Die Reise unserer Gene: Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren

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Overview

Migration und Wanderungsbewegungen sind keine Phänomene der Neuzeit: Seit der Mensch den aufrechten Gang beherrschte, trieb es ihn aus seiner Heimat Afrika in die ganze Welt, auch nach Europa. Bis vor Kurzem lag diese Urgeschichte noch im Dunkeln, doch mit den neuen Methoden der Genetik hat sich das grundlegend geändert. Johannes Krause, einer der führenden Experten auf dem Gebiet, erzählt gemeinsam mit Thomas Trappe, was uns die Gene über unsere Herkunft verraten: Gibt es "Urvölker"? Wann verloren die frühen Europäer ihre dunkle Haut? Welche Rolle spielte die Balkanroute in den vergangenen 40 000 Jahren? Eine große Erzählung, die zeigt: Ohne die Einwanderer, die über Jahrtausende aus allen Richtungen nach Europa kamen und immer wieder Innovationen mitbrachten, wäre unser Kontinent gar nicht denkbar.
»Johannes Krause und Thomas Trappe geben einen spannenden Überblick über das, was uns die Revolution der Archäogenetik über die europäische Bevölkerungsgeschichte lehrt. Ihr Buch fängt die Begeisterung ein, die diese junge Wissenschaft auslöst.« Wall Street Journal


Product Details

ISBN-13: 9783843720328
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 02/22/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 272
File size: 18 MB
Note: This product may take a few minutes to download.
Language: German

About the Author

Prof. Dr. Johannes Krause, geb. 1980, ist Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen und Direktor des 2014 neu gegründeten Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena. Er arbeitete zusammen mit Svante Pääbo an der Sequenzierung des Neandertalergenoms, 2010 entdeckte er auf Grundlage eines Mittelfingerknochens den Denisova-Menschen, also einen neuen Urmenschen. Heute ist Krause fokussiert auf DNA-Analyse zur Erklärung historischer Epidemien und menschlicher Wanderungsbewegungen. Das Wissenschaftsjournal "Nature" bezeichnete Krause als "rising star in ancient-DNA research". Er lebt in Leipzig. Thomas Trappe, geb. 1981, ist Journalist und hat sich lange mit den Themen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus beschäftigt. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Axel-Springer-Nachwuchspreis ("Herausragende Leistung") ausgezeichnet. Daneben arbeitet er auch im Wissenschaftsjournalismus und berichtete mehrfach über die Forschungsprojekte von Johannes Krause, die regelmäßig internationales Aufsehen erregen. Trappe studierte in Leipzig Diplom-Journalistik mit dem Schwerpunkt Politikwissenschaften und lebt heute in Berlin.

Prof. Dr. Johannes Krause, geboren 1980, ist Experte für die Entschlüsselung der DNA aus alten Knochen. Er war Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und ist seit 2020 Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er arbeitete zusammen mit Svante Pääbo an der Sequenzierung des Neandertalergenoms, 2010 entdeckte er auf Grundlage der DNA eines Fingerknochens den Denisovaner, eine neue Urmenschenform. Heute ist Krause fokussiert auf DNA-Analyse zur Erklärung historischer Epidemien und menschlicher Wanderungsbewegungen.


Thomas Trappe, geboren 1981, wuchs in Thüringen auf und lebt heute in Berlin. Er ist Redaktionsleiter beim Berliner Tagesspiegel und schreibt vor allem über gesundheitspolitische und wissenschaftliche Themen.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Knochenjob

Ein sibirischer Finger führt uns zum neuen Urmenschen. Genetiker in Goldgräberstimmung, sie haben Wundermaschinen. Adam und Eva lebten getrennt. Der Neandertaler war eine Täuschung. Jurassic Park macht alle verrückt. Ja, wir alle sind mit Karl dem Großen

Ein Knochen auf dem Schreibtisch

Die Fingerkuppe, die ich eines Morgens im Winter des Jahres 2009 auf meinem Schreibtisch vorfand, war nur noch der klägliche Rest eines Fingers. Der Nagel fehlte, die Haut sowieso, eigentlich war es nur die Spitze eines oberen Fingerknochens, nicht größer als ein Kirschkern. Sie gehörte, wie ich später herausfand, einem fünf-bis siebenjährigen Mädchen. Die Kuppe lag in einem handelsüblichen wattierten Umschlag und kam von weit her, aus Nowosibirsk. Nicht jeder ist erfreut, wenn er noch vor dem Morgenkaffee abgetrennte Körperteile aus Russland auf seinem Schreibtisch findet. Doch ich war es.

