Europa zuerst!: Eine Unabhängigkeitserklärung

In der heutigen politischen Debatte spielt der europäische Rechtspopulismus mit fremdenfeindlichen Parolen eine viel zu große Rolle. Doch Claus Leggewie zeigt: Längst haben sich starke Gegenbewegungen gebildet, die sich ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa nicht nehmen lassen wollen.
Mit genauem Blick beschreibt und analysiert Claus Leggewie, einer der wichtigsten Politologen Deutschlands, verschiedene proeuropäische Basisbewegungen und Netzwerke in verschiedenen Ländern des Kontinents: neue Parteien, Vereinigungen und NGOs. Er macht deutlich, warum sie die wahren Europäer sind, wie sie europafeindlichen Strömungen entgegentreten, aber auch, wie man den Stillstand der europäischen Institutionen überwinden kann. Leggewie macht Hoffnung: Das Europa der Zukunft ist basisdemokratisch, kosmopolitisch, bürgernah und sozial gerecht.

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Europa zuerst!: Eine Unabhängigkeitserklärung

In der heutigen politischen Debatte spielt der europäische Rechtspopulismus mit fremdenfeindlichen Parolen eine viel zu große Rolle. Doch Claus Leggewie zeigt: Längst haben sich starke Gegenbewegungen gebildet, die sich ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa nicht nehmen lassen wollen.
Mit genauem Blick beschreibt und analysiert Claus Leggewie, einer der wichtigsten Politologen Deutschlands, verschiedene proeuropäische Basisbewegungen und Netzwerke in verschiedenen Ländern des Kontinents: neue Parteien, Vereinigungen und NGOs. Er macht deutlich, warum sie die wahren Europäer sind, wie sie europafeindlichen Strömungen entgegentreten, aber auch, wie man den Stillstand der europäischen Institutionen überwinden kann. Leggewie macht Hoffnung: Das Europa der Zukunft ist basisdemokratisch, kosmopolitisch, bürgernah und sozial gerecht.

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Europa zuerst!: Eine Unabhängigkeitserklärung

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by Claus Leggewie
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In der heutigen politischen Debatte spielt der europäische Rechtspopulismus mit fremdenfeindlichen Parolen eine viel zu große Rolle. Doch Claus Leggewie zeigt: Längst haben sich starke Gegenbewegungen gebildet, die sich ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa nicht nehmen lassen wollen.
Mit genauem Blick beschreibt und analysiert Claus Leggewie, einer der wichtigsten Politologen Deutschlands, verschiedene proeuropäische Basisbewegungen und Netzwerke in verschiedenen Ländern des Kontinents: neue Parteien, Vereinigungen und NGOs. Er macht deutlich, warum sie die wahren Europäer sind, wie sie europafeindlichen Strömungen entgegentreten, aber auch, wie man den Stillstand der europäischen Institutionen überwinden kann. Leggewie macht Hoffnung: Das Europa der Zukunft ist basisdemokratisch, kosmopolitisch, bürgernah und sozial gerecht.


Product Details

ISBN-13: 9783843716215
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/08/2017
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 240
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Claus Leggewie, geboren 1950, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats "Globale Umweltveränderungen" der Bundesregierung und des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.
"Claus Leggewie, geboren 1950, ist Ludwig-Börne-Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er war Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats »Globale Umweltveränderungen« der Bundesregierung und ist an vielen europäischen Instituten und Universitäten tätig. Zuletzt erschien von ihm bei Ullstein "Europa zuerst!" (2017). 

Read an Excerpt

CHAPTER 1

GEZEITENWECHSEL

... man muss auf eines setzen, darin ist man nicht frei. Sie sind eingeschifft.

Blaise Pascal, Pensées, 1669

In frischer Erinnerung ist das Bild des Tsunami, der im Dezember 2004 die südasiatischen Küsten erreichte und Zehntausende von Toten und materielle Schäden in Milliardenhöhe hinterließ. Viele Zeitgenossen mag im letzten Jahrzehnt das Gefühl beschlichen haben, einer ebensolchen Flutwelle ausgesetzt zu sein. Übermächtig wirkende Kräfte – anonym-abstrakt die Globalisierung, symbolisch-konkret die Flüchtlinge, emotional-dramatisch der Terror – branden an die Küsten Europas, dessen Bewohner sich jahrzehntelang auf sicherem Grund, wie auf einer »Insel der Seligen« gefühlt hatten und nun den Eindruck gewinnen, auf einer schmelzenden Eisscholle durch eine aufgeheizte See zu treiben.

