Ich esse, also jage ich: Wie ich vom Vegetarier zum Jäger wurde

Ich esse, also jage ich: Wie ich vom Vegetarier zum Jäger wurde

by Fabian Grimm
Ich esse, also jage ich: Wie ich vom Vegetarier zum Jäger wurde

Ich esse, also jage ich: Wie ich vom Vegetarier zum Jäger wurde

by Fabian Grimm

eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

»Viele Jahre war ich überzeugter Vegetarier. Nichts essen was Augen hat, die Tiere einfach mal in Ruhe lassen, Fleisch ist Mord – das ganze Programm. Inzwischen habe ich ein Gewehr und einen Jagdhund. Ein Widerspruch ist das für mich nicht: Jedes Leben befindet sich in einer Konkurrenzsituation zu anderem Leben.«
Fabian Grimm liebt die Natur und die Stille im Wald, er weiß alles über die Pflanzen und Tiere dort. Er war lange Zeit Vegetarier, nun isst er wieder Fleisch. Eine ganz bewusste Entscheidung. Nur, wenn er das Tier vorher selbst getötet hat, isst er es auch. In seinem Buch plädiert Fabian Grimm für einen achtsamen Konsum von Lebensmitteln und erzählt von seinem neuen Leben. Er geht durch den Wald, sammelt Beeren, Pilze und Pflanzen, jagt Wild, zerlegt es und verarbeitet alles: Fleisch, Knochen und Innereien – Für ihn eine Frage des Respekts.


Product Details

ISBN-13: 9783843721752
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/27/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 224
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Fabian Grimm ist studierter Kommunikationsdesigner und lebt mit seiner Frau in Thüringen. Seit seinem 17. Lebensjahr war er Vegetarier - bis zum dem Tag, an dem er sein erstes Tier bei der Jagd erschoss. Seitdem isst er Tiere, die er selbst getötet hat.

Fabian Grimm ist studierter Kommunikationsdesigner und lebt mit seiner Frau in Thüringen. Seit seinem 17. Lebensjahr war er Vegetarier - bis zum dem Tag, an dem er sein erstes Tier bei der Jagd erschoss. Seitdem isst er Tiere, die er selbst getötet hat.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Bitterer Vorgeschmack

Die Taube drückt sich in eine Ecke des Balkons, mehr schlecht als recht versteckt sie sich hinter dem Klappstuhl. Wir beobachten sie durch die geöffnete Balkontür. Auch sie scheint uns wahrzunehmen. Weder wir noch das Tier machen auch nur die kleinste Bewegung. Dann schließt sich ganz langsam ihr orangerotes Auge.

In der einen Hand halte ich noch ein halbes Brötchen, in der anderen einen Löffel mit Hummus. Beides lege ich auf meinen Teller, ganz vorsichtig, um jetzt bloß kein Geräusch zu machen. Tracy Chapman nimmt weniger Rücksicht und singt in unveränderter Lautstärke aus den Boxen auf dem Regal.

»Das war eine von den Krähen, oder?«

Im Flug hatte sie die Taube plötzlich bedrängt und mit dem Schnabel nach ihr gehackt. Dann ist die Taube abgestürzt.

Meine Freundin Lydia und ich sitzen bei einem späten Frühstück, das langsam in ein Mittagessen übergeht. Als wir vorhin den Tisch gedeckt haben, war es uns zum ersten Mal nach dem Sommer zu kühl, um draußen zu sitzen. Der sonnige Tag könnte einer der letzten sein, wir werden ihn nutzen: Das Buch mit per S-Bahn erreichbaren Wanderwegen rund um die Stadt liegt aufgeschlagen auf dem Tisch, daneben für jeden von uns zwei Brötchen, die nur darauf warten, als Proviant für eine lange Tour geschmiert zu werden, sobald wir den Kaffee ausgetrunken haben. Raus aus der Stadt, wie so oft in den letzten Wochen. Seit mehr als zwei Jahren wohnen wir in der winzigen Wohnung in Berlin-Mitte, direkt unterm Dach. Eigentlich sind knapp vierzig Quadratmeter fast ein bisschen zu wenig für zwei Menschen, aber solange es warm genug ist, um den großen Balkon zu nutzen, merken wir das kaum. Und wir haben hier oben Ruhe von der Stadt, den Blick auf den Fernsehturm und die bodentiefen Fenster ohne Vorhänge, weil uns außer den Tauben und Krähen sowieso niemand reinschauen kann. Die Vögel brüten auf den Dächern der Nachbarhäuser, hinterlassen überall dicke weiße Tropfen und verstopfen gelegentlich die Regenrinnen. Die Krähen haben sogar schon Essensreste vom Balkontisch geklaut. Ihr Krächzen und Gurren zu jeder Tages- und Nachtzeit nehmen wir mittlerweile genauso wenig wahr wie die Motorengeräusche der Autos, deren Fahrer unten in unserer Seitenstraße verzweifelt nach einem freien Parkplatz suchen. Oder das regelmäßige tiefe Rumpeln, wenn die Tram alle vier Minuten auf der Bernauer Straße vorbeifährt.

