Ehrlichkeit ist eine Währung: Erinnerungen

Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Feind gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück - "heuchlerisch" nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. In seiner Autobiografie erinnert er sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten. War die Zustimmung zum Euro tatsächlich der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie  manche behaupten? Waigel schreibt sein politisches Vermächtnis und stellt sich den wichtigen Fragen der Gegenwart: Wohin führt der Weg der CSU? Und hat die europäische Idee noch eine Chance?

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Ehrlichkeit ist eine Währung: Erinnerungen

Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Feind gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück - "heuchlerisch" nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. In seiner Autobiografie erinnert er sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten. War die Zustimmung zum Euro tatsächlich der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie  manche behaupten? Waigel schreibt sein politisches Vermächtnis und stellt sich den wichtigen Fragen der Gegenwart: Wohin führt der Weg der CSU? Und hat die europäische Idee noch eine Chance?

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Ehrlichkeit ist eine Währung: Erinnerungen

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by Theo Waigel
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Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Feind gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück - "heuchlerisch" nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. In seiner Autobiografie erinnert er sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten. War die Zustimmung zum Euro tatsächlich der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie  manche behaupten? Waigel schreibt sein politisches Vermächtnis und stellt sich den wichtigen Fragen der Gegenwart: Wohin führt der Weg der CSU? Und hat die europäische Idee noch eine Chance?


Product Details

ISBN-13: 9783843720380
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 04/15/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 352
File size: 30 MB
Note: This product may take a few minutes to download.
Language: German

About the Author

Dr. Theo Waigel, geb. 1939 in Oberrohr/Schwaben, war von 1989 bis 1998 Bundesminister der Finanzen und von 1988 bis 1999 Vorsitzender der CSU. Seit 2009 ist er Ehrenvorsitzender seiner Partei. In seine Amtszeit als Bundesfinanzminister fiel die Währungsumstellung nach der deutschen Wiedervereinigung und die Einführung des Euro. Der gelernte Jurist betreibt mit seinem Sohn eine Kanzlei in München und lebt mit seiner Frau Irene Epple-Waigel in Seeg im Allgäu.

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CHAPTER 1

Jahrgang 1939 Kindheit und Jugend

Wenige Monate vor einem fürchterlichen Weltkrieg begann mein Leben an einem Samstag – dem 22. April – im mittelschwäbischen Dorf Oberrohr. Schon kurz nach meiner Geburt wurde mein Vater mit 44 Jahren als Soldat eingezogen. Trotzdem wuchs ich zunächst unbesorgt und behütet auf. Maria, die aus einer früheren Beziehung meines Vaters stammte, war mir eine liebevolle ältere Schwester. Mein 13 Jahre älterer Bruder Gustl kümmerte sich in rührender Weise um mich. Ich erinnere mich noch, wie er mich mit in die Ursberger Klosterkirche nahm und hoch auf der Empore auf die Brüstung setzen wollte. Ich hatte Angst und wehrte mich heftig. Falls ich nach vorne überkippte, so glaubte ich, würde mich selbst mein großer Bruder nicht halten können. Als ich einmal unsere Katze mit dem Schwanz an den Gartenzaun angebunden hatte, wollte er mich bestrafen. Ich versuchte zu fliehen, doch vor dem Stadeltor erwischte er mich und versohlte mir kräftig den Hintern.

An Gustls Einberufung zum Wehrdienst 1943 und seinen Abschied hingegen kann ich mich nicht mehr bewusst erinnern. Umso deutlicher steht mir ein Oktobertag 1944 vor Augen: Der Bürgermeister von Oberrohr, Karl Thoma, kam ins Haus, um uns die grausame Nachricht mitzuteilen. Gustl war tot. Meine Mutter brach zusammen. Ich saß in einer Ecke der Küche auf einer Holzkiste, fast unbeteiligt, verstand nicht, was geschehen war. Eine klösterliche Krankenschwester aus Ursberg wurde gerufen, um die Mutter zu beruhigen. Tröstend nahm sie die Verzweifelte in die Arme und zeigte beschwichtigend auf mich, den kleinen Sohn. Doch dass ich meinen Eltern geblieben war, konnte deren Leid nicht lindern. Zum Gedenkgottesdienst in der Ursberger Klosterkirche kamen die Verwandten und meine Taufpatin, die meine Hand nahm. Noch war mir nicht so recht klar, welch tragische Lebenswende eingetreten war.