Metaphern der hohen See spielen in der Geschichte der Ideen seit der Antike und in vielen Kulturen eine große Rolle. Das Meer, dozierte Hegel in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte«, »gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte« In der uferlosen Weite entfalten sich Menschen und überschätzen sich gern. »Schiffbruch mit Zuschauer« hat ein Nachfolger des Philosophen die Daseinsmetapher umschrieben und das Terrain, nein: die Oberfläche der Welt abgesteckt: »Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompass und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen.« Wir können uns auch Europa einmal als Meer, als mare europaeicum ausmalen und uns dort Seeungeheuer und Korallenriffe, friedliche Strände und umtoste Inseln, Deiche und Leuchttürme, Passagiere, Kapitäne und Mannschaften vorstellen, die eingeschifft sind.

Nach 1989/90 schien Europa etwa ein Jahrzehnt lang in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. Mit Genugtuung verzeichnete man das Ende der Teilung und der bipolaren Weltordnung und konnte sich an der Erfüllung einer kosmopolitischen Utopie erfreuen. Ihre Träger waren sympathische Demokratiebewegungen, die 1968 im »Prager Frühling« noch mit Panzern unterdrückt wurden, ein gutes Jahrzehnt später aber mit der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc kaum noch aufzuhalten waren. Flankiert durch den polnischen Papst Johannes Paul II. und geduldet durch Helden des Rückzugs wie Michail Gorbatschow ging das lange Zeit als unsinkbar geltende Sowjetimperium unter. Der Hegelianer Francis Fukuyama sagte 1992 voraus, nach diesem »Ende der Geschichte« werde es nur noch Kapitalismus und Demokratie geben. Der erste Teil der Vorhersage erfüllte sich bis auf wenige Exklaven, doch während noch ein gutes Dutzend autoritärer Regime zu präsidialen und parlamentarischen Demokratien mutierte und eine »dritte Welle der Demokratisierung« um den Globus rauschte, traf der Tsunami der Freiheit auf eine mächtige autoritäre Unterströmung, die sich seit den späten 1970er Jahren aufgebaut hatte.

Erste Anzeichen gab es 1973 weit weg von Europa. In Chile wurde Salvador Allendes Linksregierung durch einen Militärputsch hinweggefegt und kreierte General Augusto Pinochet jenen Regierungsstil, der mittelfristig in vielen Weltregionen Einzug hielt: die Verbindung einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik, die Staatsinterventionen radikal herunterfährt, mit einer autoritären Sicherheitspolitik, die bürgerliche Freiheiten opfert. Eingeübt wurde dieser autoritäre Liberalismus durch eine von amerikanischen Beratern und europäischen Kollaborateuren unterstützte Militärjunta, die zwar die Inflation senkte und Investoren ins Land holte, aber zugleich die Friedhöfe und Gefängnisse füllte.

Im Dezember 1989 gehörten die chilenische Junta und ebenso die Diktaturen in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien der Vergangenheit an, the third wave of democracy went global. Aber nicht überall kam sie an. Im Iran herrschte schon ein Jahrzehnt lang eine islamische Mullah-Elite, die das Land bis heute im Griff hat. In China stabilisierte sich seit der Machtübernahme von Deng Xiaoping im Jahr 1979 die postmaoistische Elite, die das Land mit einer Kreuzung aus Parteistaat und Staatskapitalismus zur Weltmacht aufsteigen ließ. In Großbritannien und den USA beendete die Austeritätspolitik Margaret Thatchers bzw. Ronald Reagans die New-Deal-Ära, die soziale Ungleichheiten eingedämmt und Teilhabe auf vielen Ebenen ermöglicht hatte. Thatcherism und Reagonomics wurden stilbildend. Die 1981 in Frankreich an die Macht gelangte Linksunion aus Sozialisten und Eurokommunisten war eher ein Nachzügler als der von manchen erhoffte Beginn einer neuen Epoche, die Demokratie und Sozialismus vereinbaren würde.