Fast ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 2000, hatte der amerikanische Präsident Bill Clinton im Weißen Haus eine Pressekonferenz gegeben, in der, nach zehnjähriger Arbeit und Milliarden an Investitionen in das »Humangenomprojekt«, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms verkündet wurde. DNA war damals auf einmal überall Thema, die FAZ räumte ihr Feuilleton frei, um Sequenzen des menschlichen Genoms abzudrucken – eine endlose Reihe der Basen A, T, C und G, aus denen die DNA besteht. Vielen wurde in dieser Zeit schlagartig bewusst, welche Bedeutung der Genetik künftig zukommen würde. Immerhin bestand die Aussicht, in der DNA des Menschen wie in einem Bauplan zu lesen.

2009 war die Wissenschaft diesem Ziel schon sehr viel näher. Ich arbeitete in dieser Zeit als Post-Doktorand am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, auch bekannt unter dem geradezu sinnbildlichen Kürzel MPIEVA. Das Institut war damals schon die weltweit erste Adresse für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mithilfe hocheffizienter Technik die DNA aus alten Knochen sequenzieren wollten. Vorangegangen waren jahrzehntelange Kraftanstrengungen der genetischen Forschung, die es erst möglich machten, dass mithilfe des Fingerknochens auf meinem Schreibtisch die Entstehungsgeschichte der Menschheit ein wenig umgeschrieben wurde. Denn bei dem Fund aus Sibirien handelte es sich um die 70 000Jahre alten Überreste eines Mädchens, das einer bisher unbekannten Urmenschenform angehörte. Das verrieten ein paar Milligramm Knochenstaub – und eine hochkomplexe Sequenziermaschine. Nur wenige Jahre zuvor wäre es technisch undenkbar gewesen, einer winzigen Fingerkuppe zu entlocken, von wem sie stammte. Und nicht nur das zeigte uns der Knochensplitter. Wir erfuhren von ihm auch, was das Mädchen mit uns heute lebenden Menschen verband – und wie es sich von uns unterschied.

Eine Billion am Tag

Die DNA als Bauplan des Lebens ist schon seit über hundert Jahren bekannt. 1953 entdeckten James Watson und Francis Crick nach Vorarbeit von Rosalind Franklin ihre Struktur, wofür beide neun Jahre später den Nobelpreis für Medizin bekamen (Franklin war zu diesem Zeitpunkt schon verstorben, im jungen Alter von 37 Jahren). Die Medizin war es auch, die seitdem die DNA-Forschung antrieb und schließlich das Humangenomprojekt einläutete.

Ein Meilenstein, um DNA zu entschlüsseln, sie also lesen zu können, war in den Achtzigerjahren die Entwicklung der Polymerase-Kettenreaktion. Dieses Verfahren ist eine der Grundlagen heutiger Sequenziermaschinen, die die Abfolge der Basen innerhalb eines DNA-Moleküls auslesen. Seit der Jahrtausendwende entwickelten sich die Sequenziermaschinen rasant weiter. Jeder, der sich an seinen alten Commodore 64 erinnert und heute ein Smartphone nutzt, kann sich in Ansätzen vorstellen, wie rasch die Technik auch in der Genetik voranschritt.

Ein paar Zahlen lassen erahnen, in welchen Dimensionen wir uns bewegen, wenn es um die DNA-Entschlüsselung geht: Das menschliche Genom besteht aus 3,3 Milliarden Basen. Um die Erbinformationen eines Menschen zu entschlüsseln, brauchte man 2003, als das Humangenomprojekt beendet wurde, noch mehr als zehn Jahre. Heute schaffen wir in unserem Labor eine Billion Basenpaare pro Tag. Der Durchsatz der Maschinen hat sich in den vergangenen zwölf Jahren verhundertmillionenfacht, sodass wir heute auf einer einzigen Sequenziermaschine sagenhafte 300 menschliche Genome an einem Tag decodieren können. In zehn Jahren werden weltweit mit einiger Sicherheit die Genome von Millionen Menschen entschlüsselt sein; wobei die künftigen Entwicklungen bislang fast immer unterschätzt wurden. DNA-Sequenzen werden immer schneller und kostengünstiger ausgewertet und damit für alle zur Option. Mittlerweile kostet die Untersuchung eines Genoms weniger als ein großes Blutbild – gut vorstellbar, dass es für junge Eltern bald zur Routine wird, das Genom ihres Neugeborenen zu entschlüsseln. Die DNA-Sequenzierung bietet ungeahnte Möglichkeiten, etwa bei der Früherkennung genetischer Dispositionen für bestimmte Krankheiten, und das Potenzial wird steigen.

