Gehört Sachsen noch zu Deutschland?: Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie

Spätestens seit den Pegida-Aufmärschen und den Exzessen von Heidenau, Freital und Chemnitz hat sich das Bild von Sachsen über die deutschen Grenzen hinaus verdunkelt. Statt an Frauenkirche, Friedliche Revolution und Gemütlichkeit denken viele jetzt an Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Der Freistaat ist zum Synonym für die Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft geworden. Wofür steht der Ruf "Wir sind das Volk!" im Jahr 2019? Droht die Abkehr der Bürger von der Demokratie? Der engagierte Bürgerrechtler und Theologe Frank Richter führte 2018 einen spektakulären Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters in Meißen. Aus eigener Erfahrung berichtet er über eine beunruhigende Entwicklung, welche die politische Landschaft der Bundesrepublik tiefgreifender verändern kann, als wir ahnen.

1131193679
Gehört Sachsen noch zu Deutschland?: Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie

Spätestens seit den Pegida-Aufmärschen und den Exzessen von Heidenau, Freital und Chemnitz hat sich das Bild von Sachsen über die deutschen Grenzen hinaus verdunkelt. Statt an Frauenkirche, Friedliche Revolution und Gemütlichkeit denken viele jetzt an Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Der Freistaat ist zum Synonym für die Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft geworden. Wofür steht der Ruf "Wir sind das Volk!" im Jahr 2019? Droht die Abkehr der Bürger von der Demokratie? Der engagierte Bürgerrechtler und Theologe Frank Richter führte 2018 einen spektakulären Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters in Meißen. Aus eigener Erfahrung berichtet er über eine beunruhigende Entwicklung, welche die politische Landschaft der Bundesrepublik tiefgreifender verändern kann, als wir ahnen.

16.99 In Stock
Gehört Sachsen noch zu Deutschland?: Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie

Gehört Sachsen noch zu Deutschland?: Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie

by Frank Richter
Gehört Sachsen noch zu Deutschland?: Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie

Gehört Sachsen noch zu Deutschland?: Meine Erfahrungen in einer fragilen Demokratie

by Frank Richter

eBook1. Auflage (1. Auflage)

$16.99 

Available on Compatible NOOK devices, the free NOOK App and in My Digital Library.
WANT A NOOK?  Explore Now

Related collections and offers

LEND ME® See Details

Overview

Spätestens seit den Pegida-Aufmärschen und den Exzessen von Heidenau, Freital und Chemnitz hat sich das Bild von Sachsen über die deutschen Grenzen hinaus verdunkelt. Statt an Frauenkirche, Friedliche Revolution und Gemütlichkeit denken viele jetzt an Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus. Der Freistaat ist zum Synonym für die Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft geworden. Wofür steht der Ruf "Wir sind das Volk!" im Jahr 2019? Droht die Abkehr der Bürger von der Demokratie? Der engagierte Bürgerrechtler und Theologe Frank Richter führte 2018 einen spektakulären Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeisters in Meißen. Aus eigener Erfahrung berichtet er über eine beunruhigende Entwicklung, welche die politische Landschaft der Bundesrepublik tiefgreifender verändern kann, als wir ahnen.


Product Details

ISBN-13: 9783843720953
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 03/15/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 128
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Frank Richter (* 20. April 1960 in Meißen) ist ein deutscher Theologe und seit dem 1. Februar 2017 in der Geschäftsführung der Stiftung Frauenkirche in Dresden. In der Friedlichen Revolution in der DDR wurde er als Gründer der Gruppe der 20 in Dresden bekannt. Auf Vorschlag des sächsischen Kultusministeriums war Richter von 2009 bis Anfang 2017 Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

Frank Richter (* 20. April 1960 in Meißen) ist ein deutscher Theologe und seit dem 1. Februar 2017 in der Geschäftsführung der Stiftung Frauenkirche in Dresden. In der Friedlichen Revolution in der DDR wurde er als Gründer der Gruppe der 20 in Dresden bekannt. Auf Vorschlag des sächsischen Kultusministeriums war Richter von 2009 bis Anfang 2017 Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Anmerkungen

Wo liegt Sachsen?

