Der Wal und das Ende der Welt: Roman

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Overview

Der #1 SPIEGEL-Bestseller. Das Buch der Stunde, das uns Hoffnung macht.

Ein kleines Dorf. Eine Epidemie und eine globale Krise. Und eine große Geschichte über die Menschlichkeit.

»Abenteuerlich und ergreifend.« Stern
»Dieser Roman gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück.« Elle

Erst wird ein junger Mann angespült, und dann strandet der Wal. Die dreihundertsieben Bewohner des Fischerdorfs St. Piran spüren sofort: Hier beginnt etwas Sonderbares. Doch keiner ahnt, wie existentiell ihre Gemeinschaft bedroht ist. So wie das ganze Land. Und vielleicht die ganze Welt. Weil alles mit allem zusammenhängt.
John Ironmonger erzählt eine mitreißende Geschichte über das, was uns als Menschheit zusammenhält. Und stellt die wichtigen Fragen: Wissen wir genug über die Zusammenhänge unserer globalisierten Welt? Und wie können wir gut handeln, wenn alles auf dem Spiel steht?


Product Details

ISBN-13: 9783104910307
Publisher: FISCHER E-Books
Publication date: 03/27/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 480
File size: 6 MB
Language: German

About the Author

John Ironmonger kennt Cornwall und die ganze Welt. Er wuchs in Nairobi auf und zog im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern in den kleinen englischen Küstenort, aus dem seine Mutter stammte. John promovierte in Zoologie; nach Lehraufträgen wechselte er in die internationale IT-Branche. Schon immer hat er geschrieben; seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt. Inspiriert zu »Der Wal und das Ende der Welt« haben ihn unter anderem die biblische Geschichte von Jonas und dem Walfisch, das Werk des Gesellschaftsphilosophen Thomas Hobbes, Jared Diamonds Sachbuch »Kollaps« und viele andere Quellen der Phantasie und des Zeitgeschehens. John Ironmonger lebt heute in einem kleinen Ort in Cheshire, nicht weit von der Küste. Er ist mit der Zoologin Sue Newnes verheiratet; das Paar hat zwei erwachsene Kinder und zwei kleine Enkel. John Ironmongers Leidenschaft ist die Literatur – und das Reisen auf alle Kontinente.

Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer in Frankfurt am Main und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt.

Maria Poets übersetzt seit vielen Jahren Belletristik, darunter viele Spannungstitel, und zeichnet sich u.a. durch Dialogstärke und ihr Gespür für Ton und Tempo aus. Sie lebt als freie Übersetzerin und Lektorin in Norddeutschland.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Der Tag, an dem Kenny Kennet den Wal sah

Es war Charity Cloke, die ihn als Erste sah. Sie war gerade siebzehn, mit einem so frischen Teint, dass ihre Wangen glänzten wie Kleehonig. In St. Piran sagte man, sie sei »spät erblüht«, doch ein Sommer voll sanftem Cornwaller Sonnenschein und warmem Atlantikwind hatte sämtliche pubertären Pickel und den mürrischen Blick verschwinden lassen. »Bäume, die spät erblühen«, sagte Martha Fishburne gern, »blühen oft am schönsten.« Und Martha war Lehrerin. Sie musste es also wissen.

Charity Cloke stapfte mit ihrem Hund über den Streifen trockenen Kies, der zwischen dem Strand und der Felswand verlief, knapp oberhalb der verknoteten Algen, die die Flut dort zurückgelassen hatte. Der Strand war so gut wie menschenleer. Hört man sich heute die Geschichten an, könnte man glauben, das halbe Dorf sei dort gewesen, so viele behaupten, den Mann gefunden oder ihm aus dem Meer geholfen zu haben. Doch wenn man diese Erzählungen nebeneinander betrachtet und genau hinhört, wer was gesehen hat, lässt sich nur von fünf Personen, inklusive Charity Cloke, zweifelsfrei behaupten, an jenem Tag dort gewesen zu sein; sechs, wenn man den nackten Mann selbst hinzuzählt.

Da war zunächst Kenny Kennet, der Strandgutsammler. Er durchkämmte den Kies der östlichen Bucht auf der Suche nach Muscheln und Krebsen, nach Strandgut und Treibholz. Wenn ein schönes Stück dabei war, würde er aus dem Treibholz Kunstwerke machen, die er im nächsten Sommer an Touristen verkaufen könnte. Die Muscheln und Krebse würde er kochen und essen. Und das Strandgut – na ja, das hing davon ab, was er fand.

