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Karlo Kölner wollte sich schon wieder umdrehen, um sein unterbrochenes Frühstück fortzusetzen, da sah er den Sensenstiel hinter einem anderen Grashügel hervorragen. Eigentlich sollte die Sense ja im hinteren Teil des Gebäudes stehen. Hatte ihm Kuhl gesagt, als er ihn bat, doch mal die Wiese zu mähen. Sozusagen als Mietzins. Was Karlo als pünktlicher Zahler dann auch gemacht hatte. Er hatte die Sense wieder an ihren Platz gestellt. Und da stand sie gestern Abend auch noch. Oder? Karlo kannte sich und seine Schlampigkeit wohl selbst am besten. Vielleicht hatte er es ja auch vergessen. Er wurde unsicher. Aber wenn es denn so wäre, müsste das ja keiner erfahren. Vor allem nicht Kuhl. Wolfhard Kuhl war dreiundfünfzig Jahre alt, und er war nicht nur Besitzer eines überaus beachtenswerten Leibesumfanges, sondern auch noch der stolze Eigner dieser Sense. Ein wunderbares Gerät, wie er immer wieder beteuerte. Aus alten DDR-Beständen, eine echte Arbeiter-und-Bauern-Sense, wie sie heutzutage leider nicht mehr hergestellt würde. Immer wieder selbst gedengelt und geschärft. Kuhl würde niemals einen modernen Rasenmäher einsetzen. Viel zu teuer diese Dinger, und viel zu schnell kaputt. Und die kleine Wiese war genau das richtige Einsatzgebiet für das betagte Schneideutensil. Also näherte sich Karlo verwundert der Sense, um sie aufzuheben. Kurz davor zuckte er zusammen und blieb wie versteinert stehen. Und auch jeder andere, der die Szene hätte begutachten können, hätte schwere Zweifel am fachgerechten Einsatz des nostalgischen Gartenwerkzeugs gehabt. Das ostdeutsche Kultgerät steckte tief im Hals einer sehr kleinen, aber wie es schien, auch sehr toten blonden Frau. Kölner wagte zuerst nicht, sich zu bewegen. Sein Leben lang hatte er geglaubt, ein hartgesottener Bursche zu sein. Jetzt waren immerhin Zweifel angebracht. Mit trockenem Mund ging er in die Knie und streckte die Hand aus.