Ichigo-ichie: Die japanische Kunst, den perfekten Moment zu nutzen

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Ichigo-ichie: Die japanische Kunst, den perfekten Moment zu nutzen

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Overview

In ihrem neuen Buch zeigen uns die internationalen Bestseller-Autoren García und Miralles, wie wir die Einzigartigkeit eines Moments erkennen und als Chance nutzen können. Sie erinnern uns daran, dass wir eine Gelegenheit beim Schopf packen müssen, sobald sie sich bietet, denn es gibt ein- und dieselbe Situation nie ein zweites Mal. Selbst wenn wir einen Menschen zweimal am selben Ort treffen, hat uns inzwischen doch die Zeit verändert, so kurz der Abstand zwischen den Treffen auch gewesen sein mag. Mit der japanischen Kunst des Ichigo-Ichie lassen wir uns nie mehr Chancen entgehen und schätzen zufällige Begegnungen und kleine Momente des Alltags wie nie zuvor.


Product Details

ISBN-13: 9783843721516
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 08/30/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 208
File size: 4 MB
Language: German

About the Author

Héctor García (Kirai) wurde 1981 in Spanien geboren. Nachdem er als Informatiker in der Schweiz gelebt hat, zog er 2004 nach Tokyo, Japan, wo er in der Software- Entwicklung tätig ist.

Héctor García (Kirai) wurde 1981 in Spanien geboren. Nachdem er als Informatiker in der Schweiz gelebt hat, zog er 2004 nach Tokyo, Japan, wo er in der Software- Entwicklung tätig ist.


Francesc Miralles ist ein Multitalent. Er macht Musik, schreibt, wurde vielfach ausgezeichnet, und arbeitete einige Jahre als Indie-Verleger. Heute ist er in seiner Lieblingsstadt Barcelona zu Hause.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Kaika und Mankai

Wer das Land der aufgehenden Sonne kennt, weiß, dass es dort im Frühjahr, zur Zeit der Sakura, der japanischen Kirschblüte, am schönsten ist.

Auf der subtropischen Inselgruppe Okinawa, auf der wir unsere Studie für das Buch Ikigai durchgeführt haben, setzt die Kirschblüte bereits im Januar ein. In den großen Städten Japans kann man sie zwischen Ende März und Mitte April erleben, während sich ihr Beginn auf der kälteren Insel Hokkaido bis in den Mai hinein verzögert.

Alljährlich verfolgen die Japaner mit großem Interesse die amtlichen Vorhersagen, um zu erfahren, wann die Sakura ihre weißen Blütenblätter zeigen wird, die nicht nur schön anzusehen sind, sondern auch voller Symbole stecken, auf die wir in diesem Kapitel näher eingehen wollen. Die sogenannte »Kirschblütenfront« wandert von Süden nach Norden, und jede Stadt hat ihren eigenen »Referenzbaum«, der den Beginn dessen ankündigt, was zu einem regelrechten Volksfest geworden ist, an dem die gesamte Bevölkerung teilnimmt.

In ganz Japan gibt es sechsundneunzig »Referenzbäume«, die das Aufbrechen der Blüten, den sogenannten Kaika, anzeigen. In Ky?to zum Beispiel steht dieser Baum im Garten des städtischen Wetteramtes. Jeden Morgen geht ein Angestellter hinaus, um zu prüfen, ob die Knospen sich bereits geöffnet haben. Am Tag, an dem es so weit ist, wird die Meldung im ganzen Land verbreitet.

Hanami

Sobald sich die Ankündigung der beginnenden Blüte, das Sakura zensen, erfüllt, strömen die Japaner hinaus in die Parks zum sogenannten Hanami, das »Blüten betrachten« bedeutet.

Schlendert man in dieser Zeit des Jahres durch einen Park, stößt man auf Gruppen von Büroangestellten, die unter den blühenden Kirschbäumen stehen, auf Familien, die in fröhlicher Stimmung spazieren gehen, oder Verliebte, die einander vor den blühenden Bäumen fotografieren.

Das Zelebrieren der Natur und der Erneuerung des Lebens – und der Hoffnungen – ist eine alte Tradition: Aus Chroniken geht hervor, dass bereits im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Hanami-Feste stattfanden.

Nach Sonnenuntergang wird weitergefeiert, man zelebriert das sogenannte Yozakura, die »nächtlichen Kirschbäume«. Sobald die Dämmerung einsetzt, werden traditionelle Lampions angezündet und in die Bäume gehängt, und die vielen Lichter tauchen Parks und Gärten in eine magische Atmosphäre, wie man sie aus den Zeichentrickfilmen des Studio Ghibli kennt.