Der alte Garrow, der Fischer, war da, aber der war ja, wie jeder im Dorf wusste, immer da. Wenn das Wetter schön und der Wind nicht zu stark war, verbrachte er den Großteil des Tages auf einer Bank, seine Wollmütze tief über die Ohren gezogen, rauchte seine Pfeife und ließ den Blick über die Wellen schweifen, gebannt von der Dünung des Meeres und dem Klatschen der salzigen Gischt und den Rufen der Silbermöwen; und hier träumte er vielleicht von den Jahren, als der Ozean noch sein Zuhause gewesen war.

Aminata Chikelu, die junge Krankenschwester, war da. Sie arbeitete in der Nachtschicht in dem kleinen Krankenhaus in Treadangel, also war der Morgen am Strand von St. Piran sozusagen ihr Feierabend. Aminata entspannte sich, wenn es ein schöner Morgen war, mit einem Spaziergang auf dem schmalen Pfad, der sich an die Küste schmiegte. »Was machst du denn nachts im Krankenhaus?«, fragten die Leute sie manchmal. »Ich sehe kranken Menschen beim Schlafen zu«, sagte sie dann. Das tat sie auch, und noch mehr. Sie überprüfte die Infusionen und den Puls ihrer Langzeitpatienten, den Alten und (oft) im Sterben Begriffenen. Nur wenige von uns sind so mit dem Tod vertraut wie eine Krankenschwester; und es fiele schwer, sich ein hübscheres Gesicht auszumalen, eine sanftere Stimme oder wärmere Hände, um den Abschied zu erleichtern, als die von Aminata Chikelu. Sie war mit dem Milchkaffee-Teint gesegnet, der den Cocktail von Genen ihrer Vorfahren verriet, ein bisschen Afrika, ein bisschen Europa und ein bisschen wer-weiß-schon-wo.

Und schließlich war an jenem Tag auch noch Jeremy Melon am Strand unterwegs, der Naturalist und Schriftsteller, mit seiner schmalen, ungewöhnlichen Gestalt. Er kam in die Bucht, so sagte er jedenfalls, weil er Inspiration suchte. Es kam oft vor, dass er bei Ebbe durch die Bucht schlenderte und über die Wesen in den Gezeitentümpeln nachdachte, sich ihre Geschichten ausmalte. Wie interessant musste es doch sein, ein Wurm zu sein oder ein Fisch oder eine Muschel in einem solchen Gezeitentümpel. Bei Flut war das eigene Leben ein Teil des großen Ozeans, der den gesamten Planeten umschließt. Man konnte kommen und gehen, wie man wollte. Man konnte auf einer Welle davonreiten und zum Strand von Port Nevis schwimmen oder weit übers Meer bis nach Tahiti. Dann, im nächsten Augenblick, hat einen die Flut zurückgelassen, das Meer sich zurückgezogen; und jetzt bewohnt man einen unsicheren Topf Wasser ohne jeden Schutz vor der ausdörrenden Sonne oder auch nur vor Strandgutsammlern wie Kenny Kennet, der einen jederzeit in einen Eimer werfen und kochen könnte. Eines Tages, überlegte Jeremy Melon, würde er eine Geschichte darüber schreiben.

Sechs Menschen also und ein Hund; und einer der sechs lag nackt da, mit dem Gesicht nach oben, und sah ertrunken aus. Kalt vom Meer wirkte sein Fleisch durchsichtig, die blauen Adern wie eine geheime Karte auf dem blassen Papier seiner Haut, sein Haar im Gesicht verteilt wie nasser Weizen nach einem Sturm.

Sie könnten, wenn Sie St. Piran besuchten, das, was sich an jenem Tag am Strand und im Dorf ereignete, aus den Geschichten von Charity Cloke und Kenny Kennet und Jeremy Melon zusammenfügen. Dazu könnten Sie die Berichte von Casey Limber, dem Netzmacher, und Dr. Mallory Books nehmen und vom alten Garrow. Auf diese Weise könnten Sie, mit einer gewissen Gewissheit, den wahren Ablauf der Ereignisse jenes Tages entwirren, an dem alles begann.

Sie könnten mit Kenny Kennet beginnen, dem Strandgutsammler, der die Felsen am Ostende der Bucht absuchte, mit seinem Plastiksack, seinen Käschern, seinem Sammelsurium an Ausrüstungsgegenständen. Diese Felsen kannte er genau. Sein Haar, das nur selten geschnitten wurde, war zu Dreadlocks verfilzt und so steif wie Stücke von Tau, die Salz und Wind ausgeblichen hatten. Er trug seine Oxfam-Jeans bis zum Knie hochgerollt und dazu ein Guinness-T-Shirt und einen nutzlosen Baumwollschal. Er stand gebückt da und löste Muscheln mit einem flachen Messer vom Stein, als er sich plötzlich aufrichtete, ein paar Meter das Ufer hinaufkletterte und aufs Meer hinausblickte.