Während die Medizin Genome heute lebender Menschen entschlüsselt, um Krankheiten besser zu verstehen und auf dieser Grundlage neue Therapien und Arzneimittel zu entwickeln, nutzen Archäogenetiker die in der Humangenetik entwickelten Techniken, um archäologische Funde – alte Knochen, Zähne oder auch Bodenproben – zu analysieren und über die darin zu findende DNA Rückschlüsse auf die Herkunft längst verstorbener Menschen zu ziehen. Für die Archäologie eröffnen sich damit ganz neue Wege. Anders als bislang ist sie nicht mehr nur auf Theorien und Interpretationen angewiesen, sondern kann zum Beispiel Wanderungsbewegungen von Menschen auf Grundlage genetischer Analysen in bisher nicht da gewesener Präzision belegen. Die Entschlüsselung alter DNA ist für die Archäologie vergleichbar bedeutend wie eine andere technische Revolution, die auf die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurückgeht. Damals wurde die Altersbestimmung archäologischer Funde mit der Radiokarbonmethode auf völlig neue Grundlagen gestellt. Mit ihr konnten menschliche Überreste erstmals zuverlässig datiert werden, wenn auch nicht auf das Jahr genau. Die Archäogenetik ermöglicht es nun sogar, in Skelettfragmenten zu lesen und darin Zusammenhänge zu erkennen, von denen selbst die nichts wussten, denen die Knochen einst gehörten. Die menschlichen Überreste, von denen manche seit mehreren zehntausend Jahren in der Erde lagern, werden so zu wertvollen Boten aus der Vergangenheit. In ihnen stehen die Geschichten unserer Vorfahren geschrieben, die in diesem Buch – einige zum ersten Mal – erzählt werden.

Fortschritt durch Mutationen

Die junge Wissenschaft der Archäogenetik kann uns helfen, neue Antworten auf einige der ältesten und grundlegendsten Fragen der Menschheitsgeschichte zu finden: Was macht uns zum Menschen? Woher kommen wir? Und wie wurden wir zu denen, die wir heute sind?

Einer der wichtigsten Pioniere des Fachs ist Svante Pääbo, seit 1999 Direktor des MPI-EVA in Leipzig. Von Haus aus Mediziner, extrahierte Pääbo 1984 während seiner Promotion an der schwedischen Universität Uppsala – mehr oder weniger heimlich nachts im Labor – DNA aus einer ägyptischen Mumie. Es war der Beginn einer großen Karriere. 2003 nahm Pääbo mich in Leipzig als Diplomand an Bord. Als es zwei Jahre später darum ging, ein Thema für meine Doktorarbeit zu finden, schlug er mir vor, zusammen mit seinem Team das Neandertalergenom zu entschlüsseln. Ein Wahnsinn eigentlich: Beim damaligen Stand der Technik hätte ein solches Unternehmen Jahrzehnte in Anspruch genommen, zudem hätten wir gleich Dutzende Kilogramm wertvoller Neandertalerknochen zermahlen müssen. Doch ich vertraute Pääbo und seiner Fähigkeit, das Projekt realistisch einzuschätzen. Ich nahm den Auftrag an. Die Entscheidung erwies sich als richtig. Dank der atemberaubend schnellen Entwicklung der Sequenziertechnik schlossen wir die Arbeit drei Jahre später ab, und zwar mit sehr viel weniger Knochenarbeit.

In dieser Zeit gelangte auch das Stück Finger aus dem Altai zu mir. Solche Knochen sind die Datenträger der Archäogenetik, aus denen wir viele Schlüsse ziehen können. Zählte der Urmensch, dem der Knochen gehörte, zu unseren direkten Vorfahren oder starb seine Linie irgendwann aus? Wie unterscheidet sich sein Erbgut von unserem? Die Genome von Urmenschen werden damit zur Schablone, auf die wir unsere heutige DNA legen. Als Wissenschaftler interessieren uns die Stellen, an denen die Schablone nicht mehr passt. Das nämlich sind die Positionen, auf denen sich unsere DNA verändert hat, wo sie mutiert ist. Wenn das Wort in vielen Ohren auch einen unangenehmen Beiklang haben mag, so sind Mutationen doch der Motor der Evolution und der Grund dafür, dass sich Mensch und Schimpanse heute einander durch einen Zaun getrennt im Zoo bestaunen. Für die Archäogenetik sind Mutationen die Marksteine der Menschheitsgeschichte.