Es war Mitte der 70er-Jahre. Noch gab es die DDR. Ihre Existenz schien auf ewig gesichert, der Ostblock unerschütterlich und mächtig. Die Deutsche Demokratische Republik war der westlichste Vasallenstaat der UdSSR in Europa. Zwischen 300 000 und 500 000 sowjetische Soldaten waren in dem kleinen Land stationiert. Die Wirtschaft der DDR hatte diese Waffenbrüder und sozialistischen Freunde, wie sie offiziell genannt wurden, mitzuversorgen. Hinter vorgehaltener Hand bezeichnete man sie als Besatzer. Wer ihnen im Alltag begegnete, traf auf Menschen, die fernab ihrer Heimat zurechtzukommen versuchten, auf baldige Rückkehr warteten und für jedes persönliche Wort dankbar waren.

In meiner sächsischen Heimatstadt gab es eine große sowjetische Garnison. Meine Mutter arbeitete in einer Einrichtung, die dafür zuständig war, verschiedene Erzeugnisse der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften an die Militärs abzugeben, in erster Linie Eier und Fleisch. Wenn sie von den russischen Offiziersfrauen sprach, denen sie regelmäßig im Büro begegnete, wurde ihre Stimme weich. »Im Grunde leiden die unter ihrem Staat genauso wie wir unter unserem«, hörte ich sie sagen.

Was die Ablehnung »der Russen« als Besatzer und den Charakter der DDR als kommunistische Diktatur von Moskaus Gnaden betraf, bestand in meinem Elternhaus nicht der geringste Zweifel. Ebenso stark war jedoch das Bemühen meiner Eltern, mich zu lehren, die Menschen hinter dem politischen System zu sehen und zu verstehen. Menschen ihrer Herkunft oder Funktion wegen auszugrenzen kam nicht infrage.

Viele Russen waren gläubige Christen. Sie durften das aber nicht zu erkennen geben. Religion und Kommunismus passten offiziell nicht zusammen, schienen vielmehr wie Hund und Katze. Meiner Mutter allerdings erzählten die Russinnen von ihrer Religion. Sie, eine gläubige Katholikin, fand das ausgesprochen sympathisch. Einige der in meiner Heimatstadt stationierten Militärangehörigen kamen aus Kasachstan und Usbekistan. Ich erfuhr davon bei einem Besuch in der Kaserne, der meiner Klasse kurz vor Schulabschluss und nur ein einziges Mal erlaubt worden war. Uns wurde hinter vorgehaltener Hand angedeutet, dass es sich bei den Kasachen und Usbeken um Muslime handelte. Es waren die ersten leibhaftigen Muslime meines Lebens. Auch sie durften sich nicht zu ihrer Religion bekennen.

Schon als Jugendlicher wurde mir klar, dass es sich bei der deutschen Teilung um ein politisches Zwangsregime handelte, das vom sowjetischen Militär aufrechterhalten wurde und unter dem keineswegs nur die Deutschen zu leiden hatten. Mir wurde nach und nach bewusst, dass sich unter der Decke ideologischer Einheitlichkeit eine große Vielfalt verbarg. Würde das Regime verschwinden, würde sich der deutsche Teilstaat DDR gewiss auflösen und in Richtung Westen abwandern. Die DDR war deutsch und sie war ein Staat des Ostblocks. Land und Leute lebten in Nachbarschaft zu den Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen und Bulgaren. Diese Nachbarschaft war politisch aufgeladen. Ihr offizieller Name lautete Völkerfreundschaft. Zugleich war sie geografisch naheliegend und menschlich real. Sie begünstigte den kulturellen Austausch. Das pflichtgemäße Erlernen der russischen Sprache war mühsam, die Lektüre der großen Romanciers Dostojewski und Tolstoi in deutscher Sprache hingegen ein Genuss.