Wonach hielt er Ausschau? »Nichts Besonderes«, sagte er später. Es war einfach eine Angewohnheit von ihm. Vielleicht hoffte er auf vorbeischwimmende Fundstücke, auf Schwimmer, die er für den Preis eines Bieres an die Hummerfischer zurückverkaufen konnte, oder auf Stücke Netz für Casey Limber.

Was er stattdessen sah, war ein Wal.

Auf den ersten Blick hätte es ein Delphin sein können. Vielleicht sogar ein Seehund. Es kam wie ein Schatten unter den Wellen in Sicht, wie der grünlich-graue Rumpf eines uralten Wracks, drehte sich leicht, sog das Sonnenlicht aus dem Wasser. Kenny kam es so vor, als hätte jemand eine Hand vor die Sonne gehalten und so ein Stück Dunkelheit durch die Tiefe gejagt. Und dann, ohne ein Kräuseln des Meeres, sank der Leviathan hinab und war verschwunden.

Das Wasser vor der Landspitze war dunkel und tief. Kenny Kennet wusste das, aber er hatte noch nie einen Delphin so nah am Ufer gesehen. Er starrte auf den leeren Flecken Meer und überlegte, was er gerade gesehen oder nicht gesehen hatte. Es musste ein Delphin gewesen sein, dachte er. Oder aber … oder aber es war ein Wal? Dort wo die gigantische Form gewesen war, lag jetzt ein Schimmern auf der Wasseroberfläche, als wäre ein dünner Film aus Glas auf dem Meer zurückgeblieben. Der Strandgutsammler sah sich um, ob da jemand war, der bestätigen könnte, was er gesehen hatte. Und tatsächlich: Nur etwa hundert Meter entfernt von ihm ging Charity mit ihrem Pudel.

»Hey!« Kenny winkte mit beiden Armen. »Hey.«

Sein Gebrüll wurde von Charity Cloke gehört, genauso wie von Aminata Chikelu, die weiter oben am Ufer war, und auch von Jeremy Melon, der noch immer Gezeitentümpel betrachtete.

»Hey«, rief Kenny noch einmal. »Ich glaube, ich habe einen Wal gesehen!« »Einen was?«, brüllte Charity zurück. Jeremy und Aminata waren zu weit weg, um sich in die Unterhaltung einzuschalten.

»Einen Wal.« Kenny winkte sie heran.

Charity Cloke rannte quer über den Sandstrand in Richtung der Landspitze. Sie musste dabei verschiedenen Felskanten ausweichen.

»Schnell!« Jetzt konnte Kenny die Form wieder erkennen, die langsam aus der Tiefe emporstieg.

»Ich komme.« Charity stützte sich mit den Händen ab, um an einem Speer aus krebsbesetztem Fels vorbeizukommen.

»Schnell.«

Der Leviathan tauchte aus dem Ozean auf. Die Flut schien sich mit dem Tier zu heben, ein Wasserfall aus Gischt und Schaum strömte seine Flanke hinab. Jetzt war es eine erkennbare Form, ein gefurchter Sperrballon, der sich dehnte und zusammenzog. Oder konnte es ein U-Boot sein? Der Gedanke kam Kenny, doch schon im nächsten Augenblick war er widerlegt, als der große, graue Rücken des Wals über der Oberfläche aufragte und mit einem gewaltigen Prusten eine Fontäne aus Wasser aus seinem Atemloch schoss.

»O Gott!«

Einige Meter vom Ufer entfernt schrie Charity Cloke auf.

»Schon gut«, rief der Strandgutsammler, den Blick starr auf den Wal gerichtet. »Der tut dir nichts.«

Doch Charitys Schrei galt nicht dem Wal.

Später sagte Charity, dass es nicht die Nacktheit des Mannes war, die sie aufschreien ließ. »Es war ein Schock«, sagte sie. »Ich kam um den Felsen herum, und da war er – er lag einfach da. Ich dachte, er wäre tot.«

Der Mann am Strand war vielleicht nicht tot, aber er war ganz eindeutig kalt und ausgesprochen regungslos. Jeremy Melon war als Zweiter vor Ort. Jeremy wirkte sogar noch erschrockener über das Auftauchen des Mannes, als Charity es gewesen war. Dann kam Kenny von seinem Felsen herunter, noch ganz aufgeregt von seiner Begegnung mit dem Wal.