In der Zeit, die Sie zum Lesen dieses Kapitels benötigen, wird sich die DNA in Millionen Ihrer Körperzellen chemisch verändern, weil sie fortwährend kaputtgeht und wieder erneuert werden muss, auf der Haut, im Darm, überall. Wenn dabei etwas schiefgeht, spricht man von Mutationen. Sie passieren sehr häufig, was angesichts der dichten Frequenz der Zellerneuerungen nicht überrascht. In der Regel werden Mutationen vom Körper sofort repariert, doch das funktioniert nicht immer. Treten Mutationen in den Keimzellen des Menschen auf, also in Spermien und Eizellen, können sie als Erbanlage an die nächste Generation weitergegeben werden. Dabei greift eine körpereigene Schutzfunktion: Keimzellen mit Mutationen, die schwere Krankheiten verursachen, sterben zumeist ab. Bei kleineren Mutationen muss das hingegen nicht passieren. Dann wird eine genetische Veränderung unter Umständen vererbt.

Genetische Veränderungen, die zu mehr Nachkommen führen, verbreiten sich in Populationen schneller, weil sie häufiger weitergegeben werden. Dass der Mensch zum Beispiel weniger Haare hat als sein entfernter Cousin, der Menschenaffe, ist wohl Folge von mehreren Mutationen – statt Haaren entwickelten sich Schweißdrüsen. Mit diesem neuen Kühlsystem konnte der spärlich behaarte Urmensch ausdauernder laufen, besser jagen und flüchten, lebte folglich länger und hatte größere Chancen, sich fortzupflanzen. Urmenschen mit Erbanlagen, die für mehr Haare sorgten, hatten hingegen das Nachsehen und starben aus. Die meisten Mutationen sind allerdings nicht zielgerichtet und führen nirgendwohin. Entweder haben sie überhaupt keinen Effekt auf den Organismus, oder aber sie schaden ihm und werden negativ selektiert, das heißt aussortiert. Die seltenen Ausnahmen, in denen sich die Veränderungen als nützlich für Überleben und Fortpflanzung erweisen, werden hingegen positiv selektiert. Solche Mutationen verbreiten sich und treiben die Entwicklung permanent voran. Die Evolution ist damit ein Zusammenspiel von Zufällen unter den Bedingungen eines fortlaufenden Praxistests.

Es grüßt der Urmensch

Der Blick ins Erbmaterial alter Knochen gleicht für Archäogenetiker der Reise in einer Zeitmaschine: Anhand der DNA unserer Vorfahren, die vor mehreren Zehntausend Jahren gelebt haben, können wir erkennen, welche Mutationen sich seitdem in den heute lebenden Menschen durchgesetzt haben und welche Eigenschaften verloren gingen. Auf solche Erkenntnisse hofften wir, als wir den Fingerknochen aus Russland analysierten.

Anatoli Derevjanko, einer der renommiertesten Archäologen Russlands, fand den 70 000 Jahre alten Knochen in der Denisova-Höhle, also auf knapp 700Metern Höhe im Altai. Das Gebirge liegt mehr als 3500 Kilometer östlich von Moskau an der russischen Grenze zu China, Kasachstan und der Mongolei und damit mitten in Asien. Die Denisova-Höhle ist nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel, sondern seit Jahren auch eine Fundgrube für Wissenschaftler, die hier regelmäßig Knochen und allerlei von Menschenhand bearbeitete Gegenstände aus der Steinzeit finden. Dabei ist es ein großer Vorteil, dass es im Altai so sibirisch ist, wie man es sich nur vorstellen kann, denn die Kälte konserviert die Funde besonders gut. Seit Svante Pääbo, ein paar Kollegen und ich Anfang 2010 in die Region kamen, um Derevjanko zu treffen, weiß ich, dass auf der Haut bei 42 Minusgraden Eiskristalle wachsen können.