Ich habe gelernt, in der Ambivalenz meines persönlichen DDR-Daseins einen Erfahrungsreichtum zu erkennen. Mitten durch Deutschland verläuft die unsichtbare Grenze zwischen West- und Osteuropa. Für beide Seiten habe ich gute Gefühle entwickelt. Ich habe mich westlich orientiert und bleibe verwurzelt in einem Land, das von der Liberalisierung, Pluralisierung und Amerikanisierung nicht in gleichem Maß verändert wurde wie der Westen der Republik.

»Europa muss mit beiden Lungenflügeln atmen.« Diese Karol Wojtyla zugeschriebene Metapher leuchtet mir ein. Die Vorliebe des Westens, den Einzelnen zum Ausgangspunkt politischer Überlegungen zu machen und das Gemeinwohl von ihm abzuleiten, ist mir sympathisch. Sie entspricht meinem Freiheitsdrang, den ich lange unterdrücken musste. Die Betonung der Individualität, die westliche Liberalität und die akzeptierte Pluralität der Lebensentwürfe faszinieren mich. Aber auch die Vorliebe des Ostens, der Gemeinschaft den Vorrang einzuräumen und das Wohl des Einzelnen in ihr aufgehoben zu wissen, ist mir vertraut. Sie ist nicht weniger wertvoll. Bei Umfragen in den neuen Bundesländern belegen Frieden, Zusammenhalt und Solidarität regelmäßig vordere Plätze. Es hat den Anschein, als reduzierten die Ostdeutschen ihre individuellen Ansprüche mit Verweis auf das gemeinschaftliche Ganze, noch bevor sie diese Ansprüche erhoben haben.

Beim Besuch orthodoxer Gottesdienste empfinde ich menschliche Wärme und Geborgenheit. Die Teilnehmer verhalten sich still, diszipliniert und rücksichtsvoll. Sie küssen die Ikone und verbeugen sich voreinander. Sie folgen den vorgegebenen Regeln, tauchen ein in die Liturgie und scheinen sich selbst zu vergessen. Darf ich ihnen unterstellen, devot oder bigott zu sein? Nein.

Genauso wenig, wie man die westliche Lebensart als Egoismus abqualifizieren sollte, darf man die östliche als Unterwürfigkeit diffamieren. Individualität und Sozialität sind die zwei Seiten der einen Medaille menschlichen Daseins. Es handelt sich bei ihnen um verschiedene Ansätze des Denkens und Empfindens. Erst wenn man diese Ansätze auf die Spitze treibt und verabsolutiert, werden sie gefährlich. Die Frage, ob es gefährlicher ist, einen Egomanen an der Spitze des Staates zu haben oder einen autoritären Führer, ist schwer zu beantworten. Trump oder Putin? Mich stößt der eine genauso ab wie der andere, da beide nicht die Werte des Humanismus und der Aufklärung vertreten, auf denen das moderne Europa gegründet ist.

Die kulturellen Unterschiede und die Konflikte der großen Politik spiegeln sich in den kleinen Konflikten wider, die den Osten Deutschlands und Sachsen erschüttern. Viele Menschen im Westen sind irritiert. Ich aber lebe im Osten und habe große Sorge, dass die Neue Rechte politisch immer stärker wird und Einfluss bekommt auf die Regierungsbildung in Sachsen und weiteren Bundesländern. Auf der politischen Bühne herrscht Alarm. Ich möchte dazu beitragen, den Raum hinter der Bühne auszuleuchten und die Andersartigkeit des Ostens zu erklären. Was muss getan werden, um die Demokratie zu verteidigen?