Tragisch auch für mich, obwohl ich das Geschehen als Kind kaum einordnen konnte. Bisweilen fand ich meine Mutter weinend am Fenster der Schlafkammer, sehnsüchtig in die Ferne schauend. Sie trauerte ihr ganzes Leben um ihren Sohn, den sie 1943 in Augsburg letztmals gesehen hatte. Er war im Juni zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und danach gleich weiter an die Westfront geschickt worden. Am 30. September 1944 war er gefallen – einen »Heldentod«, vermerkte das militärische Abschiedsschreiben seines Vorgesetzten.

Manchmal hielt meine Mutter ein kleines Paket mit vergilbten Kuverts in ihren Händen, die von einer Seidenschnur zusammengehalten wurden. Es waren 61 Briefe, die Gustl zwischen dem 28. August 1943 und dem 24. September 1944 an meine Eltern geschrieben hatte. Als ich sie Jahrzehnte später öffnete und Gustls handschriftliche Zeilen Wort für Wort entzifferte, konnte ich erstmals ermessen, wie sehr das Leben und Sterben meines Bruders mich selbst geprägt hatten. Meist schloss Gustl seine Zeilen mit vielen Grüßen »an Euch alle, besonders an Theo«. Wenn ich seinen Briefen auf diesen ersten Seiten bewusst viel Raum einräume, dann aus dem Grund, weil mir die letzten Erinnerungen an meinen gefallenen Bruder so kostbar und teuer sind. Zudem geben sie der Nachwelt ein Zeugnis gegen Krieg und Nationalismus.

Aus der Anfangszeit existiert ein Feldpostbrief vom »Panzergrenadier Waigel«, auf dem Marsch verfasst und am 14. Dezember 1943 abgestempelt. Er sei mit 45 Mann in einem Waggon, und sie hätten eben die deutsche Grenze überschritten und befänden sich nun im Elsass. Man erkenne an den Dörfern, dass sie nicht mehr den Deutschen gehörten. Er hofft auf ein baldiges Wiedersehen und grüßt Maria und Theo.

Im nächsten Brief vom 15. Dezember vermeldet Gustl, sie seien nun in Frankreich. »Wo wir sind, dürfen wir nicht schreiben, das ist ja egal.« Natürlich gehe es hier in den nächsten acht Wochen schwer zu. Was andere ausgehalten hätten, werde er wohl auch aushalten. Er wünscht alles Gute zu Weihnachten und schreibt, er wäre am Heiligen Abend gerne daheim.

Am Heiligabend 1943 berichtet mein Bruder von der trostlosen Weihnachtsfeier an der Front, die nicht vergleichbar sei mit Weihnachten zu Hause. Er spricht die Hoffnung aus, dass Theo schon eine nette Bescherung bekommen habe. Er hätte gern etwas geschickt, aber die nächste Stadt, wo man etwas kaufen könne, sei 15 Kilometer entfernt. Wo er nun sei, könne man sich ja denken – mutmaßlich war es Marseille –, schreiben dürfe er es leider nicht. Von Augsburg sei er 2000 Kilometer entfernt an der spanischen Grenze. Wieder endet sein Brief mit Grüßen an mich und die Schwester.

Am 15. Januar zeigt er sich bestürzt über die Nachricht, dass unser Nachbar Andreas Lerchner gefallen sei. Er könne es gar nicht glauben.

Und im Februar 1944 wendet er sich dann direkt an mich:

Nun lieber Theo.

Wie geht es dir denn immer? Hoffentlich gut. Denkst auch noch manchmal [an mich] oder hast du deinen bösen Bruder schon vergessen. Es freut mich schon sehr, daß du für mich betest. Nach dem Krieg komme ich schon wieder heim. Nun sei recht brav und folge Vater und Mama immer recht schön.