Vielleicht waren die Geräusche eben lauter oder besonders schrill oder drängend gewesen, ohne dass ich mich bewusst daran erinnern könnte. Jedenfalls müssen sie auf irgendeine Weise unsere Aufmerksamkeit geweckt haben, sonst hätten wir sicher nicht auf die Vögel geachtet, den kurzen Kampf in der Luft nicht beobachtet und die Taube wohl erst bemerkt, als sie mit einem schrecklichen Klatschen unmittelbar vor uns auf den Balkon stürzte.

Lydia ist schon aufgestanden und steht zögernd an der Balkontür. Ich folge ihr. Einige fluffige weiße Daunen kleben auf dem Holzboden. Die Spitze eines Flügels ragt ein Stück unter der Sitzfläche des zusammengeklappten Stuhls hervor. Kniend sehen wir uns die reglose Taube aus der Nähe an. Auf der Brust klafft ein Riss in dem tiefroten Fleisch, er fällt sofort ins Auge. Dort hat der kräftige Schnabel sie getroffen. Das graue Gefieder des Vogels glänzt und schimmert aus der Nähe in Blau- und Grüntönen wie poliertes Metall. Obwohl die Vögel jeden Tag um uns sind, habe ich noch nie eine Taube so genau betrachtet und bin überrascht, wie schön sie ist – von wegen »Ratten der Lüfte«. Am Bauch benetzt Blut ihre Federn. Warum die Krähe sie wohl angegriffen hat? Normalerweise leben beide Arten hier friedlich nebeneinander, einen Kampf habe ich noch nie beobachtet.

Plötzlich teilen sich die Lider und geben das rote Auge wieder frei. Die Taube lebt noch, trotz der Verletzung.

Instinktiv zucken wir beide zurück. Auch der Vogel erschrickt. Langsam zieht er die schuppigen roten Beine an den Körper. Harte Krallen kratzen ungelenk über das Holz, die Flügel schlagen einige Male, der Kopf verdreht sich. Dann wieder Ruhe. Schräg von unten starrt das rote Auge uns an. Wir versuchen uns so leise und unbemerkt wie möglich in die Wohnung zurückzuziehen, aber der Taube entgehen unsere Bewegungen nicht. Sie flattert noch einmal, bis die Federn der Flügel sich nach einigen Schlägen gegen die Wand und den Stuhl biegen.

Hilflos sehen wir zu, wie die Taube zurück gegen die Mauer kippt und wieder zusammensackt. Der kleine Körper liegt auf dem Rücken, die Flügel sind in einem grotesken Winkel ausgebreitet, und die Brust ist in den Himmel gereckt. Unter dem Hals beginnt die Wunde, sie zieht sich bis zum Brustbein. Wie tief sie ist! Einer der Flügel zeigt jetzt einen deutlichen Knick. Ist er beim Sturz gebrochen, oder war das auch die Krähe? Die Federn sind zerzaust. Der Vogel muss furchtbare Schmerzen haben. Der Anblick ist unerträglich. Erneut schlägt die Taube kraftlos mit den Flügeln.

Unwillkürlich flüstern wir nur noch. Was sollen wir jetzt mit der Taube machen? Ich wüsste nicht, wen wir um Hilfe bitten könnten. Wer kennt sich mit Tauben aus? Kann man eine Taube zum Tierarzt bringen? Wo gibt es überhaupt in Berlin einen Tierarzt – und wie schafft man einen panischen Vogel dorthin?

Die Taube überfordert uns. Im Netz sehe ich nach, was wir tun können, während Lydia die Taube im Blick behält. Es gibt tatsächlich eine Tierklinik, die auch Wildtiere behandelt und die am Wochenende geöffnet hat – allerdings ist sie in Zehlendorf, ganz am anderen Ende der Stadt. Auf der Website wird empfohlen, verletzte Vögel »in einem blickdichten Behälter, wie z. B. einem Schuhkarton« zu transportieren. Die Taube ist aber nicht an Menschen gewöhnt, schon unsere bloße Anwesenheit versetzt sie in Panik. Sie in eine Schachtel zu setzen – würde das alles nicht nur noch schlimmer machen? Und: Könnte ein Tierarzt mehr tun, als sie einzuschläfern? Die Wunde ist wirklich tief, dazu der gebrochene Flügel. Ich kann mir das nicht vorstellen. Bis nach Zehlendorf brauchen wir mit der Bahn mindestens eine Stunde und müssen mehrfach umsteigen. Ob sie das überhaupt überleben würde? Menschen, Lärm, Durchsagen, Bewegung, das alles eingesperrt in einer Schachtel – aber was sollen wir sonst tun?