Wie gesagt: Es war Mitte der 70er-Jahre. Ich lebte als Teenager bei meinen Eltern in der kleinen sächsischen Stadt Großenhain. Die DDR gehörte zu den vielen Staaten, die im Sommer 1975 die Schlussakte der Helsinki-Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa unterschrieben hatten. Damit hatte sie sich verpflichtet, alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Reisefreiheit und die Freiheit der Wahl des eigenen Wohnorts gehörten dazu.

In der Folge dieses politischen Großereignisses nahm nicht nur die Zahl der Ausreiseanträge sprunghaft zu, die die Bürger der DDR stellten. Auch die Zahl der westlichen Automobile auf den Straßen der DDR stieg deutlich. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Autos der Marken Mercedes, Renault und Fiat, von deren Existenz ich bisher nur gehört hatte. Bei der Familie eines Schulkameraden hatte sich Westbesuch angekündigt. Eines Tages erzählte mir der Mitschüler, dass sich die Verwandten aus dem südlichen Bayern auf den Straßen im östlichen Sachsen verirrt hatten. Sie waren zu weit gefahren und erst in der Nähe von Bautzen von der Autobahn abgebogen. Von da an trafen sie nur noch auf zweisprachige Wegweiser und Ortsschilder. Da sie keine Ahnung hatten, dass im Osten der DDR ein Teil des ursprünglichen Siedlungsgebiets der Sorben lag, gerieten sie in Panik. Wo befanden sie sich? Waren sie bereits in Polen oder gar auf russischem Militärgebiet? Das Sorbische ist eine slawische Sprache. Auch in der DDR galt sie in einigen Regionen als Amtssprache. Die Besucher aus dem Westen wussten das nicht. Ihnen fehlte im wahrsten Sinn des Wortes die Orientierung. Als sie nach langer Irrfahrt unbeschadet am Ziel angekommen waren, lautete ihre erste Frage: »Gehört Sachsen noch zu Deutschland?«

Ist Sachsen erst der Anfang?

»Der Islam gehört nicht zu Sachsen.« Mit diesem Satz wurde Stanislaw Tillich (CDU), der damalige sächsische Ministerpräsident, am 25. Januar 2015 in der Tageszeitung Die Welt zitiert. Wörtlich hatte er gesagt: »Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört.« Die Irritation war groß. Schließlich hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung wenige Tage zuvor, am 12.?Januar 2015, Bundespräsident Christian Wulff ausdrücklich recht gegeben. Der hatte am 3.?Oktober 2010 in seiner Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit erklärt: »Der Islam gehört zu Deutschland.«

Also was nun? Wenn der Islam zwar zu Deutschland gehört, nicht aber zu Sachsen, gehört folglich Sachsen nicht zu Deutschland, jedenfalls nicht so richtig? Stellt Sachsen eine eigenartige Teilmenge des Ganzen dar, die zumindest in den Augen kritischer Beobachter etwas sonderbar erscheinen muss?

Stanislaw Tillich wollte vermutlich um Verständnis für den Freistaat werben, der infolge der wöchentlich anschwellenden Pegida-Demonstrationen ins politische Abseits geraten war. Die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« hatten international Schlagzeilen gemacht. Sie liefen zu Zehntausenden durch das nächtliche Dresden, skandierten »Wir sind das Volk«, attackierten Medienvertreter, schürten Ressentiments gegen den Islam, sangen Weihnachtslieder und forderten im selben Atemzug die Verschärfung des Asylrechts. Indem sich der Ministerpräsident öffentlich vom Islam distanzierte, sekundierte er den Organisatoren von Pegida.

Man bedenke: Als Sorbe ist Stanislaw Tillich selbst Mitglied einer Minderheit. Er ist Angehöriger des kleinen, auf deutschem Staatsgebiet siedelnden, mehrheitlich katholischen slawischen Volkes der Sorben. Gerade er, so hätte man meinen können, sollte besonders sensibel sein für die Gefahr verbaler Stigmatisierungen und Ausgrenzungen. So war im November 2014 berichtet worden, dass Neonazis sorbische Jugendliche beschimpft, angegriffen und sie aufgefordert hatten, »hier Deutsch zu sprechen«.