Im Leipziger Labor durchlief der Fingerknochen aus dem Altai das zigfach geübte Verfahren. Dabei wird ein kleines Loch in den Knochen gebohrt, der gewonnene Knochenstaub kommt in eine spezielle Flüssigkeit, in der sich schließlich die DNA-Moleküle aus dem Puder lösen. Viele Versuche hatten wir in diesem Fall nicht, denn wir konnten nur zehn Milligramm Knochenpulver extrahieren, das entspricht einem Brotkrümel. Wir gingen davon aus, es mit einem gewöhnlichen Knochen eines modernen Menschen zu tun zu haben, vielleicht auch mit dem eines Neandertalers. Plötzlich aber spuckte die Sequenziermaschine Ergebnisse aus, mit denen ich zunächst nichts anfangen konnte. Die DNA passte weder zu der des modernen Menschen noch zu der des Neandertalers. Eilig trommelte ich unser Team zusammen, um die rätselhaften Ergebnisse zu präsentieren. »Welchen Fehler habe ich gemacht«, fragte ich. Zusammen gingen wir die Daten wieder und wieder durch. Doch am Ende war klar: Ich hatte mich nicht geirrt. Als ich später meinen Chef anrief, bat ich ihn, sich kurz zu setzen. »Svante, ich glaube, wir haben den Homo erectus gefunden.« Der Homo erectus ist der gemeinsame Vorfahre von modernem Menschen und Neandertaler, von ihm gibt es bislang keine entschlüsselte DNA. Wir wären, so dachte ich damals, also die Ersten, denen das gelang.

Was hatten wir in der DNA des Fingerknochens gesehen? Sie unterschied sich auf doppelt so vielen Positionen vom Erbgut heutiger Menschen wie die DNA des Neandertalers von der unseren. Das musste heißen, dass der Mensch aus der Denisova-Höhle und der Neandertaler schon länger getrennte evolutionäre Wege gingen als Neandertaler und moderner Mensch. Unsere damaligen Berechnungen legten nahe, dass sich vor etwa einer Million Jahren aus dem Homo erectus in Afrika zwei getrennte Linien entwickelten. Aus der einen entstanden Neandertaler und moderner Mensch, die andere entwickelte sich in Asien zum Denisova-Menschen weiter. Und das warf vieles von dem, was bisher als gesicherte Erkenntnis der evolutionären Forschung gegolten hatte, über den Haufen, unter anderem die Gewissheit, dass vor 70 000 Jahren neben frühem modernen Mensch und dem Neandertaler keine weiteren Urmenschenformen auf dem Planeten lebten.

Die Daten führten uns aber in die Irre, was wir jedoch damals noch nicht wussten. Und so erzählten wir in unserer ersten Denisova-Publikation, die im März 2010 in der Nature – dem heiligen Gral der Fachzeitschriften – erschien, eben diese Geschichte. Über mich brach sofort die Welt herein, ich erinnere mich noch, wie mehrere Kamerateams gleichzeitig in unserem Labor standen. Eine Woche lang gab ich durchgehend Telefoninterviews zur Entdeckung des »Denisovaners«, wie wir unseren Urmenschen getauft hatten. Doch schon nach wenigen Wochen hegten wir erste Zweifel, ob mit den Daten, die wir gerade publiziert hatten, alles stimmte. Oder besser gesagt: ob wir sie richtig interpretiert hatten.

Halb Schrott, halb Bauplan

Wenn wir von den Genen des Menschen reden und damit das Genom meinen, ist das wissenschaftlich eigentlich nicht korrekt – nur ein sehr geringer Teil der 3,3 Milliarden Basenpaare unseres Genoms sind Gene. Diese zwei Prozent sind dafür zuständig, Proteine zu codieren, sind also die Pläne für rund 30 Billionen Zellen, die Bausteine unseres Körpers. Nur etwa 19 000 Gene hat der Mensch insgesamt, und das ist eine erstaunlich geringe Zahl. Eine Amöbe, also ein winziger Einzeller, hat 30 000 Gene, eine gewöhnliche Kiefer mehr als 50 000. Die Zahl der Gene allein ist aber nicht ausschlaggebend dafür, wie komplex ein Lebewesen ist. Denn bei Organismen mit Zellkern können Informationen aus einem Gen zu unterschiedlichen Bausteinen kombiniert werden, das Gen ist nicht zwingend nur für eine Funktion im Körper zuständig. Bei primitiveren Lebewesen, zum Beispiel Bakterien, wird hingegen aus einem Gen meist nur ein Baustein gebildet, der in der Regel auch nur eine Aufgabe übernimmt. Man könnte auch sagen, dass die Gene der Menschen, aber auch der meisten Tiere, ein sehr kleines Team mit extrem gutem Teamplay sind.

