Bad mit Dusche. Oben die Kinderzimmer, das Schlafzimmer und ein Bad mit Wanne. Es war dunkel in den Räumen und kalt. Schutt in den Ecken und Staub in der Luft. Vater lehnte sich gegen eine Wand und strich mit der flachen Hand darüber. Durch die Öffnungen in den Zimmern, wo später die Fenster eingebaut würden, wehte kalter Wind. »Warst lange nicht auf Arbeit«, sagte Vater. Seine Stimme hallte. Uwe blickte durch das rechteckige Loch in der Wand nach draußen. Das Feld war schneebedeckt. Der Himmel darüber und der Horizont waren diesig. »Wurde nach Hause geschickt«, sagte er. Vater sah ihn an und sagte nichts. Er hörte, wie ein Auto auf der Straße fuhr. Es hielt in der Nähe. Schließlich waren Schritte zu hören. Dann Klopfen an der Metalltür. Vater ging zum Eingang, gefolgt von Uwe, der sich vor die Sporttasche stellte. So, dass er die Bierflaschen verdeckte.

Tobi erschrak, als er den Mann in der Ecke stehen sah. Uwes Gesicht war im Schatten. Nur die Nasenspitze wurde durch das Licht angestrahlt, das von draußen kam. »Uwe, das ist mein Jüngster, Tobi«, sagte Vater. Uwe reichte Tobi die Hand. »Oh, hallo«, sagte Mutter überrascht. Sie trug einen Stoffbeutel. Drei Klappstühle lehnten am Auto. Vater stellte Uwe als seinen Arbeitskollegen vor, der vorbeigekommen war, um ihm zu helfen. »Ich habe nur drei Stühle dabei«, sagte Mutter, »das wusste ich nicht.« Den Beutel legte sie ab, dann gab sie Uwe die Hand. Tobi lief durch die Räume und strich, wie sein Vater, über die nackten Wände. Seine Füße hob er nicht an, wenn er durch die Zimmer ging. Das Geräusch, als klebte Sandpapier an seinen Schuhsohlen.

Vater stellte die drei Campingstühle in der Mitte des Raumes zu einem Halbkreis auf, der später das Wohnzimmer werden sollte. Ausgerichtet zum Fenster, obwohl es draußen längst dunkel war. Uwe sah ihm dabei zu. Blieb zunächst weiter stehen, als Vater und Mutter sich setzten und ihm den dritten Platz anboten. Er wollte lieber arbeiten. Dafür war er hergekommen. Früher hatte er oft mit Vater zusammengearbeitet. Still und effektiv. Dann mit dem Chef. Dann nur noch allein. Nicht mehr bei Kunden. Nicht mehr am Telefon. Zuletzt hatte er die Kabeltrommeln im Lager sortiert.

Tobi lief umher und kam gelegentlich bei den Erwachsenen vorbei. »Willst du ein Würstchen?«, fragte ihn Mutter. Tobi winkte ab. Mutter nahm zwei Tassen aus dem Beutel, eine Thermoskanne und eine Plastikpackung mit Wienern. Uwes Kaffee mit Sahne und Zucker. Umgerührt durch das Schwenken der Tasse. Die Straßenlaterne ging an. Mutter blickte auf Uwes Füße und, wenn sie glaubte, dass er es nicht mitbekam, in sein Gesicht. Dann zu Vater, der neben ihr saß und sich mit ihr die zweite Kaffeetasse teilte. Ein Würstchen wie einen Kaugummi kaute.

»Wir wollten auch gleich wieder fahren«, sagte sie, »wenn Sie wollen, nehmen wir Sie mit.« Und zu Vater: »Oder wollt ihr noch viel machen?«

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Vater und lächelte, »haben schon genug gemacht heute.«

Draußen fuhren Autos in die Garagen der Nachbarhäuser. »Du«, sagte Uwe und hielt inne. Vater und Mutter, die ihn anstarrten. Sowieso die ganze Zeit schon. Ebenso die Nachbarn aus ihren Fenstern. Ihre Gesichter rot und verschwitzt von der Heizungsluft. »Bitte nicht siezen«, sagte er. Tobi ging zum Beutel und nahm sich aus der Plastikverpackung ein Würstchen. »Ich kann laufen«, sagte Uwe, »ich wohn hier sowieso in der Nähe. Beim Sportplatz.«

»Dort fahren wir vorbei«, sagte Vater.

Uwe saß neben ihm im Wagen. Seine Tasche im Kofferraum verstaut. Er zuckte bei jedem Schlagloch, das die Flaschen klimpern ließ, und bei jeder regelmäßig wiederkehrenden Rille in der Straße aus Betonplatten. Er schloss die Augen und kniff sie trotzdem immer wieder zusammen. Hinter Kabeltrommeln ließen sich keine Flaschen verstecken. Hinter den großen vielleicht, aber die sollte er nicht anrühren. Dann war er mit dem Fuß dagegengestoßen. Wie traurig das Bier an der Isolierung der Kabel leckte.

Vater hielt den Wagen vorm Vereinshaus. Uwe stieg aus und nahm seine Tasche. Er griff nach ihr, bevor Vater sie ihm reichen konnte. »Danke«, sagte er und schüttelte Vater die Hand. »Ich hab zu danken«, sagte Vater und schloss die Kofferraumklappe. Der Motor sprang nicht gleich wieder an. Vater antwortete nicht auf Tobis Fragen. Wer war das? Warum war er da? Vater sah Uwe hinterher, der in einen Weg einbog und im dunklen Fleck zwischen den Straßenlaternen verschwand. Die Sporttasche geschultert. Die dünne Jacke offen, sodass der Wind sie am Rücken aufblähte.

(Continues…)


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