Es war Stanislaw Tillich damit nicht nur gelungen, die Kanzlerin zu brüskieren, er war sogar schneller als Horst Seehofer. Der Bundesminister des Inneren, Vorsitzender der CSU und ehemaliger Ministerpräsident des Freistaats Bayern wurde erst viel später, im März 2018, mit dem Satz zitiert: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland.« Man muss wissen: Die »Sächsische Union« – so bezeichnet sich die CDU in Sachsen – hatte sich stets die bayerische CSU zum Vorbild genommen. Deren Rhetorik, Land und Partei so miteinander zu identifizieren, dass kein heimatverbundener Bayer auf die Idee kommen sollte, eine andere Partei zu wählen als die CSU, sollte auf Sachsen übertragen werden. Diese Rhetorik war erfolgreich und schien nachahmenswert. Ein Volk, ein Staat, eine Partei! Eine Haltung, die der bayerische Kabarettist Gerhard Polt treffend auf den Punkt brachte: »Wir brauchen keine Opposition, weil wir sind schon selber Demokraten.« Damit, so schien es, könnte man auch in Sachsen etwas anfangen.

Die alten Blockflöten der DDR-CDU waren Vasallen der Staatspartei SED. Ihnen war die Attitüde ohnehin vertraut. Vielen neuen Mitgliedern der Sächsischen Union kam sie offenbar gelegen. Sie waren nach der Wiedervereinigung aus dem Westen, vornehmlich aus Bayern und Baden-Württemberg, nach Sachsen gekommen. Ministerpräsident Biedenkopf, ebenfalls ein »Westimport« und liebevoll und ironisch »König Kurt« genannt, verkörperte diese Idee in grandioser Manier. Die Sachsen sind ein sehr eigenes, einiges, heimatverbundenes und selbstbewusstes Völkchen. Sie fühlten sich schon immer als etwas Besonderes. Das Land Sachsen ist kein x-beliebiges Bundesland. Es ist ein Freistaat. Sachsen ist das Bayern des Ostens.

Erst nach Biedenkopfs Rücktritt im April 2002 begann sich der Nebel zu lichten. Das Land wurde erkennbar als ein ziemlich normales, neues Bundesland. Sachsen gelang es nicht schlechter, aber auch nicht wesentlich besser als den anderen, die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft gesellschaftlich und politisch zu verarbeiten. Auch in Sachsen kam es zur Deindustrialisierung ganzer Regionen. Wie überall im Osten schrumpfte auch hier die Bevölkerung. Die Abwanderung nach Westen hielt an. Die Geburtenrate sank kontinuierlich. Der Altersdurchschnitt stieg. Die Schere zwischen der sozialen, kulturellen und ökonomischen Entwicklung in den kleinstädtisch und dörflich geprägten Regionen einerseits und den Städten Leipzig und Dresden andererseits ging immer weiter auseinander. Der Staat zog sich aus der Fläche zurück. Es gab immer weniger Landräte und Bürgermeister, immer weniger Schulen, immer weniger Polizeireviere, immer weniger Ärzte, immer weniger Bahnen und Busse. Die Leuchtturmpolitik zugunsten der Zentren war zugleich Kirchturmpolitik zuungunsten der Ränder.

Es mag zynisch klingen: Wem die Fähigkeit schwindet, das überhöhte Bild, das er von sich selbst hat, durch herausragende Leistungen aufrechtzuerhalten, neigt zunehmend dazu, sich von anderen abzugrenzen und sie herabzusetzen. Die missglückte Formulierung Stanislaw Tillichs steht symptomatisch für eine in Sachsen weitverbreitete Haltung, die sich keineswegs auf den Islam beschränkt. Hans Vorländer, Professor für politische Theorie und Ideengeschichte in Dresden, spricht von einem »sächsischen Chauvinismus« und bescheinigt den Sachsen ein »hohes Maß an Ethnozentrismus«. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Sie liegen in der Tiefe der älteren und jüngeren Geschichte gleichermaßen wie in der Fülle der aktuellen gesellschaftlichen Probleme. Sie sind zu suchen in der Anfälligkeit der menschlichen Natur und im Verlust des humanistischen Bildungsideals. Sie alle aufzuzählen ist hier nicht möglich. Ich werde jedoch einigen, die mir maßgeblich erscheinen, nachgehen.

