Leonora: Wie ich meine Tochter an den IS verlor - und um sie kämpfte Buch zur ARD-Doku

Leonora: Wie ich meine Tochter an den IS verlor - und um sie kämpfte Buch zur ARD-Doku "Einmal IS-Terror und zurück": Wahre Geschichte einer jungen Islamistin aus dem Harz, spannend wie ein Krimi

Leonora: Wie ich meine Tochter an den IS verlor - und um sie kämpfte Buch zur ARD-Doku

Leonora: Wie ich meine Tochter an den IS verlor - und um sie kämpfte Buch zur ARD-Doku "Einmal IS-Terror und zurück": Wahre Geschichte einer jungen Islamistin aus dem Harz, spannend wie ein Krimi

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Overview

Leonora Messing war 15 Jahre alt, als sie aus ihrem Dorf in Sachsen-Anhalt verschwand und sich in Syrien dem Islamischen Staat anschloss, um Drittfrau eines deutschen IS-Terroristen zu werden. Wie konnte sich Leonora so schnell so stark radikalisieren? Wie sieht ihr Leben in den Kriegswirren aus und was bedeutet das für die verzweifelten Angehörigen? Der Vater kämpft darum, Leonora aus dem umkämpften Rakka zurückzuholen – und geht dafür gefährliche Risiken ein… 
Ein dramatisches Stück Zeitgeschichte, das die Verführungskraft des IS und dessen Terror erklärt.   
Mit einem Vorwort von Georg Mascolo


Product Details

ISBN-13: 9783843722018
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/06/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 352
File size: 19 MB
Note: This product may take a few minutes to download.
Language: German

About the Author

Maik Messing, * 1972, lernte zunächst den Beruf des Maurers mit DDR-Facharbeiterbrief, bevor er in der Bundeswehr als Richtschütze auf dem Marder im Panzergrenadierbatallion 212 tätig war. Wenige Jahre später absolvierte er den Betriebswirt des Handwerks und arbeitet seither als Bäcker. Volkmar Kabisch, * 1984, studierte Islamwissenschaft und Judaistik in Halle/Saale, Leipzig und Kairo. Ab 2004 arbeitete er als Reporter beim Mitteldeutschen Rundfunk und dem ""Spiegel TV Magazin"". Von 2013 an ist Volkmar Kabisch als Autor bei ""Panorama"" und ""Panorama 3" im NDR tätig. Inzwischen arbeitet er für den Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Georg Heil, *1977, arbeitete als freiberuflicher Journalist für das investigative Ressort des WDR, nachdem er zuvor bei "Spiegel TV" tätig war. Seit 2018 arbeitet er für das ARD-Magazin "Kontraste".

Maik Messing, geboren 1972,  lernte zunächst den Beruf des Maurers mit DDR-Facharbeiterbrief, bevor er in der Bundeswehr als Richtschütze auf dem Marder im Panzergrenadierbatallion 212 tätig war. Wenige Jahre später absolvierte er den Betriebswirt des Handwerks und arbeitet seither als Bäcker.


Volkmar Kabisch, geboren 1984, studierte Islamwissenschaft und Judaistik in Halle/Saale, Leipzig und Kairo. Ab 2004 arbeitete er als Reporter beim Mitteldeutschen Rundfunk und "Spiegel TV“". Von 2013 an war Volkmar Kabisch als Autor bei „"Panorama“" und „"Panorama 3“ im NDR tätig. Inzwischen arbeitet er für den Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung.


Georg Heil, geboren 1977, arbeitete als freiberuflicher Journalist für das investigative Ressort des WDR, nachdem er zuvor bei „Spiegel TV“ tätig war. Seit 2018 arbeitet er für das ARD-Magazin „Kontraste“.


Georg Mascolo, Jahrgang 1964, war 25 Jahre lang – zuletzt als Chefredakteur – beim Spiegel und ist heute Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und  Süddeutscher Zeitung.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Die erste Nachricht

»Hallo, mein Name ist Nihad Abu Yasir«, steht auf dem Handydisplay. »Ihrer Tochter geht es gut, Gott sei Dank. Sie ist angekommen in Dawlatul Khilafa.«

Dawlatul Khilafa – das heißt so viel wie »der Kalifatstaat«. Doch das weiß Maik damals noch nicht. Den Begriff, mit dem Anhänger des Islamischen Staates ihre eigene Utopie bezeichnen und den man Daulatu al Chilafa ausspricht, hatte er noch nie gehört. Es ist nur einer von vielen Namen und Begriffen, die Maik erst lernen muss.