Langsam komme ich zur Ruhe. Ich ertappe mich, wie ich mir unbewusst mehr Zeit lasse als nötig. Es gelingt mir, mich selbst einigermaßen zu überzeugen: Das Beste, was wir tun können, ist, die Taube in Frieden sterben zu lassen, so gefühllos das auch klingen mag. Sobald wir uns nähern, leidet sie, hat Todesangst. Lange kann es nicht mehr dauern. Den Kaffee austrinken oder duschen oder Zähne putzen oder kurz durch den Park gehen und erst später wieder nach dem Tier sehen. An etwas anderes denken.

Ist es feige und bequem, die Taube auf diese Art sterben zu lassen, oder wirklich die sinnvollste Lösung? Die Alternative wäre, ihr tatsächlich die Reise quer durch die Stadt zuzumuten. Sollen wir sie in ihren letzten Minuten so quälen, wenn sie dort ohnehin eingeschläfert werden muss?

Ich stehe auf und bewege mich vorsichtig in das Zimmer hinein, sodass ich die Taube auf dem Balkon im Blick habe. Immer noch liegt sie auf dem Rücken.

»Sie hat sich nicht bewegt, aber sie atmet, wenn man ganz genau hinsieht«, flüstert Lydia.

Das arme Tier. Eine dritte Möglichkeit, außer zu warten oder nach Zehlendorf zu fahren, gibt es. Als ich diesen Ausweg behutsam anspreche, ist sofort klar, dass Lydia den gleichen Gedanken hatte: Wir könnten das Leiden des Vogels auch selbst beenden.

An sich hätte eine halbtote Taube in ganz Berlin wohl kaum einen passenderen Frühstückstisch zum Abstürzen finden können. Noch gestern Abend haben wir auf unserem Balkon gesessen und darüber gesprochen, wie es sich anfühlen mag, wenn man einem Tier das Leben nimmt. Freut man sich, weil man sich das ja vorgenommen hat? Oder fühlt man sich schuldig? Tote Tiere sollen in einigen Monaten in unserem Leben eine wichtige Rolle spielen – Lydia und ich wollen einen Kurs zur Vorbereitung auf die Jägerprüfung besuchen. Die Entscheidung hatte eine Weile reifen müssen, ganz sicher bin ich mir dennoch nicht. Nicht in diesem Augenblick. Bislang ist nichts unterschrieben, und naheliegend ist das auch nicht: Auf unserem Frühstückstisch findet sich außer einem hart gekochten Ei und einem Eckchen Käse aus dem Bioladen nichts Tierisches, seit Jahren sind wir Vegetarier.

Trotzdem liegen neben dem Sofa mehrere Lehrbücher zur Vorbereitung für den Jagdschein, erst einmal nur so, zum Durchblättern. In einem dieser Bände steht eine Erklärung, was ein Jäger zu tun hat, falls sein Hund ihm eine noch lebende Ente bringt. Nüchtern und in knappen Worten wird der Ablauf beschrieben. Um ihn zu betäuben, schlägt man dem Vogel mit einem Knüppel gegen den Hinterkopf, danach ist er bewusstlos. Anschließend greift man um den Hals, drückt den breiten Schnabel mit dem Finger gegen die Brust und sticht mit einem schmalen Messer in den gestreckten Nacken. Das Rückgrat wird durchtrennt, die Ente ist tot. Dazu gibt es eine Grafik: Vogel in der einen Hand, Knüppel in der anderen, dazwischen beschreibt ein roter Pfeil einen Halbkreis. Der Text erklärt: Schlägt man mit dem Knüppel kräftig genug zu, ist die Ente gleich nach dem ersten Schritt tot, nach dem Betäuben. Nichtsdestotrotz sollte man das Messer bereithalten. Über die emotionale Seite steht da kein Wort.