Dein Bruder Gustl

Ich weiß nicht mehr, ob meine Eltern mir diesen Brief vorgelesen haben. Als ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal bewusst in Händen hielt, zog sich mein Herz zusammen, und die Tränen wollten nicht versiegen.

Im Brief vom 20. März beklagt sich Gustl, dass überhaupt keine Post mehr ankomme. Sie befänden sich wieder in einer Übung und seien 180 Kilometer von ihrem eigentlichen Standort entfernt. Er wisse aber nicht, wie das Städtchen heiße. In der Nähe seien mehrere Züge in die Luft geflogen, und da könne auch die für ihn bestimmte Post vernichtet worden sein, die er so sehnlichst erwarte.

Einmal, am 25. März 1944, legt Gustl sogar ein kleines Foto von sich in Uniform bei. Es zeigt ihn, den mir kaum bildlich erinnerlichen Bruder, vor einem alten Gebäude neben einem Baum. Auf einem weiteren Foto ist er mit einem Kameraden zu sehen. Beide sehen aus wie Buben in Uniform. In seinem nächsten Brief schwingt Hoffnung mit auf einen Fronturlaub, denn »es wäre halt doch schön«, wenn er zu Hause sein könnte. Er erzählt weiter von einem Gottesdienst des Regimentspfarrers und erwähnt, dass er die Möglichkeit zum Beichten gehabt habe. »Wenn sonst eine Kirche ist, dürfen wir nicht hingehen, sonst würde ich schon öfters gehen.« Ich las aus diesen Sätzen ein unermessliches Heimweh heraus. Mein Bruder vermisste den Trost, den ein religiöses Leben, wie er es als Ministrant und aus unserem Elternhaus kannte, zu spenden vermochte.

Wenn »nur einmal der Krieg ein Ende nehmen würde«, hofft Gustl immer stärker. Besonders bewegend ist der Brief vom 7. Mai 1944, der wieder einmal direkt an mich geht:

Lieber Theo!

Will dir doch heute auch mal einige Zeilen senden. Wirst mir schon böse sein, weil ich dir so lang nicht geschrieben habe. Vielleicht komme ich bald heim zu dir, dann raufen wir wieder ein bischen, dann ist wieder alles vergessen. Nun lieber Theo, wie geht es dir immer? Hoffentlich gut. Ich werde dich halt fast nicht mehr kennen, wenn ich nach Hause komme. Nun sei immer recht brav und folge Mama und Papa immer schön und sei vielmals gegrüßt von Gustl

Der Brief vom 17. Mai 1944 geht an die Mutter mit herzlichen Gratulationen zum Muttertag. Er könne sich nur wünschen, dass sie recht gesund bleibe und er noch lange eine gute Mutter habe. Wenn man ein Soldat sei, dann wisse man, was es wert sei, wenn man gute Eltern hat. »Ich möchte nur mal wieder für einige Tage nach Hause kommen«, aber es gebe dafür keine Aussicht, weil er wieder auf einen Lehrgang müsse. Wo dieser Lehrgang stattfinde, wisse er noch nicht. Er hoffe, dass die Mutter diesen einzigen Tag im Jahr auch gut verbringe.

Am 1. Juni 1944 schreibt er, er sei durch Zufall in ein Wirtshaus gekommen, und dort habe ihm die Frau gesagt, dass ihr Sohn in Thannhausen – in unmittelbarer Nachbarschaft von Oberrohr – bei den Fleischwerken Zimmermann als Metzger arbeite. Sie habe ihm sogar Bilder von Thannhausen gezeigt. Er habe ihr angeboten, dass der Sohn nach Oberrohr kommen und meine Eltern besuchen könne. Dazu ist es auch gekommen, denn der Zwangsarbeiter übersandte Gustl einen Brief mit der Bitte um Weiterleitung an seine Eltern. Dieser menschliche Vorschlag meines Bruders hat mich angerührt.