Freundesgruppen und Paare setzen sich mit einem Glas Sake und Knabbereien unter die Bäume der abendlichen Sakura, um gemeinsam dieses Erlebnis zu genießen, das zweifellos Ichigo-ichie-Charakter besitzt, denn wenn die Blütenblätter nach wenigen Wochen fallen, muss man ein Jahr lang auf die nächste Kirschblüte warten – falls man das Glück hat, dann noch da zu sein.

Die Sakura ist der sichtbare Beweis dafür, wie flüchtig alles Schöne im Leben ist und dass man die Gelegenheit, es zu genießen, wahrnehmen muss und nicht hinausschieben darf.

Die japanischen Kirschblütenfeste beginnen offiziell mit der Kaika, dem Aufbrechen der ersten Knospen. Nach einer Woche hat sich die Blüte vollständig geöffnet, und das sogenannte Mankai ist erreicht; das Wort bedeutet so viel wie »der exakte Moment, in dem sich die Kirschblüte ganz geöffnet hat«.

Eine Woche später beginnen die Blüten von den Kirschbäumen zu fallen, was allerdings bei starkemWind oder Regen, wie wir ihn bei unserem Besuch in der Altstadt von Ky?to erlebt haben, auch früher geschehen kann.

Aber auch diesem Moment messen die Japaner besondere Bedeutung bei und haben in ihrer Sprache sogar ein Wort dafür: Das Hanafubuki – oder »Blütengestöber« – beschreibt das Davonwehen der Kirschblütenblätter, ein erhabenes Geschehen, das die Schönheit und Poesie des Vergänglichen zum Ausdruck bringt.

Die Magie des Kaika

In unserem kürzlich auf Spanisch erschienenen Buch Shinrin-yoku kommen wir auf die außergewöhnliche Geschichte von Hikari Oe zu sprechen. Der Sohn des Literaturnobelpreisträgers Kenzaburo Oe, der mit einer schweren Behinderung geboren wurde, entdeckte eines Tages, als er mit seinen Eltern durch einen Park lief, die Musik: Er hörte Vogelgesang und ahmte ihn nach.

Man könnte dies einen typischen Kaika-Moment nennen, einen Moment, in dem in einem Menschen etwas erblüht, das ihm bis dahin unbekannt war.

Das Aufbrechen einer neuen Leidenschaft besitzt einen starken Zauber, selbst wenn es bisweilen an so wenig poetischen Orten stattfindet wie im Schwimmbad eines Hotels.

So erzählt etwa der Schriftsteller Dan Brown, er habe nie daran gedacht, einen Roman zu schreiben, bis er eines Tages, im Urlaub, auf einem Liegestuhl ein Buch entdeckte, das ein anderer Badegast dort vergessen hatte.

Dan Brown hatte in jenem Hotel zusammen mit seiner Frau einen Pauschalurlaub gebucht und langweilte sich zu Tode, als ihm besagter Roman, The Doomsday Conspiracy (dt. Die letzte Verschwörung) von Sidney Sheldon, in die Hände fiel und ihm die Ferien rettete.

Kaum war er wieder zu Hause, beschloss er, selbst einen Thriller zu schreiben, und machte sich, vom Kaika erfasst, an die Arbeit. Jahre später sollte sein Roman The Da Vinci Code (dt. Sakrileg) ein internationaler Bestseller werden und ihn zum Millionär machen.

Besonders präsent ist der Kaika am Beginn einer Liebesgeschichte. Wie die sich öffnende Kirschblüte, die das Frühjahr einläutet, überwältigt uns plötzlich ein Mensch, der noch einen Augenblick zuvor für uns nicht existierte, und wird zum Mittelpunkt unseres Lebens.

In den geheimnisvollen Gefilden der Liebe kann ein solches Aufblühen ganz unerwartete Gründe haben. Warum verliebt man sich in jemanden?

Befragt man Menschen zu jenem unvergesslichen Augenblick, in dem für sie ein neues Leben begann, bekommt man Antworten wie diese zu hören:

&149; »Als ich zum ersten Mal seine Stimme hörte, stockte mir der Atem.«

&149; »Wegen ihres schüchternen und zugleich so empfindsamen Blicks wollte ich ihre innere Welt kennenlernen.«

&149; »Ich habe mich in die Behutsamkeit verliebt, mit der er aufsammelte, was mir soeben kaputtgegangen war.«

All dies sind Ichigo-ichie-Momente, einzigartige Augenblicke, die, wenn es uns gelingt, sie einzufangen und wertzuschätzen, unser ganzes restliches Leben zum Leuchten bringen können.