Habe ich gegenüber Freunden oder meiner Familie erwähnt, dass ich überlege, den Jagdschein zu machen, kam fast immer als Erstes die Frage: »Und du meinst, du könntest ein Tier töten?« Ungläubige Blicke. Für die Verfasser von Jagdbüchern scheint es hingegen selbstverständlich zu sein, dass man keine Bedenken hat, einem wehrlosen Vogel das Leben zu nehmen. Eine rein technische Beschreibung des Vorgangs für Noch-nicht-Wissende scheint ihrer Ansicht nach völlig auszureichen.

Lydia sieht mich an und schüttelt den Kopf. Sie kann sich genauso wenig vorstellen wie ich, das tatsächlich bei der Taube umzusetzen. Sie leidet, das ist sicher, aber sie einfach zu packen und zu erschlagen? Vielleicht kann ein Vogel ja wie wir Menschen unter Schock stehen, sodass er eine Weile neben sich steht und sich dann doch erholt?

Wir schieben vorsichtig eine Schale mit Wasser auf den Balkon, schließen die Tür und lassen die Taube alleine.

Als wir es nicht mehr aushalten und erneut nach dem Vogel sehen, zieht sich mein Magen zusammen. Die Taube ist nicht tot. Erholt hat sie sich aber auch nicht, und das Wasser wirkt unberührt. Trotz ihrer Verletzungen hat sie es aber geschafft, sich von der Stelle zu bewegen. Sich auf den gebrochenen Flügel stützend, sitzt sie jetzt, halb gekippt, in der Mitte des Balkons. Sie ist dorthin gekrochen, blutige Flecken auf dem Holz zeigen ihren Weg. Als wir uns der Tür nähern, beginnt sie sofort wieder mit den Flügeln zu schlagen und fällt auf den Rücken. Flatternd gelingt es ihr, sich noch einmal aufzurichten. Die ganze Brust ist inzwischen rot verschmiert, und der Schnabel steht weit offen. Die obere Hälfte scheint nicht auf die untere zu passen. Die Spitze zeigt ein wenig zur Seite, als wäre sie verbogen.

»Die erholt sich nicht, nie im Leben.« Leise sage ich das, aber eindringlich, auch um mich selbst zu überzeugen. Die Taube erstarrt und blickt uns direkt an, als hätte sie mich gehört.

Lydia hat noch nie ein Tier getötet, ich schon: Der Garten meiner Eltern endet an einem Bach. Als Kind hatte ich dort stunden- und tagelang geangelt und gelegentlich tatsächlich eine Forelle gefangen. Kleinen Fischen habe ich den Haken vorsichtig aus dem Maul entfernt und sie wieder schwimmen lassen. Waren sie aber groß genug, habe ich die Forellen getötet, um sie zu essen. Mein Onkel hatte mir damals beigebracht, wie das geht.

In den Keller zu gehen, braucht eine Weile. Fünf Stockwerke die Treppen hinunter, die Tür zum Keller öffnen, dann die Kellertreppe hinabsteigen, das Vorhängeschloss zum Abteil öffnen, in unserem Chaos suchen ... Zeit, die die Taube nutzen könnte, um doch noch zu sterben. Das ist nicht gerade mutig von mir gedacht. Es wäre richtig, die Taube totzuschlagen. Es wäre das Einzige, was ich für sie tun könnte. Für sie tun kann, nicht nur könnte – weil ich es doch vom Fischen kenne. Das haben Lydia und ich doch so entschieden. Es ist falsch, zu zögern und zu warten. Kein Zweifel, nur die eigene Unsicherheit.

Ursprünglich war die viereckige Stange einmal Teil eines kleinen Regals. Das unlackierte Holz kommt mir sehr leicht und beinahe weich vor, als ich es in die Hand nehme. Reicht das? Ich nehme den Knüppel in die rechte Hand und schlage damit auf die Handfläche der linken. Kurz und trocken, nicht mit voller Kraft. Nur so fest, dass ich noch genau zielen könnte. Zielen kann. Ich will das nicht. Eine Taube ist kein Fisch. Fische sind kalt und glitschig und fremd, und sie können nicht blinzeln. Ich habe es nie gerne gemacht, klar, aber ich hatte bei den Fischen auch keine Angst davor. Es ist genau das Gleiche, genau der gleiche Ablauf. Ein Schlag auf den Nacken und dann ein Stich mit dem Messer. Das Beste für den Vogel. Verantwortung übernehmen, das war doch immer der zentrale Begriff, wenn wir über die Jagd gesprochen haben. Ich weiß, dass Lydia sich oben fragt, wo ich bleibe. »Die Taube hat es dann einfach hinter sich, bitte.«

Mit dem kurzen Kantholz und einem Paar grober Arbeitshandschuhe gehe ich zurück in die Wohnung. Berühren werde ich sie aber auf keinen Fall. Schon an Lydias Haltung sehe ich, dass die Taube noch lebt.