Sechs Tage sind nun vergangen, seit seine Tochter Leonora verschwunden ist. Sechs Tage Angst. Sechs Tage Verzweiflung.

Maik hatte mal eine Maurerlehre gemacht, bevor er im väterlichen Betrieb Bäcker wurde. In seinen 44 Lebensjahren hat er schon so einige Schicksalsschläge erlebt, doch diese Tage ohne Nachricht sind selbst für den groß gewachsenen, gestandenen Mann zermürbend. »Ich konnte nur noch reagieren, nicht mehr agieren«, erinnert er sich später an diese Tage und die erste Nachricht über den Verbleib seiner Tochter zurück.

Wenige Sekunden später piepst sein Handy wieder mit diesem Ton, der an ein kleines Glöckchen erinnert, typisch für eine neue Nachricht bei WhatsApp. Er wird ihn im Zusammenhang mit Leonora in den nächsten Monaten, den nächsten Jahren noch Hunderte Male hören – der Ton wird ihn oft erschaudern lassen, manchmal aber auch erfreuen, meistens hoffen.

Maik sitzt auf dem großen Himmelbett in Leonoras Zimmer im Dachgeschoss seines kleinen Hauses. Vom Fenster aus kann man den Kirchturm sehen und die vom rauen Wetter geschundenen Giebel der Nachbarhäuser. Die grauen Wolken verkanten sich zwischen den Hügeln des Harzvorlandes. Sie wollen einfach nicht weiterziehen. Es wirkt, als wollten sie die ohnehin triste März-Landschaft noch farbloser machen.

Alles hier im Zimmer erinnert ihn an seine Leonora, die er oft Leo nannte, obwohl er solche Verkürzungen eigentlich nicht mag. Alles hier ist sie. Die violette Wand, der Schreibtisch, der Schminktisch.

Auf dem Himmelbett wird er noch oft sitzen und an Leonora denken. Und er wird kämpfen – für seine Tochter, manchmal auch mit ihr und nicht zuletzt mit sich selbst. Er wird weinen, sich fürchten, Enttäuschungen erleben. Aber er wird auch viel lachen. Überhaupt lacht Maik viel und oft, meistens weil ihm danach ist, manchmal, weil er nicht besser mit der Situation umzugehen weiß.

Maik wird in fremde Länder reisen, in denen er noch nie zuvor war, sogar ganz nah heran an die syrische Grenze. Er wird mit Islamisten Bündnisse schmieden und erleben, wie seine Teenager-Tochter zur zweifachen Mutter wird und ihn mit der Frage zurücklässt, ob er sich darüber freuen oder weinen soll, Großvater zu werden. Maik wird erpresst werden und Leonora sogar kurzzeitig für tot erklärt werden. Doch all das ahnt er jetzt noch nicht. Genauso wenig wie er sich damals vorstellen kann, beinahe täglich mit zwei Journalisten in Kontakt zu stehen. Auch wir, die zwei Journalisten, ahnen zu dieser Zeit nicht, dass diese Geschichte uns so intensiv beschäftigen und uns zuweilen bis an den Rand journalistischer Professionalität führen wird. Manchmal sogar darüber hinaus.

Ihre Tochter ist in guten Händen. Ich werde mich so lange ich lebe um sie kümmern, bi idhnillah [Alles Lob gebührt Allah].

Maik starrt wieder auf das kleine Display seines Smartphones. Die fremde Landesvorwahl des ihm unbekannten Nachrichtenschreibers beginnt mit +1. Das ist irgendwo in Nordamerika, den USA oder Kanada. Maik weiß das. Vor einigen Jahren hatte er mal an einer Übung der Bundeswehr in Kanada teilgenommen. Aber das kann ja nicht stimmen. Doch was soll er jetzt tun? Zurückschreiben? – Nein. Was sollte man auf eine solche Nachricht auch antworten.