Das vorrangige Anliegen dieses Buches besteht allerdings in etwas anderem. Ich will auf eine Gefahr hinweisen. Sachsen droht sich zu einem Gemeinwesen zu entwickeln, in dem autoritäres, nationalistisches und völkisches Gedankengut die Oberhand gewinnt und das sich von den Prinzipien der Liberalität, Pluralität und Offenheit verabschiedet. Die politischen Kräfte der Neuen Rechten haben an Stärke gewonnen. Sie greifen nach der Macht. Sie halten nichts von der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Sie fordern die Bewahrung, Verteidigung und Rückeroberung der deutschen Kultur und Identität. Das wollen sie erreichen durch die strikte Abgrenzung von anderen Kulturen und Identitäten. Einige von ihnen benutzen offen eine Rhetorik der Ausgrenzung gegenüber den Angehörigen »artfremder« Kulturen und attackieren die Anhänger einer offenen Gesellschaft.

Ein von ethnischer, kultureller und politischer Vielfalt geprägtes Deutschland – so ihre Auffassung – hat sich aufgegeben. Es sollte daher abgelöst werden von einem autoritär organisierten, völkisch-demokratischen Deutschland. Prominente Vertreter der Neuen Rechten bescheinigen der Mehrheit der Deutschen kollektive und kulturelle Autoaggressivität. In seiner Rede beim Kyffhäusertreffen am 23. Juni 2018 auf Schloss Burgscheidungen in Sachsen-Anhalt bezeichnete Björn Höcke deren Verhalten gar als kollektive Schafsköpfigkeit. Er bezog sich ausdrücklich auf Bernhard von Bülow, der 1899 vor dem Reichtag gesagt hatte: »In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboss sein.« Heute, so Höcke, »lautet die Frage nicht Hammer oder Amboss, heute lautet die Frage Schaf oder Wolf. Und ich, nein, wir entscheiden uns in dieser Lage, Wolf zu sein.« Es gelte, die Immigration zu stoppen, einen einzigartigen Kultur- und Zivilisationsbruch abzuwenden und die deutsche Zukunft zu verteidigen. Die Zeit des Hinnehmens, die Zeit der Geduld, die »Schafszeit«, sei endgültig vorbei. Einige Sätze vorher hatte er postuliert: »Und wenn es nicht anders geht, wenn es also unabwendbar ist, dann sind wir bereit – zumindest temporär –, Europa als Festung zu denken und zu leben, und zwar als uneinnehmbare Festung.« Die rund 1000 Personen zählende Anhängerschaft reagierte mit dem jubelnden und stakkatoartigen Ruf »Widerstand«. Björn Höcke gilt offiziell als Rechtsaußen der AfD. Im November 2018 allerdings wurde er als thüringischer Vorsitzender mit über 80 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

(Continues…)


Excerpted from "Gehört Sachsen noch zu Deutschland?"
by .
Copyright © 2019 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
Excerpted by permission of Ullstein Buchverlage.
All rights reserved. No part of this excerpt may be reproduced or reprinted without permission in writing from the publisher.
Excerpts are provided by Dial-A-Book Inc. solely for the personal use of visitors to this web site.

Table of Contents

Der Autor / Das Buch,
Titelseite,
Impressum,
Anmerkungen,
Anmerkungen,
Social Media,
Vorablesen.de,

From the B&N Reads Blog

Customer Reviews