Der Wundertäter: Roman-Trilogie

Der Wundertäter: Roman-Trilogie

by Erwin Strittmatter
Der Wundertäter: Roman-Trilogie

Der Wundertäter: Roman-Trilogie

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Overview

Die Trilogie einer Epoche. Mit Poesie, Menschenkenntnis und Humor schildert Erwin Strittmatter in seiner zwischen 1957 und 1980 entstandenen Trilogie den dornenreichen Weg eines Bäckergesellen zum Schriftsteller. Er schuf damit eines der großen und meistdiskutierten Werke der deutschen Literatur: Der letzte Band konnte erst nach einem langen Kampf mit der DDR-Zensur erscheinen. 'Ich glaube doch, dass es in der Ordnung war, die Geschichte eines Dichters in unserer Zeit zu schreiben, zu beschreiben, wie arm er dran ist, und ich schreib das, obwohl ich weiß, dass der Dichter zu keiner Zeit 'reicher' dran war.' Erwin Strittmatter am 25. April 1978 in seinem Tagebuch



Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt 'Ochsenkutscher' (1950), der Roman 'Tinko' (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie 'Der Laden' (1983/1987/1992).

Product Details

ISBN-13: 9783841217448
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 01/18/2019
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 1638
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt „Ochsenkutscher“ (1950), der Roman „Tinko“ (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie „Der Laden“ (1983/1987/1992).

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Stanislaus kommt in Waldwiesen zur Welt, verbraucht vor seiner Geburt teures Winterholz, und sein Vater Gustav verprügelt die Hebamme.

Der Herr der Wälder hob die Hand. »Halt!« Die hagere Hand pendelte zwischen den Baumzweigen wie eine gespenstische Frucht. Der Mann mit dem Handwagen blieb stehn. Furcht duckte ihn, er sah auf das Waldgras vor seinen Füßen. Den blinkenden Tau an den Halmen sah er nicht. Der Kuckucksruf wehte ungehört an seinem Ohr vorüber.

Der Förster verließ sein Fichtenversteck und ging auf den Mann zu. Seine Blicke schienen das Leseholz auf dem Handwagen auseinanderzukratzen. Der Mann war der Glasmacher Gustav Büdner; der Handwagen gehörte ihm und enthielt seine letzte Leseholzfuhre für jenes Jahr.

Der Förster entdeckte unter dem Leseholz einen zersägten Trockenstamm. Nun zog er sein Notizbuch und schrieb etwas hinein. Gustav Büdner starrte auf den langen Nagel am Zeigefinger des Försters. Wozu braucht ein Mensch einen so langen Fingernagel? Braucht er ihn zum Ausräumen seiner Baumelpfeife? – Der Förster ging bis zu einem Baum am Waldrand, bückte sich dort und ritzte mit dem langen Fingernagel ein Kreuz auf den Waldboden. »Hier abladen!«

Es kam ein Strafschein über einen Taler: » ... wegen des Versuchs, aus den gräflich Arnimschen Waldungen ein Viertel Klafter Nutzholz zu entwenden ... Waldwiesen, 12. July 1909. Der Amtsvorsteher: Duckmann.« – Auf Nimmerwiedersehn, du liebes Talerstück!

Der Straftaler brachte die schmale Haushaltskasse der Büdners in Unordnung. Es konnte keine Erlaubnis zum Blaubeerensammeln von der gräflichen Forstverwaltung gekauft werden. Lena, die Frau, mußte die drei Mark in der Blaubeerzeit mit täglichem Angstschweiß bezahlen. Sie fürchtete den schnüffelnden Forsteleven, und dabei pochten zwei Herzen in ihrem Leibe.