»Ihre Tochter liebt sie. Sie hat sich aber für Allah und den Islam entschieden. Sie ist im Islamischen Staat«, teilt der Nachrichtenschreiber als Nächstes mit. Leonora im Islamischen Staat? Das geht nicht, wie soll sie dahin gekommen sein? Was will sie da? Diesen IS kennt Maik nur aus dem Radio und aus der »Tagesschau«. Was hat er, was hat seine 15-jährige Tochter damit zu tun?

Der Nachrichtenschreiber macht Druck. »Keine Antwort ist auch eine!«, schreibt er harsch und schickt gleich noch ein drängelndes Fragezeichen hinterher.

Es ist der 12. März 2015, genau um 14:30 Uhr, als Maik sich entschieden hat, das erste Mal eine Nachricht in diesen selbst ernannten Islamischen Staat zu schicken: »Geht es ihr wirklich gut?«, fragt er. »Und wo ist sie? Kann ich mit ihr sprechen?«, schiebt er gleich noch am Wahrheitsgehalt der Aussagen zweifelnd hinterher. Prompt bekommt er eine Nachricht zurück: »Ihr geht es sehr gut. Sie ist zu Hause.«

Zu Hause. Leonoras Zuhause ist da, wo Maik gerade ist – in Breitenbach bei Sangerhausen an den Südausläufern des Harzes. MSH – Landkreis Mansfeld-Südharz steht hier auf den Nummernschildern der Autos. Zu Hause ist hier, nicht irgendwo im Nahen Osten. »Da gehört sie doch nicht hin«, schießt es ihm durch den Kopf. Ein Satz, den Maik wiederholen wird wie ein Mantra, immer und immer wieder.

Während Maik diese ersten Nachrichten erhält, durchsuchen zwei Beamte des Landeskriminalamtes Sachsen-Anhalt Leonoras Zimmer. Als Leonora sechs Tage zuvor plötzlich verschwunden war, hatte Maik die Polizei verständigt. Nun suchen die Beamten nach Spuren und Hinweisen zu ihrem Verbleib. »Freiwillige Herausgabe« heißt das im Behördensprech. Denn die Polizeibeamten haben keinen Durchsuchungsbeschluss. Maik kooperiert. Die Kommissare sollen schließlich ihre Arbeit machen und seine Tochter zurückbringen, irgendwie. Dass die Beamten das gar nicht können – und zumindest in den weiteren Wochen und Monaten auch gar nicht beabsichtigen –, auch das ahnt er damals noch nicht.

Vor einer Woche hatte Leonora das letzte Mal in ihrem Zimmer übernachtet. Es schien alles normal damals. Aber auch da ist sich Maik jetzt nicht mehr so sicher. Alles um ihn herum fühlt sich an wie eine Wolke. Ein Leben im Nebel. Undurchsichtig. Verschwommen. Dumpf. Über das Wochenende wollte Leonora angeblich zu ihrer leiblichen Mutter Babette ein paar Dörfer weiter. Da kam sie aber nie an. Auch das gehörte anscheinend schon zum Plan, ausgetüftelt bis ins kleinste Detail, wie Maik später berichtet:

Am nächsten Morgen bin ich von der Arbeit gekommen und da hab' ich noch ihre Fußspuren im Schnee gesehen und die Spuren von den Rollen vom Koffer. Wir wussten ja, dass sie in der Schule eine Theateraufführung haben, dafür brauchte sie diesen Koffer. Den hatten wir extra noch vom Boden heruntergeholt für sie. Und da dachte ich noch so: Gott sei Dank hat sie den Koffer nicht vergessen mit in die Schule zu nehmen.

Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie damit verschwindet. Wir waren ja wirklich felsenfest der Meinung, dieser Koffer ist für diese Schulaufführung.