Verharren wir noch einen Moment in der globalen Perspektive. Die wirtschaftlichen und psychologischen Folgen von Ölkrisen, weltweiten Rezessionen und der ungezügelten Dynamik des Finanzkapitalismus zogen europäische Mitte-Links-Regierungen sukzessive auf den nunmehr »neoliberal« genannten Kurs. In der Abwehr diverser terroristischer Bewegungen von den Roten Brigaden und der RAF über die ETA und PKK bis hin zu al-Qaida und zum Islamischen Staat (IS) entwickelten sich Sicherheitsapparate, die bürgerliche Freiheitsrechte immer mehr außer Kraft setzten. Damit kehrte der Ausnahmezustand auch im Westen zurück, die Symbiose aus Autoritarismus und Marktradikalismus wurde zum wahren Signum des »Endes der Geschichte«.

Für Europa entscheidend: Die 1970er Jahre waren auch die Inkubationszeit eines neuen Populismus, der sich von älteren Bewegungen dieser Art in den Vereinigten Staaten, Russland und Südamerika unterscheidet. Der klassische Populismus war zumeist eine Defensivreaktion auf rasante kapitalistische Durchbrüche und rasanten sozialen Wandel – so in den Vereinigten Staaten während des Gilded Age, im spätfeudalen Russland und in Lateinamerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929/30. People's Party, Narodniki und Peronistas reagierten auf übermäßige soziale Ungleichheit und Ausbeutung und führten vor Augen, dass auch demokratisch gewählte Eliten das gemeine Volk nicht unbedingt repräsentieren. Die da oben gegen uns hier unten, das ist der Basisdiskurs des Populismus, seine so schlichte wie prätentiöse Scheidelinie des politischen Raumes. Von daher hatte er vor allem in seiner links-egalitären Ausprägung stets eine Funktion der politischen Hygiene und Kurskorrektur, leitete über in sozial-progressive Bewegungen und beherzte Reformen. Aber er hatte immer auch eine hässliche Seite: aggressive Fremdenfeindlichkeit, völkischen Nationalismus, die Neigung zum totalitären Faschismus.

DIE AUTORITÄRE WELLE

Auf welche Seite der Populismus im heutigen Europa fällt, soll nun genauer untersucht werden, und daran entscheidet sich, ob der Begriff »Populismus«, in der aktuellen Debatte übermäßig strapaziert, die Lage überhaupt noch trifft. Im Folgenden betone ich vor allem die Schlagseite des neuen Populismus zum völkisch-autoritären Nationalismus. Das bedeutet: Die hässliche Seite hat sich stärker ausgeprägt, der scheinbar klassenlose Gegensatz von Volk und Eliten schärft sich zur menschenfeindlichen Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, Einheimischen und Einwanderern, Christen und Muslimen, Freunden und Feinden. Diese schiefe Ebene ist in den meisten europäischen Gesellschaften anzutreffen, sie reicht über den jeweils nationalstaatlichen Rahmen hinaus und ergibt ein Gesamtbild, das sich wie in anderen – wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen – Dimensionen als »europäische Gesellschaft« (im Singular) fassen lässt. Jenseits der Nationen, die damit keineswegs obsolet geworden sind und verzweifelt von den völkisch-autoritären Nationalisten beschworen werden, erstreckt sich eine Vergesellschaftung, die sämtliche Institutionen erfasst und zur Europäisierung von Einstellungen, Verhaltensmustern und Alltagspraktiken geführt hat.

Auch der Populismus oder nun präziser: der völkisch-autoritäre Nationalismus ist ein gesamteuropäisches Phänomen mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen, die sich zu einer gemeinsamen Bewegung gegen Supra- und Transnationalisierung verbunden haben. Soziologisch gesehen stärkt diese Bewegung die segmentäre Abschottung von Nationalstaaten gegen die funktionale Arbeitsteilung der Weltwirtschaft, und zugleich bedeutet der kulturelle Fokus auf Europa eine Abschottung gegen die globale populäre Kultur und insbesondere gegen eine nichteuropäische Einwanderer-Population. Die Bezugsgröße ist damit die europäische Gesellschaft als ganze, nicht mehr allein die jeweils nationale politische Kultur von Nationalstaaten. Insofern ist der Populismus eine gesamteuropäische Erzählung, die sich ohne Widerspruch zur Bejahung, ja Heiligung der jeweils eigenen Nation selbstverständlich auch europäisch organisiert.