Mein Vater hatte als Maurerpolier in Ursberg während des Krieges auch französische Arbeiter zu beaufsichtigen. Als der Krieg zu Ende und Oberrohr französisch besetzt war, kam einer von diesen Fremdarbeitern zu uns ins Haus und bat seine Landsleute, doch korrekt zu uns zu sein, weil auch mein Vater gut zu ihnen gewesen sei. Damit hatte er Erfolg, denn wir kamen mit den beiden französischen Soldaten, die einige Wochen in unserem Haus wohnten, sehr gut aus.

In den folgenden Wochen werden Gustls Klagen bitterer, die Stimmung düster. Er denkt nun manchmal in vielsagenden Punkten über den »Scheißkrieg« nach – obgleich er den Ausdruck selbst weder gebrauchen wollte noch durfte. Die Soldaten seien wie »die Ratten« untergebracht. Die SS sei der Wehrmacht voraus und habe »schon vorher die Stadt durchstöbert und es hat natürlich böse ausgeschaut«. Man kann nur ahnen, was dort vorgefallen ist. Ich wünsche mir für meinen Bruder, dass er mit diesen Einsätzen und den schrecklichen Verbrechen nichts zu tun hatte. In keinem einzigen seiner Briefe taucht das Wort Hitler auf, auch nicht als Abschiedsgruß. Es findet sich keine Verherrlichung oder Verteidigung des Krieges und kein Loblied auf militärischen Erfolg. Skepsis, Distanz und Schwermut sprechen aus den letzten Briefen.

Am 9. Juli 1944 schreibt er an die »lieben Eltern«: »Wir liegen zur Zeit in der Nähe von Montauban … Zum Kirchengehen bin ich nicht wieder gekommen. Wenn ich schon nicht mehr heimkommen soll, dann wird uns auch Gott vielleicht so vergeben.«

Immer stärker wird Gustls Todesangst: Am 16. Juli fragt er bang, wie lange der Krieg wohl noch gehen könne und was die Eltern davon hielten. Nach seiner Unterschrift fügt er noch an: »Vertrauen wir auf Gott, dann wird alles gut gehen.«

Der nächste Brief datiert vom 28. Juli. Sie seien wieder auf Fahrt. Die »Banditen« würden ihnen diesmal ziemlich zu schaffen machen. Es sei fast jede Brücke gesprengt, und sie bekämen jedes Mal ganz schön Feuer. Er fragt sich, was das noch alles abgebe. Gestern sei er bei einer Familie einquartiert gewesen, und da sei es beinahe wie daheim gewesen. Als er wegging, weinten alle. »Ich ging wirklich sehr hart von ihnen weg. Es war ein Professor und er sprach deutsch.« Zum Schlafen kämen sie überhaupt nicht mehr. »Bei Tag, da fahren wir, und bei Nacht müssen wir Posten stehen«, schreibt er. »Man macht ja alles gern, wenn man wüßte, ob man überhaupt noch einmal heimkommt. Ich denke mir schon manchmal, wenn es mich nur gleich erwischen würde. Aber es lebt doch jeder gern. Nun will ich für heute schließen und seid recht herzlich gegrüßt von Eurem Gustl.«

Am 12. August stellt er die Frage: »Was sagt Ihr zur Kriegslage? Es wäre Zeit, daß bald eine Entscheidung käme. Hoffentlich geht es gut aus, sonst sehe ich schwarz.«

Noch in seinem vorletzten Brief berichtete er von kleineren Verletzungen – »ein paar Splitter«. »Einen im Gesicht, zwei im Rücken, einen im Fuß. Ist aber schon beinahe wieder gut, braucht Euch keine Sorgen machen.« Er schließt mit den Worten: »Nun auf ein baldiges Wiedersehen und seid vielmals gegrüßt von Gustl.« Zu diesem Wiedersehen ist es nie mehr gekommen, und die Trauer darüber hat mich mein ganzes Leben begleitet.

Am 24. September 1944 verfasst Gustl auf dünnem Papier, in schwacher Bleistiftschrift, auf seinem Motorrad sitzend, seinen letzten Brief. Er wurde sechs Tage später, an seinem Todestag, in Saarburg aufgegeben. Die idyllischen Worte des Poststempels trügen: »Tor zu den Vogesen«.