Meine Frau hatte wie üblich die ganze Zeit über Kontakt mit Leonora per WhatsApp. Als sie dann etwas zurückschreiben wollte, hat Leonora dann irgendwann nicht mehr geantwortet. Da war das Profil gelöscht. Also das Profilbild war weg und wenn man darauf drückte, kam einfach keine Anzeige mehr. Das war ganz außergewöhnlich, weil online zu sein war ihr immer ganz wichtig. Dass sie mal nicht online war oder dass der Akku mal alle war, das kam schon vor, aber dass das ganze Profil weg war? Das war der Moment, wo wir gesagt haben: Da stimmt irgendwas nicht.

Wir haben dann ihre leibliche Mutter angerufen, doch die antwortete, dass Leo nicht bei ihr sei. Sie hatte ihr erzählt, es gehe ihr nicht gut und sie wolle deshalb zu Hause bleiben. Und dann haben wir Emine* (*Name geändert) angerufen, ihre beste Freundin, bei der Leonora viel Zeit verbracht hat.

Und Emine sagte gleich: »Wie? Nee, die kann nicht bei mir sein, ich bin gerade im Krankenhaus.« Scheiße, hab' ich da gesagt.

An diesem Freitag, dem 6. März, war es früh dunkel geworden. Als es nach einer Zeit des Abwartens immer noch keine Nachricht von Leonora gibt, beschließt Maik, die Polizei zu alarmieren. Er wählt die Nummer der örtlichen Dienststelle in Sangerhausen. Der Beamte in der Leitung bittet Maik, zum Revier zu kommen und sicherheitshalber eine Vermisstenanzeige aufzugeben, auch wenn sich Jugendliche wie Leonora erfahrungsgemäß schnell wieder einfänden.

Die Straße hinab in die Kleinstadt schlängelt sich durch den dichten Wald. Die vielen Schlaglöcher zwingen Maik, langsam zu fahren. Wieder und wieder geht er alles durch. Sein Kopf ist voll. Er frisst die Informationen in sich hinein, vermag sie aber nicht in eine Ordnung zu bringen. Wie ein großes Wollknäuel, bei dem es keinen Anfang und kein Ende zu geben scheint. Maik greift in seinen Gedanken nach den Fäden, doch die schnipsen einfach immer wieder zurück. Er kann keinen festhalten, bevor er schon zum nächsten Gedankenfaden springt.

Der betagte Kriminalbeamte auf der Wache tippt mit dem Ein-Finger-Prinzip die Vermisstenanzeige in den Computer. Die Anzeige trägt die Vorgangsnummer SGH RK KrimD 1/928/2015, samt einer kurzen Personenbeschreibung von Leonora: »Scheinbares Alter ca. 16, Größe: 168 cm, schlank, lange brünette Haare, braune Augen // Bekleidung: Anorak blau-grau mit Fellkragen und Kapuze, Sportschuhe Nike. // Vermisste Person führt einen lilafarbenen Hartschalenkoffer mit Rollen bei sich.«

Noch am selben Abend meldet sich Leonoras beste Freundin Emine aufgeregt bei Maik. Sie chatte gerade mit seiner Tochter, erzählt sie Maik

Erst haben sie hin und her geschrieben, das hat sie uns dann auch immer gleich weitergeschickt per Screenshot. Leonora hat gelogen und sagte zu Emine, sie sei mit ihrer Mutter in die Pizzeria essen gegangen. Und Emine hat dann irgendwann geschrieben: Hör auf, mich anzulügen! Ich weiß, dass du nicht bei deiner Mutter bist. Also sag mir jetzt die Wahrheit.

Leonora benutzt nach der Löschung ihres Accounts eine türkische Telefonnummer. Emine erkennt das sofort, schließlich ist ihre Familie kurdisch und stammt ursprünglich aus der Türkei. Emine war dort schon häufig zu Besuch bei Verwandten. Über einige Stunden chatten die Freundinnen miteinander:

Emine: Leo ich raste hier noch aus. Sag mir wo du bist. Was machst du für Sachen?

Leonora: Mir geht es schlecht. Ich möchte den Islam richtig praktizieren und das geht zu Hause momentan nicht. Deswegen bin ich über das Wochenende weg.

Emine: Sag mir doch wenigstens wo du bist! Mann Leo, du weißt, du kannst jederzeit zu mir!

Leonora: Ich vertraue dir jetzt zu 100%

Emine: Du kannst mir vertrauen zu 1 000 000%

Leonora: Wirklich? Egal was ist? Und egal wo ich bin?