Schauen wir uns die Dramaturgie dieser Erzählung genauer an. Sie beginnt in den 1970er Jahren mit der Rebellion gegen zu hoch empfundene Steuersätze in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und gegen die Abtretung politischer Souveränität an die ungeliebte Europäische Union, der »Volksferne« und Beamtenarroganz unterstellt wurden. Dabei blieb es nicht. In Jean-Marie Le Pens Front National (FN), Jörg Haiders Freiheitlicher Partei Österreichs (FPÖ) und später Geert Wilders' Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD, später PVD) legten die Staatskritiker und Euroskeptiker ihre fremden- und islamfeindliche Weltsicht an den Tag. Beide Antihaltungen bündelten sich im Feindbild der Europäischen Union, die sich im Zuge der Demokratisierung im Süden und Osten Europas gerade von 15 auf 28 Mitglieder erweitert hatte, seither jedoch zunehmend mit Exit-Stimmungen konfrontiert ist, die ihren Höhepunkt vermutlich erreicht haben.

Dazu stießen populistische Bewegungen im Süden Europas, namentlich in Italien, wo der Medienunternehmer Silvio Berlusconi zweimal die Regierung übernehmen konnte, neben der Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) des Komikers Beppe Grillo. Hinzu kamen diverse nationalpopulistische und rechtsradikale Strömungen auf dem Balkan, in den vier Visegrád-Staaten (Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen) und in der Schweiz. Auch die »Wahren Finnen«, seit 2015 Regierungspartei, sind symptomatisch für das Revival der Nation als Bezugspunkt von Politik. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) hat sich zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland eine Rechtspartei etabliert, die den eher episodischen und lokalen Einfluss von NPD und Republikanern übertroffen hat. Auch hier mutierte die euroskeptische und marktradikale Position der Lucke-AfD zum völkisch-autoritären »National-Sozialismus« der Höcke/Gauland-AfD.

Die europäische Landkarte ist somit nur noch auf der Iberischen Halbinsel sowie im Baltikum, in Slowenien und Irland frei von Rechtsparteien mit einer Zustimmung über fünf Prozent. Dort hat sich aber in linkspopulistischen Strömungen wie der spanischen Podemos ebenfalls eine europaskeptische Haltung verfestigt, die auch in anderen EU-Ländern wie in Frankreich (Parti de Gauche, La France insoumise) und Griechenland (Syriza) sowie in einigen ostmitteleuropäischen Staaten zu beobachten ist. Betrachtet man den Aufstieg der nationalistischen Strömungen von eher marginalen Splitterparteien bis in die Nähe der Regierungsverantwortung beziehungsweise in den Rang von Regierungsparteien, gerät der Allerweltsbegriff »Populismus« vollends zur Verharmlosung. Aus einer anfänglich staats- und EU/Euro-kritischen Haltung hat sich immer deutlicher ein völkisch-autoritärer Nationalismus herausgeschält, der an der ökonomischen Europäisierung und Globalisierung Anstoß nimmt, aber vor allem die angebliche Überfremdung durch nichteuropäische Immigranten aus dem globalen Süden zum Thema macht.

Damit wird – jenseits von arm und reich, oben und unten, religiös und säkular – in den konsensorientierten politischen Systemen eine neue Spaltungs- und Konfliktlinie zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« sichtbar. Die spürbare, generell seit den 1970er Jahren zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zunahme von prekären Arbeitsmarktlagen und unsicheren Zukunftsaussichten in der europäischen Gesellschaft werden auf die Immigration projiziert und »Fremde« zu Sündenböcken erklärt. Angesichts dieser Dynamik ist man geneigt, von einem langen Zyklus zu sprechen, der wachsende sozioökonomische Ungleichheit mit dem Anwachsen von Xenophobie und Europessimismus korreliert.

Gesamteuropäisch und grenzüberschreitend sind die Einzelerfolge rechter Parteien auch in ihrem Demonstrations- und Diffusionseffekt: Die europäische Internationale der Nationalisten stärkt sich an Erfolgen befreundeter Parteien jenseits der Grenzen und kann dort selbst ihre jeweiligen weltanschaulichen und taktischen Elemente einspeisen. Ein Beispiel ist die Schweizer Kampagne für ein Minarettverbot, die Anstöße aus den Niederlanden aufnahm und selbst zum Bezugspunkt anderer islamophober Bewegungen geworden ist. Grenzüberschreitend viral war auch die Exit-Parole; mit dem Erfolg der Leave Campaign in Großbritannien, einem Land, das stets starke Reserven gegenüber dem Kontinent und der EU hatte, verbreitete sich dieser Mobilisierungsansatz zum Öxit, Frexit, Dexit und so weiter auch in Kernländer der Union, die bis dato stets hohe Sympathiewerte für die EU zu verzeichnen hatten.