Westfront, 24. 9. 1944

Liebe Eltern!

Will euch wieder einige Zeilen schreiben. Wie es hier jetzt steht, wißt ihr ja selber. Sind jetzt nicht mehr an der Schweizer Grenze, sondern sind versetzt worden und sind schon beinahe in Deutschland. Es ist sehr schwer den Amerikaner aufzuhalten, denn er macht uns seinen schweren Waffen nix tun. Wenn unsere Artillerie einen Schuss abgibt, dann bekommen wir dafür mindestens 15–20. Hoffentlich nimmt dieser Krieg bald ein Ende. Nun wie geht es euch immer. Hoffe das Beste. Es wäre halt doch schön, wenn ich bei euch allen daheim wäre. Ich denke mir immer, lieber jetzt ein bischen mehr aushalten, als wenn bei euch daheim Krieg wäre und die ganzen Häuser würden zusammengeschossen. Nun müßt ihr schon entschuldigen wegen der schlechten Schrift, aber wenn du auf dem Motorrad schreiben mußt, geht es nicht viel besser.

Nun wünsche ich euch weiterhin alles Gute und laßt bald wieder hören, denn ich habe schon 5 Wochen keine Post mehr von Euch.

Auf Wiedersehen Gustl

Immer wieder bringt Gustl sein Gottvertrauen und die Hoffnung auf die Gnade der Vergebung zum Ausdruck. Beides begleitete ihn bis zum 30. September 1944, seinem Todestag.

Und so kam der nächste Brief von Gustls Vorgesetztem. Auf drei handschriftlich eng beschriebenen Seiten schilderte er am 11. Oktober die Geschehnisse rund um Gustls Tod. »Er fand auf deutscher Erde ein Flammengrab.« Der Gefallene habe »treu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland das höchste Mannesopfer gebracht«, »zur Sicherung unseres heiligsten Gutes, der Freiheit unserer Heimat und unseres geliebten Volkes«. Sogar eine Skizze hatte der Oberleutnant zur Lage des Todesgeschehens bei Litzingen in Lothringen übersandt. Für uns als Hinterbliebene konnte dieser Brief kaum Trost sein.

Die Feldpostbriefe meines Bruders fand ich, als ich nach dem Tod meiner Mutter einen kleinen Koffer mit ihren wichtigsten Habseligkeiten öffnete. Und sie ließen mich verstehen, was ich schon immer gefühlt hatte: Mit Gustls Tod war die Welt plötzlich eine andere geworden. Die Eltern hatten sich verändert, waren traurig, bitter, verzweifelt. Lachen und Fröhlichkeit waren verschwunden. Als meine Schwester ein Jahr später heiratete und fortzog, war ich allein mit den um ihre Hoffnungen betrogenen Eltern.

Nachdem die Nachricht vom Tod meines Bruders in Oberrohr eingegangen war, wurde auf dem Friedhof unserer Gemeinde auch für August Waigel ein einfaches Birkenkreuz errichtet. Nach jedem Gottesdienst beteten wir vor diesem Kreuz. Am Volkstrauertag wurden die Namen der gefallenen Soldaten in der Kirche genannt, und bei der Erwähnung meines Bruders spürte ich jedes Mal einen Stich in der Brust.

Von Gustls wirklichem Grab sollte ich erst Jahrzehnte später erfahren. Es befindet sich auf dem deutschen Soldatenfriedhof Niederbronn im Elsass. Richard Wagner, dem damaligen Vizepräsidenten des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, hatte ich Anfang der Neunzigerjahre vom Schicksal meines Bruders erzählt. Ohne mein Zutun stellte er Nachforschungen an. Er teilte mir 1993 mit, es sei endlich die Kennzeichnung des Grabs erfolgt. Nach der Umbettung aus dem Gemeindefriedhof von Lezey im Département Moselle sei er nun auf dem deutschen Soldatenfriedhof Niederbronn/Frankreich im Block 25, Reihe 9, Grab 178 begraben.