Die Mankai-Formel

Wenn der Kaika unser Leben verwandelt, möchten wir es zum Mankai machen, das heißt, wir wünschen uns, es möge reifen, damit das, was in uns aufgebrochen ist, sich in seiner ganzen Fülle entfalten kann. Hier ein paar Beispiele:

&149; eine verliebte Person, die beschließt, den Garten ihrer Beziehung an schönen wie an schlechten Tagen zu pflegen, damit er immer prächtig gedeiht;

&149; der angehende Autor, der, nachdem ihm die Idee für ein Buch gekommen ist, täglich einen festen Arbeitsplan einhält, um sein Werk zu vollenden;

&149; der Unternehmer, der hartnäckig an einem Projekt festhält, damit es keine Eintagsfliege bleibt, und sich kontinuierlich um Verbesserung und Innovation bemüht.

In der Regel muss man einen langen Weg zurücklegen, damit eine knospende Idee sich voll entfaltet oder eine Berufung zur Meisterschaft führt. In diesem Zusammenhang wird häufig die von Malcolm Gladwell aufgestellte 10.000-Stunden-Regel erwähnt, die besagt, dass nur diese Anzahl an Übungsstunden vom Kaika zum Mankai führe.

Der in England geborene Journalist erwähnt in seinem Buch Überflieger als Beleg für die Richtigkeit seiner These von den 10.000 Stunden – dieser »magischen Zahl für Größe«, wie der Autor sie nennt – einige berühmte Persönlichkeiten:

&149; Bill Gates begann bereits als Zehnjähriger am Gymnasium in Seattle mit dem Programmieren. 10.000 Stunden später gelang ihm in der Welt der Informatik ein großer Coup.

&149; Die Beatles absolvierten ihre 10.000 Stunden bis zur Meisterschaft während der zwei Jahre, die sie in Hamburger Klubs auftraten. Dort machten sie täglich acht Stunden Musik, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrten und mit Love Me Do die Welt eroberten.

Gladwells Studie führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass Talent allein nicht genügt, sondern viel Mühe und Ausdauer nötig sind, damit ein Talent sich auch voll und ganz entfalten kann.

DIE KUNST DES SCHWERTSCHMIEDENS

Die für die Japaner so typische Geduld und ihre Liebe zum Detail zeigen sich in den unterschiedlichsten Bereichen. Eines der bekanntesten Beispiele ist das Sushi-Restaurant von Jiro Ono, das, obwohl es sich in der U-Bahn-Station von Ginza befindet, als eines der besten der Welt gilt. Der Sohn des Besitzers musste mehrere Jahrzehnte üben, bis er ein gutes Tamago (Omelett für Sushi) hinbekam.

Für viele Kunstfertigkeiten gibt es keine Schule, die deren besondere Geheimnisse vermittelt. Häufig wird das Wissen von einem Meister an seinen Schüler weitergegeben. Dies gilt ganz besonders für die Ausbildung jener Schmiede, die Katanas, traditionelle japanische Schwerter, herstellen.

In Japan arbeiten heute immer noch dreihundert Schwertschmiede, von denen jedoch nur dreißig ausschließlich von ihrem Handwerk leben. Jeder dieser Schmiede hat Lehrlinge, die von ihm angeleitet werden, damit die Kunst der Fertigung scharfer Schneiden nicht verloren geht.

Ihre Zahl ist vergleichbar mit jener im Barcelona des Mittelalters, als es dort noch fünfundzwanzig Schwertschmiede gab. Das Schmieden von Schwertern lässt sich nicht aus Büchern oder in Akademien erlernen. Um diesen Beruf zu beherrschen, muss man mindestens zehn Jahre bei einem der dreihundert Meister gearbeitet haben. Länger als für jeden akademischen Beruf!

Warum ist es so schwer, ein gutes Katana zu schmieden? Wir wollen hier nicht auf Details eingehen, sondern lediglich festhalten, dass das Verfahren der Herstellung von gutem Stahl ebenso kompliziert – wenn nicht gar komplizierter – ist wie das der Herstellung eines guten Sushi-Omeletts.

Was die Katanas unter anderem so hochwertig macht, ist der geringe Kohlenstoffanteil ihres Stahls, der dennoch seine speziellen Eigenarten bewahrt. Die besten japanischen Schwertklingen haben einen Kohlenstoffanteil von nur 1 bis 1,2 %, ein äußerst schwer zu erzielender Wert. Die Klinge muss drei Tage bei einer Temperatur zwischen 1.200 und 1.500 Grad im Ofen liegen, bis der Meister intuitiv den Moment bestimmt, in dem das gewünschte Verhältnis erreicht ist.