Das heißt aber auch: Ohne »Brüssel« wären die Nationalisten nichts. Die Chiffre des Unmuts bündelte sämtliche Anlässe von Unzufriedenheit wie in einem Brennglas in Richtung EU: die Kritik an der Volksferne von Politik und an bürokratischen Auswüchsen, die Angst vor unkontrollierter Freizügigkeit und Masseneinwanderung, die Sorge über steigende Kriminalität sowie das Gefühl der Perspektivlosigkeit in »abgehängten« Regionen. Die Europäische Union, die bei objektiver Betrachtung durchweg für mehr Wohlstand und Freizügigkeit gesorgt hat, wurde bei denen, die sich vom einen ausgeschlossen und vom anderen überfordert fühlen, zum allseits passenden Sündenbock.

Die völkisch-autoritäre Radikalisierung des Populismus ist also mehr als die Summe ihrer Teile. Um ihre Besitzstände bangende Steuerrebellen, von Überfremdungsängsten geplagte Islamophobe, antipolitische Polit-Clowns, Exiteers mit ihrer nationalen Nostalgie und religiöse Rechte verbanden sich zu einer sich selbst aufschaukelnden Welle. Ins Rollen kam sie in den nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, andauernde Turbulenzen erzeugte sie in Italien, zur Sturmflut wuchs sie in der illiberalen Demokratie Ungarns.

ETWAS FAUL IM STAATE DÄNEMARK

Um industrielle Gesellschaften vor Altersarmut, schwerer Krankheit und langer Arbeitslosigkeit zu schützen, entstanden in der reichen Welthälfte bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine Reihe unterschiedlich ausgestatteter Wohlfahrtsstaaten, stets mit dem Hintergedanken, eventuell zum Aufstand neigende Unterschichten zu befrieden. Die skandinavischen Länder sind Paradebeispiele hierfür. Nationen, die diesem Weg umverteilender Staatsintervention folgten, waren meist ethnisch homogen, wie es etwa die schwedische Definition des »Volksheimes« unterstreicht. Die Solidargemeinschaft bestand jeweils aus Schweden, Norwegern oder Dänen, eine nennenswerte »Gastarbeiter«-Einwanderung erlebten diese Länder erst seit den 1970er Jahren. Zu ebendiesem Zeitpunkt gerieten die demographischen Fundamente des welfare state durch sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung weltweit unter Druck, verstärkt durch nachlassendes Wirtschaftswachstum und das Aufkommen von Arbeitsverhältnissen, von denen man oftmals ohne Transferleistungen keine Familie mehr ernähren konnte.

Dänemark vereinigt dagegen bis heute fast ideal die Elemente des persistenten Wohlfahrtsstaates. Dank einer hohen, weithin akzeptierten Steuerquote sind generöse öffentliche Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben möglich, der Organisationsgrad der Gewerkschaften garantiert ein hohes Lohn- und Einkommensniveau und im Effekt eine egalitäre Sozialstruktur, die weltweit ihresgleichen sucht. Dank einer relativ gut abgesicherten Flexibilität im Arbeitsmarkt (flexicurity) hat Dänemark einen im EU-Maßstab hohen Beschäftigungsgrad. Dem Land geht es im internationalen Vergleich exzellent, und es wird gelobt für seine politische Transparenz und die geringe Anfälligkeit für Korruption. Nur: Damit das so bleibe, neigt eine immer größer werdende Zahl von Dänen dazu, die Früchte des Wohlfahrtsstaates exklusiv »Bio-Dänen«, also ihresgleichen zugutekommen zu lassen und Einwanderern zu verweigern, nachdem das Land bis in die 1980er Jahre als Vorbild für die Aufnahme von Zuwanderern und Flüchtlingen gegolten hatte.

(Continues…)



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Table of Contents

Über das Buch/ Über den Autor,
Titel,
Impressum,
Einleitung: Ins Offene,
I Gezeitenwechsel,
Die autoritäre Welle,
Unterspülung der Demokratie,
Deichbau,
Ante Portas,
Schiffbruch oder Alarmsignal? Die Lehren des Populismus,
II Gegen den Strom,
Themenwechsel,
Drei Körbe,
III Freibeuter: Praxis Europa,
Renaissance des jungen Europa,
Agenten des Wandels: ein gutes Dutzend Europa19,
It's Europe, stupid!,
Anmerkungen,
Feedback an den Verlag,
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