Emine: Was ist los? Was ist passiert?

Leonora: Ich bin nicht in Deutschland. Sondern in der Türkei.

Emine: Ist das dein Ernst???? Was machst du da? Bist du verrückt?

Leonora: Ich bin in einem Hotel mit anderen. Elhamdulillah [Gott sei Dank], dass ich dich habe. Wirklich. Ich habe ja keinen Streit mit meinen Eltern. Alles läuft gut. Aber ich will anders leben! Ich muss mich total verstellen. Ich führe voll das Doppelleben ...

Emine: Hast du dich bei deinem Papa gemeldet?

Leonora: Er denkt ich bin bei meiner Mutter.

Emine: Nein! Weißt du wo er gerade ist? Er sitzt bei der Polizei.

Leonora: Wirklich?

Emine: Ich hab ihn gerade angerufen. Er leidet total!

Leonora: Ich will nicht, dass er leidet. Es tut mir alles so leid.

Emine ist geschockt. Leonora in der Türkei? Weil sie islamisch leben möchte? Emine versucht Leonora anzurufen. Irgendwie muss sie ihre Freundin doch überzeugen können, wieder nach Hause zu kommen! Nach einigen vergeblichen Versuchen kommt tatsächlich ein kurzes Gespräch zustande. Emine schildert es am darauffolgenden Tag so: »Ich habe ihr gesagt, dass sie jetzt genau sagen soll, wo sie ist, und sie hat nur geantwortet, dass alles gut ist, und aufgelegt. Dabei hat sie geweint. Danach war sie nicht mehr erreichbar.«

Schon seit einiger Zeit hatte sich Leonora für den Islam interessiert. Emine wusste das. Sie sprachen oft darüber, und die Freundin konnte Leonora hilfreiche Hinweise geben. Schließlich ist sie selbst gläubige Muslima. Auch Maik und die Familie wussten von Leonoras Interesse. Maik hatte sie sogar ermutigt, einen deutschsprachigen Koran zu kaufen, damit sie verstehen kann, was darin geschrieben steht. Einen Konflikt über den Glauben oder das Leben als gläubige Muslima hatte es bei ihnen zu Hause in Breitenbach nie gegeben.

Als Maik die Zeilen des Chats zwischen Leonora und ihrer Freundin liest, macht er sich große Sorgen. Was, wenn seine Tochter von der Türkei aus in den Islamischen Staat reisen will? Noch ist es nur eine dunkle Vorahnung. Gewissheit wird er erst eine Woche später erhalten, wenn sich ihr neuer Ehemann meldet. Zunächst einmal macht er sich Vorwürfe. Hätte er nicht besser auf Leonora aufpassen müssen? Aber worauf aufpassen oder beschützen, wenn er nicht weiß, vor wem oder vor was? Vater und Tochter hatten eine gute, eine innige Beziehung. Was hat er verpasst? Warum hat sich Leonora ihm nicht offenbart? Es hätte doch Wege gegeben. Zusammen hätten sie doch eine Lösung gefunden!

Auch schulisch gab es keinerlei Anzeichen, dass sie sich jetzt mehr für den Islam interessiert als für Mathe, gar nicht, keinerlei Hinweise. Es war noch extra aufs Zeugnis geschrieben worden, dass Leonora sozial sehr engagiert ist. Sie hat im Pflegeheim alten Leuten vorgelesen, sie hat in der Schülerband mitgespielt und sie war Klassensprecherin.

Leonora musste nicht integriert werden. Sie wurde hier im Südharz geboren und ist hier aufgewachsen. Auch ihre Mutter Babette und Vater Maik kommen aus der Gegend. Maik hatte schon einmal davon gehört, dass sich junge Leute auf den Weg machen nach Syrien und in den Irak. Sie wollten in den Dschihad, hieß es, in den Heiligen Krieg. Aber solche Problemfälle waren weit weg, hatten nichts mit ihm zu tun. Diese jungen Leute kamen aus großen Städten und hatten meistens einen Migrationshintergrund. Leonora kommt aus einem Dorf mit 190 Einwohnern. Die nächste Moschee liegt von Breitenbach mehr als 50 Kilometer entfernt. Und dennoch ist sie fortgegangen. In ein Leben im Islamischen Staat, mit täglicher Gewalt, mit Morden auf den Straßen und mit beinahe täglichen Bombenangriffen einer internationalen Koalition, angeführt von den Hightech- Bombern der USA.