Sollte Gustav Büdner den Taler ohne Zucken und Mucken rollen und das Holz des Trockenstammes, die letzte Fuhre Leseholz liegenlassen, wo sie lag? Nein. Gustav spielte an einem Sonntag mit den Kindern Auto. Jedes Kind schnurrte in einer anderen Tonart. Gustav war der Herr, der die Autos in alle Welt aussandte. Er ließ sie zu einer ganz bestimmten Stelle schnurren, zu der Stelle, an der der Förster mit langem Fingernagel ein Kreuz in die Erde geritzt hatte. Jedes ausgesandte Auto mußte einen Knüppel Leseholz von dort mitbringen. Für die Sägstücke des Trockenstammes stellte Gustav sogar ein Lastauto, ein kräftiges Lastauto aus zwei Kindern, zusammen. Er mußte das den Kindern lange erklären; sie hatten das hochrädrige Auto des Grafen, aber noch kein Lastauto gesehen. Solche Wirrnis um das Winterholz, solche Ungelegenheiten!

Der Mensch Gustav Büdner hing durch eine Reihe lebenskräftiger Väter wie durch eine gute Nabelschnur an der Welt. Sein Vater, Gottlob Büdner, hatte Gustavs Großmutter, die eine Magd war, zu früh zur Kindsfreude hingestoßen. Sie war noch nicht reif für diese Freude, noch nicht bemannt, noch nicht auf Muttersorgen gerichtet gewesen. Deshalb sollte und sollte er nicht sein. Er aber trotzte den giftigen Absuden, die sie trank, dem heißen Rotwein mit Nelken, den Sprüngen vom Melkschemel im Kuhstall und selbst dem kühnen Griff der Abtreibemuhme.

Er kam in diese Welt und ließ sich nicht zurückhalten.

Der Vater des Gottlob Büdner trotzte sein Leben dem preußischen Prügelstock des Grafen Arnim ab. Er entsprang dem Sterbelager, auf das ihn gräfliche Ziemerhiebe geworfen hatten, mit einem Humpelbein.

Der Großvater des Gottlob Büdner entrann den Pocken mit einem narbigen Gesicht, und dessen Vater hinwiederum steuerte sein hartholzenes Lebensboot durch die Pestwogen. Kurzum, die Büdners trotzten Tod und Verderben wie die Unkräuter am Wegrand, deren Lebenskraft der Stunde ihrer Entdeckung und Verwendung zuharrt.

Drei Wochen nach dem Einbringen der letzten Leseholzfuhre hastete Gustav Büdner eines Abends von der Arbeit. Fünf schnelle Schritte, dann ein Sprung! So kam er aus dem Wald in die Feldmark. Der Waldweg war schattig, auf dem Feldweg glitzerte der Sand in der Sonne. Büdner kniff die Augenlider zusammen und sah zu seinem Kartoffelstück hinüber, einem Streifen Sandland, auf dem die Stauden kümmerten. Am Feldrand sollte ein beladener Handwagen stehn. Büdner wollte ihn heimzerren. Es stand kein Handwagen dort. Seine Lena hatte kein Unkraut für die Ziegen gerupft! Im Walde hatte Gustav noch ein dummes Liedchen gepfiffen: »Ein Vogel singt vor Lust und Lieb, doch ist sein Nest erst voll Gepiep, ists mit dem Singen aus ...« Jetzt aber nistete sich der Ärger wie eine schwarze Waldspinne zwischen seinen Gedanken ein.