Vorsichtig und leise öffne ich die Balkontür. Wir hatten sie angelehnt, als ich in den Keller ging. Die Taube bewegt sich nicht, aber ihre Augen sind geöffnet, und sie sitzt jetzt ein bisschen aufrechter. Den Knüppel halte ich in der Hand. Lydia will ein scharfes Küchenmesser holen, das sie mir geben wird, falls ich es brauche. Ich hatte keine Ahnung, dass Tauben eine Zunge haben. Wie ein Stachel sieht sie aus, spitz und hart ragt sie aus dem aufgerissenen Rachen. Auch am Schnabel erkenne ich nun Blut. Wahrscheinlich innere Verletzungen. Eine Wahl habe ich nicht mehr. Unser Balkon, unsere Verantwortung. Die Taube leidet, und sie zu erlösen ist alles, was ich für sie tun kann.

Während ich die Handschuhe nochmals zurechtziehe, passiert es: Die Taube hält meine Nähe nicht aus. Erneut Panik, auf beiden Seiten. Sie schlägt mit dem gesunden Flügel, fällt vornüber, windet sich. Plötzlich fassen ihre Beine Halt im Spalt zwischen zwei Bohlen. Sie drückt sich ab, will fliegen, flattert und bleibt an der Schwelle der offenen Balkontür hängen. Sie stürzt auf das Parkett im Wohnzimmer, und bevor wir reagieren können, rutscht die Taube mehrere Meter über den glatten Boden, ziellos und völlig unkontrolliert. Bloß weg.

Zweimal gelingt es mir fast, die Taube zu fangen, doch dann verschwindet sie in einem Spalt hinter dem Sofa und kriecht kratzend an der Wand entlang. Auf dem hellen Stoff hat sie einen schwarz-roten Fleck hinterlassen, sonst ist nichts von ihr zu sehen. Ich ärgere mich über mich selbst. Die Flucht hat mich völlig überrumpelt. Berührt habe ich sie, nur nicht richtig zugegriffen. Buchstäblich zwischen den Fingern ist sie mir durchgerutscht. Habe ich sie durchrutschen lassen. Ich hatte Angst, sie zu fest zu packen oder ihr mit den groben Handschuhen Schmerzen zuzufügen.

So wird das aber nichts. Ich kann die Taube nicht sanft behandeln, wenn ich ihre Qualen endlich beenden möchte. Kurz und schmerzlos. Ich habe lange genug gezögert, getrödelt und mich gedrückt. Sie durch die Wohnung zu jagen, macht alles nur noch schlimmer. Immerhin ist das nicht in der S-Bahn auf dem Weg zur Tierklinik passiert.

Ganz hinten in die Ecke quetscht sich der Vogel, nur ein dunkler Schatten ist zu erkennen. Ich drücke das Kantholz vorsichtig in den Spalt zwischen Polster und Wand. Die Taube rührt sich nicht, selbst als der Knüppel näher kommt. Sie hat sich auf ihrer Flucht derart verausgabt, dass sie nicht mehr weiterkann. Oder beruhigt sie die Dunkelheit in ihrem neuen Versteck? Vielleicht ist sie bewusstlos? Tot?

In diesem Augenblick streckt sie sich, zappelt und hebt einen Flügel, so gut es ihr in der Enge möglich ist. Sofort sackt sie wieder ins sich zusammen. Vorsichtig berühre ich sie mit dem Kantholz, sie lässt es geschehen. Ich schiebe sie über den glatten Boden unter dem Sofa hervor. Die Krallen scharren nicht mehr panisch, sondern schaben gleichmäßig und kraftlos über das Holz.

Nochmals darf ich nicht zögern. Ich weiß, was ich tun muss: Kaum dass ich den Vogel erblicke, greife ich zu und drücke ihn mit der Hand fest auf das Parkett. Geschafft. Er wehrt sich, stemmt sich gegen meine Hand und versucht, die Flügel zu spreizen. Zu spät. Ich habe die Taube.

Raus auf den Balkon. In der einen Hand der Vogel, in der anderen der Knüppel, wie im Jagdbuch gezeigt. Wenn ich kräftig genug auf den Hinterkopf schlage, ist die Taube sofort tot. Genau zielen! Die Füße strampeln hilflos in der Luft, die Flügel pressen gegen meine Finger. Das rote Auge starrt mich an. Ich schlage zu. Mit Kraft.

(Continues…)


Excerpted from "Ich esse, also jage ich"
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