Das traditionelle japanische Schwert symbolisiert Kraft, Ausdauer und Schlichtheit, da nichts an ihm überflüssig ist. Die Schmiede bemühen sich, exzellentes Material herzustellen und es anschließend mit dem Hammer so lange zu bearbeiten, bis es die größtmögliche Dichte besitzt.

Was die Schmiede der Katanas – die in Japan als »Nationalschätze« gelten – uns für das Leben lehren, ist ihr Grundsatz, so lange alles Unnötige zu beseitigen, bis man zum Wesentlichen gelangt. Darin liegen Schönheit und Kraft, und beides erreicht man nur mit Geduld und Ausdauer.

Bezüglich Gladwells Thesen meldeten sich einige kritische Stimmen, wie etwa die des US-amerikanischen Psychologen Daniel Goleman, der behauptete, Beharrlichkeit allein garantiere noch nichts, da in bestimmten Bereichen bestimmte außergewöhnliche Talente unerlässlich seien. Darauf Gladwell:

»Die 10.000-Stunden-Regel lässt sich nicht auf jeden beliebigen Leistungssportler anwenden. Praxis allein ist keine ausreichende Bedingung für Erfolg. Ich könnte hundert Jahre Schach spielen, und doch würde aus mir niemals ein Schachweltmeister. Auf jeden Fall ist aber selbst bei angeborenem Talent eine enorme Investition an Zeit notwendig, damit es sich manifestiert.«

Übertrüge man diese Aussage in eine Gleichung mit japanischen Begriffen, wäre deren erster Teil das Ikigai, das Herausfinden dessen, was uns begeistert und uns gut gelingt.

Nach entdeckter Mission würde der Kaika folgen, der uns bisweilen am schwersten fällt: drängende Erwartungen anderer zu ignorieren, um unserer eigenen Leidenschaft Raum zu geben, damit das, wofür wir glauben, geboren zu sein, aufkeimen kann.

Der dritte Teil der Formel bestünde darin, diesen Weg geduldig weiterzuverfolgen und uns immer wieder selbst zu beflügeln, bis wir das Mankai erreicht haben.

Zusammengefasst sähe die Formel so aus: Ikigai + Kaika + Zeit = Mankai.

Wenn wir unser Talent entdecken, uns erlauben, es umzusetzen und zu einer lebenswichtigen Priorität zu machen, wird unsere Passion sich entfalten und uns und auch andere glücklicher machen.

Zum Erblühen ist es nie zu spät

Die Vorstellung, etwas Neues anzufangen oder aufzubauen, verbinden wir meist mit jungen Menschen, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben. Doch dieser Gedanke entspringt aus einem Vorurteil. Jeder Mensch hat, unabhängig von seinem Alter, die Fähigkeit, im Leben noch einmal durchzustarten.

Sogar ein alter Mensch kann entscheiden, unter das Bisherige einen Schlussstrich zu ziehen und sich neu zu erfinden, da auch er sein ganzes Lebenvor sich hat. Es kommt nicht darauf an, wie viele Jahre uns noch bleiben, sondern was wir mit der uns verbleibenden Zeit anfangen.

In Japan erlebt man nicht selten, dass jemand sich nach dem Ende seines »offiziellen« Berufslebens eine vollkommen neue Existenz aufbaut. Menschen, die den größten Teil ihres Lebens im Büro verbracht und dort für das Wohl ihrer Firma gearbeitet haben, übernehmen nun Verantwortung für ihr eigenes Leben, und solange ihre Kräfte es zulassen, trotzen sie – als rüstige Jedis – dem Alter und machen etwas, wovon sie schon immer geträumt haben.

In kleineren Bahnhöfen etwa begegnet man nicht selten achtzigjährigen oder noch älteren Touristenführern, die den Ankommenden anbieten, sie über die Sehenswürdigkeiten der Region zu informieren und ihnen Auskünfte zu Busfahrplänen und Wanderrouten zu geben.

So wird man zum Beispiel bei der Ankunft im Bahnhof von Yudanaka, einem Ort mit Thermalbädern – Onsen – und Ausgangspunkt für die Besichtigung der Schneemakaken von Nagano, von zauberhaften alten Menschen empfangen, die glücklich sind, im Kontakt mit Wanderern aus aller Welt ihr Englisch praktizieren zu können.

In Okinawa haben wir während unserer Erforschung des Ikigai von den Meistern des langen Lebens Folgendes gelernt: Wenn man es wagt, das zu tun, was man liebt, kann man jeden Tag zum besten Tag seines Lebens machen.