Da lag das Vorwerk – fünf Häuser stark –‚ und bei jedem Haus in einem Nest von Bäumen ein kleineres, ein Hausjunges, der Stall. Aus dem Schornstein auf Büdners Hausdach stieg eine zerzauste Qualmwolke. Die Lena verpraßte also das Winterholz, das teure, umständlich erworbene Winterholz! Die schwarze Ärgerspinne übernetzte Gustavs Gedanken ganz und gar. Am liebsten wäre er wie ein Tier auf allen vieren getrabt, um schneller daheim zu sein. Wie oft hatte er Lena anbefohlen, die Futterkartoffeln mit dem Mittagbrot zusammen abzukochen. Wieder hatte sie es unterlassen und kochte nun volldämpfig, um ihre Nachlässigkeit zu verbergen. Oh, die verdammte Nähfummelei! Ach, die verfluchte Lesewut seiner Frau! Er hatte nichts gegen das Nähen. Es mußte sein. Der Mensch konnte nicht mit bläkenden Löchern in seinen Kleidern unter dem hellen Himmel einhergehen. Er hatte auch nichts gegen das Lesen. Das Lesen half zuweilen die zwickenden Nöte vergessen. Er hatte aber gegen Nähen und Lesen etwas, wenn es am Tage geschah. Nähen war eine Ausruhbeschäftigung für den Abend, und den nagenden Nöten konnte man am Tage durch strenge Arbeit entkommen. – Der Zorn lag Gustav wie ein praller Sack im Rücken. Er stolperte auf dem glatten Fußsteig, da rief eine dunkle Kinderstimme: »Brauchst nicht zu sputen; er ist noch nicht da!«

Seine Tochter Elsbeth saß in der Wildfliederhecke. Gustav hielt so plötzlich ein, daß der Rest Gerstenkaffee in der Rucksackflasche gluckste. »Wer ist nicht da?«

»Der Neue.«

»Welcher Neue?«

»Ich hab die Tante Schnappauf holen müssen. Sie wartet mit der Mutter auf den Storch.«

Gustav lief schon wieder. War auf die Weiber Verlaß? Lena hatte auch den Decktag der jungen Ziege nicht aufgeschrieben.

Geschrei und Gekreisch. Gustav fuhr herum wie ein Wetterhahn bei Sturm. Hinter ihm trappelten seine sechs Kinder und schubsten einander; jedes wollte den neuen Jungen zuerst sehn. Herbert plumpste in den Mahlsand und schrie. Paul stolperte über ihn und kreischte. Elsbeth rannte zu Hilfe und barmte. Gustav fuchtelte. »Zurück, zurück zum Flieder! Erst wenn ich pfeife, kommt ihr!«

»Was wirst du pfeifen?«

»Der Jule hat sein Geld verjuxt ...«

Das Hoftor breit auf, die Gartenpforte breit auf.

»Das sieht nach Zwillingen aus. Gott, sei ein Kerl und steh mir bei!« räsonierte Gustav.

Die Viehkartoffeln lagen gekocht im Futtertrog. Aus dem Schornstein qualmte es fort und fort. Man siedete das Badewasser. Gustav raffte rohe Kartoffeln ein. Weshalb sollten nicht auf der gleichen Glut Viehkartoffeln für den nächsten Tag kochen? Den Topf vorn, den Rucksack hinten – so ging Gustav in die Küche und der Geburt eines weiteren Kindes entgegen.

Der Schlüssel knirschte im Schloß. Die Hebamme kam aus der Schlafstube. Sie war dick und rotgesichtig – die Gesundheit selber –‚ eine Mutter des Lebens. »Ein schöner Junge wieder, Gustav!«

Für Gustav war die Hebamme mit dem Totengräber verwandt. Anderer Leute Leid – ihre Freud. Hebamme und Totengräber arbeiteten auf die Länge des Lebens Hand in Hand; sie holte die Menschen in die vertrackte Welt, jener schaffte sie hinaus. Bezahlen mußten die anwesenden Weltbewohner. – Gustav rückte die Töpfe auf dem Herd zurecht und sah die Zubringerin des Grabgräbers nicht einmal an. »Geh mir los, Windelhexe!«

Die Hebamme plantschte lustig im dampfenden Wasser. »Neun Pfund der Junge diesmal, Gustav!«

Gustav fuhr sich mit einem ausgebrochenen Kamm durch seinen Haarstutz. »Gib zu, daß dich die kleinen Leute nähren!«

Die Hebamme trocknete sich die Hände ab. Ihr Gesicht glich dem eines Pferdehändlers, der gut verkauft hat. »Jeder Erdenmensch dankt Gott, schenkt der ihm Kinder mit gesunden Gliedern.«

Gustavs Hand zitterte. Der Scheitel in seinem Haarklecks über der Stirn wurde schief. »Gesteh, daß dich die kleinen Leute fröhlich machen!«

Das Gesicht der Hebamme wurde purpurn. »Nein!« Sie warf ihre Instrumente hastig in die Tasche.