Von zwei ursprünglich in Lezey bestatteten und durch den Volksbund am 8. November 1961 auf den Soldatenfriedhof Niederbronn umgebetteten deutschen Toten gab es für einen die Feststellung: »Alter zum Zeitpunkt des Todes 17 bis 20 Jahre, Skelettreste stark verkohlt. In Anbetracht des Todes und des Erstbestattungsortes, der Altersfeststellung und der Übereinstimmung der Todesmeldung (›Volltreffer verbrannt‹) ist dieser am 8. November 1961 aus dem Gemeindefriedhof in Lezey umgebettete Tote zweifelsfrei der gesuchte Bruder von Dr. Waigel.« Diese Feststellung sei nicht eher gelungen, weil als Todesort Litzingen registriert war und eine Zuordnung dieses Orts zur Gemeinde Lezey weder der deutschen Dienststelle noch dem Volksbund möglich gewesen sei. Die Nachricht traf mich wie ein Blitzschlag. Ich war zutiefst erschüttert. So schnell wie möglich wollte ich nach Niederbronn, um am Grab meines Bruders seiner zu gedenken.

Am 28. Oktober 1993 flog ich von Bonn nach Straßburg und nahm an der Grundsteinlegung einer Jugendbegegnungsstätte in Niederbronn teil. Es war ein emotionaler Moment, als mich der Verwalter des Friedhofs und der künftige Leiter der Jugendbegegnungsstätte an den vielen Ruhestätten vorbei zum Grab meines Bruders führten. Dabei traf ich auch auf den französischen Minister für Veteranenangelegenheiten, Philippe Mestre.

Am 15. Oktober 1994, einen Tag vor der Bundestagswahl, fand dann die Einweihung dieser Jugendbegegnungsstätte in Niederbronn statt. Drei Omnibusse aus meiner näheren Heimat hatten sich schon sehr früh auf die Fahrt dorthin gemacht. Freunde, Weggefährten und Menschen, die am Schicksal der Gefallenen Anteil nahmen, wollten diesen Friedhof und die Gräber besuchen, in denen viele Soldaten aus meiner schwäbischen Heimat ruhen. Wieder war der französische Minister für Veteranen Mestre nach Niederbronn gekommen und hielt eine einfühlsame Rede über die 15 000 hier begrabenen Soldaten. Seine Worte drückten Anteilnahme aus. Ich dankte ihm für die französische Großzügigkeit, an diesem schön gelegenen Ort den deutschen Soldaten eine würdige letzte Ruhestätte zu verschaffen. Als dann die französische Nationalhymne, die deutsche Nationalhymne und die Melodie »Vom guten Kameraden« ertönten, waren alle Teilnehmer erschüttert. Eine Klassenkameradin meines Bruders, Anneliese Kerler, Senatorin im Bayerischen Senat und eine liebenswerte Freundin, sprach an Gustls Grab Abschiedsworte für die Freunde und Gefährten aus Ursberg und seiner alten schwäbischen Heimat.

(Continues…)


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Table of Contents

Über das Buch/ Über den Autor,
Titel,
Impressum,
Prolog: Die Augenbraue,
BAYERN,
Jahrgang 1939,
Aus den Wurzeln wachsen,
Die Welt des Geistes,
Mut vor Götterthronen,
Jahre der Entscheidung,
Zuhause,
DEUTSCHLAND,
Politik als Berufung,
Tausche Ost-Mark und Luftgegen D-Mark und Waigel,
Mit Schweiß und Tränen zum Erfolg,
Fakten schaffen,
Sparen und Gestalten,
EUROPA UND DIE WELT,
Deutschland wird souverän,
Mister Euro.,
Es lohnt sich, anständig zu sein,
UNVERGESSLICHE BEGEGNUNGEN,
Genius loci,
Freundschaften in der Politik,
Ein Mann wie kein Zweiter,
Ein Schwergewicht,
Ein Stratege und Taktiker,
Vom Dorf in die Welt,
Epilog: Die Zukunft der Union, der Weg der CSU,
Dank,
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