Zwei Beispiele für late bloomers

Mit diesem englischen Begriff, der dem deutschen »Spätzünder« entspricht, sind Menschen gemeint, die ihr Talent, mitunter sogar ihr Ikigai, die Leitlinie ihres Lebens, erst in fortgeschrittenem Alter entdecken.

Der herrschenden Meinung zum Trotz, ein Mensch erreiche als junger Erwachsener den Gipfel geistiger Blüte und verliere ab der Reife zunehmend seine intellektuellen Fähigkeiten, verbessert und erneuert der late bloomer sich unaufhörlich und nutzt sein angesammeltes Wissen, um stets eine Sprosse höher zu steigen und sich neuen Herausforderungen zu stellen.

Wir wollen Ihnen hier anhand zweier beeindruckender Beispiele zeigen, dass es für große Leistungen keine Altersgrenze gibt.

Im ersten Fall geht es um die Philippinin Melchora Aquino de Ramos, die vierundachtzig Jahre alt war, als die Revolution ausbrach, welche zur Unabhängigkeit ihres Landes führte. Statt sich verängstigt zurückzuziehen, brachte sie in einem ihr zur Verfügung stehenden kleinen Lagerraum Verletzte und Flüchtlinge unter und stand den Revolutionären in ihrem bescheidenen Hauptquartier, wo diese ihre geheimen Treffen abhielten, mit Rat und Tat zur Seite.

Die subversiven Aktivitäten der alten Frau entgingen der Kolonialmacht nicht. Sie wurde festgenommen, man verhörte sie und versuchte, ihr Informationen über die Revolutionsführer zu entlocken, Melchora Aquino aber schwieg eisern und wurde daraufhin auf die Marianen deportiert.

Nachdem die Vereinigten Staaten 1898 die Kontrolle über die Philippinen erlangt hatten, kehrte Melchora als Volksheldin in die Heimat zurück und wurde mit dem Titel Grand Woman of the revolution (Große Frau der Revolution) geehrt. Sie engagierte sich noch weitere zwanzig Jahre aktiv in der Umgestaltung ihres Landes und starb im hohen Alter von hundertsieben Jahren.

Besser noch eignet sich das Feld der Kunst für die Aktivitäten von late bloomers. Der gebürtige Brite Harry Bernstein hatte mit vierundzwanzig Jahren eine Erzählung veröffentlicht, begann aber erst mit dreiundneunzig Jahren, seinen ersten Roman zu verfassen: The Invisible Wall (dt. Gegenüber die andere Welt). Er schaffte es, das Buch zu beenden, das 2007, als er selbst bereits sechsundneunzig Jahre alt war, veröffentlicht wurde.

Aus Anlass dieses im hohen Alter errungenen Erfolgs fragten ihn die Journalisten, was ihn denn motiviert habe, noch so spät Romanautor zu werden. Er antwortete, nach dem Tod seiner Frau, mit der er siebenundsechzig Jahre verheiratet war, habe die Einsamkeit ihn dazu getrieben, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Von der Begeisterung seiner Leser stimuliert, schrieb Bernstein bis zu seinem Tod im Alter von hundertein Jahren noch drei weitere Romane und hinterließ somit ein beachtliches literarisches Vermächtnis. In einem Interview für die New York Times sagte er einmal: »Wenn Sie es schaffen, am Leben und bei guter Gesundheit zu bleiben, weiß ab Ihrem neunzigsten Lebensjahr nur der liebe Gott, welche Fähigkeiten noch in Ihnen schlummern.«

(Continues…)


Excerpted from "Ichigo-ichie"
by .
Copyright © 2018 Francesc Miralles and Héctor García.
Excerpted by permission of Ullstein Buchverlage.
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Table of Contents

Über das Buch/ Über die Autoren,
Titel,
Impressum,
Zitat,
In einem alten Teehaus,
Ichigo-ichie,
TEIL I: Die Schönheit des Vergänglichen,
Kaika und Mankai,
Und Sie? Wo leben Sie?,
Zensationen,
Dukkha und Mono no aware,
TEIL II: Gelebtes Ichigo-Ichie,
Die Zeremonie der Achtsamkeit,
Die Kunst des Zuhörens,
Die Kunst des Schauens,
Die Kunst des Berührens,
Die Kunst des Schmeckens,
Die Kunst des Riechens,
TEIL III: Die Kleine Schule des Ichigo-Ichie,
Die Kunst der Feste,
Kollektive Achtsamkeit,
Die Rückkehr zum Jetzt,
Was wäre, wenn …?,
Die Ichigo-ichie-Formel,
Epilog: Die zehn Ichigo-ichie-Grundsätze,
Dank,
Bibliografie,
Feedback an den Verlag,
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