»Dann zahlen andre besser, hä?«

»Ich weiß von keinen andren. Halt das Maul!«

»Ich meine die, die schon im zweiten Monat nach dir schicken.«

An der Nasenwurzel der Hebamme erschien ein Zornwulst. Gustav kämmte vor Aufregung sogar sein Bärtchen. »Bekenne, daß du Engel und Menschen aus Weiberleibern holst, je wann man dich bezahlt, früh oder spät.«

Die Hebamme streifte die Ärmel wieder hoch. »Wie meinst du das?«

»Bar auf der Hand ersetzt den Verstand. Von kleinen Leuten wird Verstand verlangt, aus deinen Bündelkindern rechte Menschen herzurichten.«

Die Hebamme packte Gustav. Gustav packte die Hebamme. Sie rangen miteinander, bis an der Hebammenjacke die Knöpfe absprangen. Die dicken Brüste der Wehmutter quollen aus dem Hemdlatz.

»Das schreckt mich nicht!« schrie Gustav und packte das dralle Weib bei den Hüften. Die Wehfrau krallte sich blauwütig in Gustavs frischgesträhltes Haarbüschel. Geächz und stummes Ringen – ein Wassereimer schepperte zu Boden. Das kalte Wasser beschwappte die Kugelwaden der Wehmutter. Sie kreischte: »Dank deinem Gott, daß ich von Amts wegen keine langen Fingernägel nicht haben darf!«

Die Schlafstubentür sprang auf. Lena erschien bei den Raufenden, Lena – zitternd mit wäschebleichem Gesicht. Gustav und die Hebamme flogen wie Kampfhähne auseinander. Die Hebamme fuhr zerzaust in ihre Amtsobliegenheiten. »In dein Bett, Lena! Mit dem da werd ich fertig, zur Leiche dresch ich ihn!«

Lena weinte nicht. Es war keine Träne mehr in ihr. Sie wrang die Hände; ihre ausgelaugten Lippen zitterten. Gustav packte sie, bevor sie umsank.

Der zerkratzte Mann saß auf dem Bettrand bei der Wöchnerin. »Man wird doch noch die Wahrheit sagen dürfen.«

»Nicht immer.«

»Immer nicht?«

»Die Wahrheit braucht ein gares Feld zum Keimen.«

»Woher nun diese Weisheit wieder, Frau?«

»Aus einem Buch.«

»In Büchern ist das Leben zahnlos.« Gustav streichelte die Hand seines Weibes. Sein Daumen hatte einen Hornbuckel. Das Blasrohr in der Glashütte hatte ihn herausgefordert. »Wie halten wir's jetzt mit der Taufe?«

Lena schloß die Augenlider. Aus ihrem blutleeren Körper kam Musik. Nur für sie. Gustav hockte wie ein Holzklumpen auf der karierten Zieche und dachte. Er konnte nicht denken, ohne zu reden. »Taufe, Taufe ... wozu muß ein Mensch getauft sein, hä? Damit sich andre bei der Feier vollfressen? Ich hab einen gekannt, den hatte kein Pfarrer aus dem Taufstein benäßt. Er hatte nicht mehr zu leiden als unsereiner. Er stand mit mir in der Fabrik und kam aus Polen oder da woher. Man hatte ihn vergessen abzutaufen. Er war sogar von Gott begünstigt und fraß Glas. Sobald er einen sitzen hatte, ernährte er sich spielend. Vorspeise meist ein Schnapsglas, die Hauptmahlzeit ein Bierglas. Die Gaffer zahlten ihm die Gasthauszeche. So sparte er sich manches Mittagessen.«

Lena kam wieder zu sich. Sie schaute ihren Mann an, wie wohl Mütter in aller Welt nach Geburten ihre Männer anschaun: Er war ein Zauberer, ein Wind, der in den Kirschbaum fährt und die staubbedeckten Leiber der Bienen an die Blütenpollen drückt. Ein Wind, der große Veränderungen bewirkt.