50 Prozent des menschlichen Genoms sind – wie bei einer viel zu großen Festplatte – mit Schrott belegt, also mitDNA-Sequenzen, die keinen für uns sichtbaren Zweck erfüllen. Neben den Genen spielen die molekularen Schalter eine wichtige Rolle, sie machen ungefähr zehn Prozent der äußerst komplexen Genomstruktur aus. Diese Schalter werden durch »Transkriptionsfaktoren« aktiviert und deaktiviert und sorgen dafür, dass jeder Teil des Körpers die richtigen Proteine herstellt – und sich etwa die Zellen in der Fingerkuppe nicht für Magenzellen halten und Säure produzieren. Denn grundsätzlich enthalten alle Zellen eines Menschen die gleichen Informationen, aus denen die relevanten erst einmal herausgefiltert werden müssen.

(Continues…)


Excerpted from "Die Reise unserer Gene"
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Excerpted by permission of Ullstein Buchverlage.
All rights reserved. No part of this excerpt may be reproduced or reprinted without permission in writing from the publisher.
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Table of Contents

Über das Buch und die Autoren,
Titelseite,
Impressum,
PROLOG,
KAPITEL 1,
Ein Knochen auf dem Schreibtisch,
Eine Billion am Tag,
Fortschritt durch Mutationen,
Es grüßt der Urmensch,
Die Mutter aller Gene,
Die wilden Jahre sind vorbei,
Die Mär vom Urvolk,
Die Reise von Pest und Cholera,
KAPITEL 2,
Urmenschen-Sex,
Das Problem mit der Inzucht,
Die Festung Europa fällt,
Giftiger Regen am dunklen Horizont,
Eine Brücke nach Osten,
KAPITEL 3,
Ein Platz an der Sonne,
Das einfache Leben in der Wildnis,
Natürliche Verhütung, archaische Rituale,
Pioniere der Gentechnik,
Die Leiche im Keller,
Helle Haut als Fleischersatz,
Die unverwüstliche Balkanroute,
KAPITEL 4,
Jäger auf der Flucht,
Stress und ungesunde Ernährung,
Steigende Gewaltbereitschaft auf engem Raum,
Schwedische Traktoren,
»Genetische Fossilien« auf Sardinien,
Das Zeitalter der Infektionskrankheiten beginnt,
KAPITEL 5,
Cowboys und Indianer,
Die Vier-Komponenten-Europäer,
Ein schwarzes Loch von 150 Jahren,
Die Spätfolgen nationalistischer Geschichtsschreibung,
Männliche Dominanz,
Die Milch macht's,
Aufbruch zur Massentierhaltung,
KAPITEL 6,
Sprachlose Knochen,
Vulkanausbruch auf Santorin,
Kein Slawisch in Großbritannien,
Sprache ist Mathematik,
Wurzeln im Iran,
Sprache als Herrschaftsinstrument,
KAPITEL 7,
Fortschritt durch Bronze,
Die Erfindung des Patriarchats,
Konsumgesellschaft und Massenproduktion,
Das Ende des Einzelkämpfers,
Der Fruchtbare Halbmond,
Das Fundament steht,
KAPITEL 8,
Der Mensch ist die neue Fledermaus,
Der arme Floh,
Hilfe vom Pentagon,
Die Pest folgt der Migration,
Auf dem Rücken der Pferde,
Spätrömische Zustände,
Grenzen dicht, Misstrauen gegen Fremde,
Der Angriff des Klonkriegers,
Zurück zu den Wurzeln,
KAPITEL 9,
Tod im Sammellager,
Lepra in Londoner Parks,
Die Lepra geht, die Tuberkulose kommt,
Eine hundertjährige Todeswelle,
Die Täuschungen der Syphilis,
Unterschätzte Gefahr,
SCHLUSS,
Keine Romantisierung, kein Fatalismus,
Die Sehnsucht nach Wald und Wiese,
Ist die Genetik rehabilitiert?,
Nationale Grenzen sind keine genetischen,
Afrika, der schwarze Block,
Volk und Rasse waren einmal,
Die beschränkte Kraft der »Intelligenzgene«,
Die Verlockungen des Menschen-Designs,
Grenzenlos,
Quellen,
Danksagung,
Bildnachweis,
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