Leonora wollte nicht die Familie verlassen, nicht den Vater, nicht ihre geliebten Hunde, die Pferde. Und dennoch wollte sie weg. Monate später wird sie ihrer Freundin Emine eine Nachricht schreiben und über ihre letzte Nacht in Breitenbach berichten.

Oh Gott ... muss gerade an den letzten Abend denken. Wie ich mit Absicht zehn Sachen im Wohnzimmer gelassen habe, um immer wieder runterzugehen, damit ich Papa immer wieder gute Nacht sagen konnte ... Und wie ich Koffer gepackt habe ... Und einfach nur geheult habe....

Als Maik diese Zeilen später liest, beginnt er heftig zu weinen. Sein Schmerz sitzt so tief, die Enttäuschung. Vor allem, von seiner Tochter so belogen worden zu sein und es nicht zu bemerken.

Als Leonora geht, hinterlässt sie ihren Laptop und ihr Tablet auf dem Bett. Fein säuberlich zurechtgelegt, präsentiert beinahe, damit die Eltern sie rasch finden können. Auf einem kleinen Zettel hatte sie noch das Passwort für den Rechner notiert, »Kinderzimmer«, und mit Klebestreifen auf die Plastikverkleidung geklebt.

Maik ist ein technischer Analphabet. Er hat Sorge, etwas zu übersehen oder einen wichtigen Hinweis im Labyrinth des Computers nicht zu finden, eine Spur etwa, wo Leonora sich aufhält, welche Pläne sie genau hat. Vielleicht findet sich ein Aufenthaltsort oder ein Kontakt, mit dessen Hilfe er seine Tochter finden und wieder nach Hause bringen kann. Zwei Tage sind seit Leonoras Verschwinden inzwischen vergangen. Mithilfe eines computererfahrenen Freundes untersucht er die Geräte. Wie Detektive spüren sie durch die Dateien und Fotos. Es sind viele, sehr viele. Die Polizei wird später Tausende Fotos auf dem Rechner entdecken. Die allermeisten ohne jede weiterbringende Spur. Nach einigem Suchen finden die beiden eine nicht versendete E-Mail, sie liegt noch im Ordner »Entwürfe«. Schnell stellt sich heraus: Auch der Inhalt ist unvollendet. Leonora hatte entweder keine Zeit mehr, die Mail zu versenden, oder ihr fehlte der Mut. Denn die Mail war für Maik bestimmt. Es ist eine Art Abschiedsbrief an den Vater:

Hallo Papa,

wie Ihr jetzt sicherlich bemerkt habt, bin ich nicht mehr da und erreichbar!

Ich bin ausgewandert! Bitte macht euch keine Sorgen! Es ist zu 100% nicht eure Schuld ... Ich liebe euch sehr!! Ich habe sehr lange darüber nachgedacht und alles gut geplant, damit alles gut geht und ich gut leben kann. [...] Macht euch jetzt keine Vorwürfe, denn ihr seid nicht daran schuld, dass ich gegangen bin. NIEMAND ist daran schuld. Ich habe mich damals für den

(Continues…)


Excerpted from "Leonora"
by .
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Table of Contents

Die Autoren / Das Buch,
Titelseite,
Impressum,
Vorwort von Georg Mascolo,
Die erste Nachricht,
Kindheit im Grünen,
Das Doppelleben,
Der Ehemann und die Nebenfrauen,
Die Frauen des Kalifats,
Alltag im Kalifat,
Treffen mit al-Qaida,
Abu go!,
Die Todesnachricht,
Die Sklavin,
Das Kalifat im Niedergang,
Unternehmen Flucht – die Zweite,
Stalingrad Baghouz,
Moment verpennt,
Leonora – leibhaftig,
Danksagung,
Bilder,
Social Media,
Vorablesen.de,

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