Gustav versuchte es noch einmal. »Es gibt ganze Völker, die sind nicht abgetauft. Sie haben keine Kosten.«

Lena versuchte sich aufzurichten. »Wir nehmen reiche Paten!«

»Wenn das gelänge!«

Gustav ging vor die Tür und pfiff: »Der Jule hat sein Geld verjuxt ...« Aus der Wildfliederhecke flatterten die Kinder. Er stampfte mit dem Handwagen zum Kartoffelacker. Für vierzehn Tage mußte er die Arbeit seines Weibes mit vertilgen.

Die Hebamme kam nicht mehr. Das Geburtsgeld trieb der Gemeindediener für sie ein.

CHAPTER 2

Stanislaus erhält den Namen eines Glasfressers. Der Pastor umsorgt seine Seele und versetzt Mutter Lena in Teufelsangst.

Die Büdners berieten den Namen des neuen Jungen. Vater Gustav zählte seine Söhne. Sein Daumen hieß Erich, sein Zeigefinger Paul, Artur der Mittelfinger, der Gold- und der Kleinfinger hießen Willi und Herbert.

»Jetzt brauchen wir einen Stanislaus«, sagte er.

»Ich hätte an einen Bodo gedacht«, sagte Lena.

»Bodo? Ein großer Hund könnte zur Not Bodo heißen.« Gustav schaukelte den vierjährigen Herbert auf dem Schoße.

»Stanislaus heißt kein Mensch in der Welt. Wir brauchen einen Günther. Alle Leute haben schon Günthers.« Elsbeth, die Älteste, stemmte die Hände in die Hüften.

Gustav sprang auf, setzte den Jungen ab und marschierte mit baumelnden Hosenträgern in der Küche hin und her. »Handelt es sich um deinen Jungen? Wie alt bist du überhaupt?«

»Dreizehn.«

»So! Stanislaus, das war ein Glasfresser!«

Lena versuchte es noch einmal mit Bodo. »Er war ein Geigenkünstler.«

»Wo?«

»Im Buch, das mir die Vogtsfrau gab. Er strich dreimal über die Geige, und alle Frauen tanzten.«

Gustav trat sich auf die Hosenträger. »Und die Männer?«

»Sie haßten ihn.«

»Da hast du's. Bodo geht nicht. Der hier wird Stanislaus heißen und kein Gramm weniger!«

Elsbeth verkroch sich in der Herdecke. »Sie werden ihn Laus rufen. Stangenlaus werden sie ihn beniemen.«

Gustav starrte auf eine Fliege an der Küchenwand und sagte: »Bloß bis er anfängt, Glas zu fressen!«

Der Standesbeamte schob die Brille hoch. Eine große bläuliche Warze auf seiner Stirn sorgte dafür, daß sie nicht zurückrutschte. »Stanislaus? Ist das nicht ein bißchen zu polnisch?«

Gustav Büdner fuchtelte mit der Mütze. »Stanislaus steht im Kalender!« »Wär Wilhelm nicht ein Name für dein Kerlchen? Schon seitenlang kein Wilhelm im Register.« Der Standesbeamte putzte die Schreibfeder an der Löschwiege.

Gustav wurde unleidlich. Alle Welt hatte etwas gegen seinen Stanislaus. »Wilhelm kann jeder Popanz heißen. Der meine, der heißt Stanislaus. Du hast ihn nicht gemacht.«

Der Standesbeamte rieb sein wulstiges Ohrläppchen. »Bei den Sozialdemokraten bist du nicht, Büdner, wie?«

»Geh mir mit Spezialkameraden! Ich bin, der ich bin, und Stanislaus wird Stanislaus und ein Glasfresser sein!«

»Und du weißt nicht, wer Wilhelm heißt?«

»Der Name steht nicht im Kalender.«

Der Standesbeamte schrieb widerwillig ins Register: » ... ein Kind auf den Namen Stanislaus ...«

Gustavs Gruß blieb unbeachtet, als er ging.

Mit der Taufe sollte gewartet werden. Die Haushaltskasse!

Ein halber Wartemonat war herum, da klopfte der Pastor leise und heilig an Büdners Tür. Gustav hockte mit halb eingeseiftem Rasiergesicht vor dem zerschrundenen Familienspiegel. Der Pastor trampte auf blanken Lederschuhen in die Küche. Eine emaillierte Kindertasse mit dem Bild vom Kaiser Wilhelm rutschte Lena aus der Hand. Die Emaille splitterte. Kaiser Wilhelm hatte keinen Stehbart mehr, aber ein großes Maul. Der Pastor nestelte am Kragen seines schwarzen Rockes. Er steckte den dicken Zeigefinger hinter den weißen Stehkragen und leitete auf diese Weise seiner bebenden Brust etwas Frischluft zu. Auf dem gestärkten Kragen saß sein hochroter Kopf, ein Rotkohlkopf, und darauf ein schwarzer Hut. Der Himmelsgesandte plumpste auf einen Küchenstuhl und mit dem heiligen Gesäß fast in die Waschschüssel. »Der Frie ...‚ der Friede sei mit euch, Gottes Segen auch!«

Gustav fuhr sich mit der Hand über die beseifte Wange und warf die Rasiersahne zum Fenster hinaus. Lena band ihre Schürze ab, wendete die innere Seite nach außen und band sie wieder um.

»Bist du es, die Lena, die Nähterin auf dem Schloß war?«

»Diese bin ich, Herr Pastor.«

»Daß wir uns so lang nicht sahn, mein Kind.«

»Man hat sein Getu. Sieben Kinder, Herr Pastor.«

»Der Herr segnet euch. Sieben Kinder, sagst du, mein Schaf Lena? Habe ich sie alle oder hat anderswer eins weggetauft? Mich deucht, ich hätte sechs von den deinen, sechs und nicht mehr getauft.«

»Zu dienen, Herr Pastor, das siebente ist noch ein Frischling.«

Der Pastor sah Gustav an. »Wer bist du, mein Sohn?«

»Er ist mein Mann, Herr Pastor.« Lena schob trockenes Holz, zweimal gestohlenes Holz, für ein Kaffeefeuer ins Herdloch.

Der Pastor ließ kein Auge von Gustav. »Mein Sohn, reich mir die Hand!«

Gustav tat, wie ihm befohlen. Der Pfarrer sah auf die am Herd kniende Lena herab. »Ist er ein Heide, dein Mann? Ich sah ihn nie in der Kirche.«

»Ein Heide ist er nicht, Herr Pfarrer.«

»Wie alt ist dein Jüngstes, mein Pfarrkind Lena?«

»Zwei Wochen und einen Tag.«

»Wie wird es heißen?«

»Es wird Stanislaus heißen, Herr Pastor.«

»Stanislaus? Nicht genug, daß es zwei Wochen alt und immer noch ein Heide ist, auch noch Stanislaus?«

»Der Name steht im Kalender.« Gustav sagte es drohend.

»Schäm dich, neunmalgescheite Seele! Stanislaus, ein katholischer Name und so gut wie heidnisch.« Der fromme Mann patschte sich mit den Würstchenfingern das rote Gesicht ab. »Lena, wie lang warst du Nähterin auf dem Schlosse?«

»Sieben Jahre, Herr Pastor.«

(Continues…)


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Erster Band,
I Wenn die Bäckervögel singen ...,
II Mancher ist lange unterwegs ...,
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