»Was zum ...?«

»Ich glaube, er ist tot«, sagte Charity.

Jetzt standen drei Menschen vor dem Körper im Sand, und keiner von ihnen wagte es, ihn zu berühren. Es war die Starre der Krisensituation, die sie davon abhielt. Die Unbeweglichkeit der Unentschiedenheit. Es war ein Mann ... natürlich; doch seine Haut war so weiß und so voller Sand, dass Charity zunächst gedacht hatte, es handele sich um einen Tümmler. Oder einen Seehund. Oder etwas Totes, das aus den Tiefen heraufgespült worden und wie Müll am Strand liegen geblieben war.

»Wer ist das?«, fragte Kenny, als würde dieses Wissen ihnen weiterhelfen.

»Den hab ich noch nie gesehen«, sagte Charity.

Jeremy schüttelte langsam den Kopf. »Ich auch nicht.«

»Sollen wir ...?«, setzte Charity an.

»Sollen wir was?«

»Mund-zu-Mund-Beatmung machen?«

Es folgte eine peinliche Pause. Keiner der beiden Männer schien sehr erpicht darauf, eine solche Hilfsmaßnahme einzuleiten.

»Ich mach's«, sagte Jeremy schließlich. Er ging auf die Knie.

»Nein, ich mach das«, rief eine Stimme hinter ihnen. Aminata, die Krankenschwester, stand dort, erhitzt von ihrer Strandrunde. Sie schob sich zwischen sie und ließ sich in den Sand fallen. »Haltet seine Arme für mich.«

Sie folgten ihren Anweisungen. Der Mann war kalt und klatschnass; er war noch nicht lange aus dem Wasser heraus. Vielleicht hatte das Auftauchen des Wales ihn ans Ufer gespült.

»Dreht ihn auf den Bauch. Das Wasser muss aus den Lungen raus.«

Jetzt war es Teamarbeit. Sie drehten den Mann um, und Aminata drückte ihre Hände fest gegen seinen Rücken. Wasser sprudelte aus seinem Mund. Sie drückte noch einmal. Er schien zu würgen.

»Ich glaube, er lebt«, sagte Aminata. »Er hatte nicht viel Wasser in der Lunge. Dreht ihn wieder auf den Rücken.«

Etwas ungeschickt drehten sie ihn um.

»Ich glaube, er atmet«, sagte Kenny.

»Gehen wir auf Nummer sicher.« Die Krankenschwester hielt dem Mann die Nase zu, schloss ihre Lippen um seinen Mund und pustete ihm Luft in die Lungen. Seine Brust hob sich, und dann, als sie ihn losließ, senkte sie sich wieder. Sie beatmete ihn noch einmal.

»Er atmet, eindeutig«, sagte Jeremy.

»Noch einmal.« Eine weitere Lungenfüllung warmer Luft strömte in die Lungenbläschen des Mannes, der nicht tot war. Und als Aminata Joe diesmal losließ und sein Körper langsam zurückfiel, schienen ihrer beiden Lippen sich nur zögerlich zu trennen.

»Er friert«, sagte Charity.

»Die Kälte hat ihn am Leben gehalten.« Aminata zog ihren Mantel aus. »Aber trotzdem müssen wir ihn aufwärmen. Wir ziehen ihm den hier an.«

»Wo kommt er her?«, fragte Kenny.

»Spielt das eine Rolle? Hier. Fassen Sie mit an.«

»Er braucht eine … Hose«, sagte Charity.

»Meine kriegt er nicht«, sagte Kenny.

»Er kann meine haben.« Jeremy öffnete seinen Gürtel. »Ich hab was Ordentliches drunter.«

Sie zogen Jeremys Hose über die nassen Beine des Mannes. Jeremy sah ihnen zu, in Windjacke und Boxershorts. »Und jetzt«, sagte er, »bringen wir ihn besser mal zu Doctor Books.«

Der alte Garrow, der auf seinem Felsen saß und Tabak in seine Pfeife stopfte, sah zu, wie die vier sich abmühten. Erst nahm jeder der Retter ein Bein oder einen Arm, so dass der Fremde wie ein Sack zwischen ihnen hing, doch das stellte sich als zu anstrengend heraus. Sie hielten an, formten aus ihren Armen einen Korb und zogen den Mann zwischen sich. Es war nicht elegant, aber einfacher.

Der alte Garrow klopfte seine Pfeife gegen den Felsen. »Habt'er den Wal gesehen?«, fragte er, während sie sich Schritt für Schritt den Sand hinaufkämpften.

»Ich hab ihn gesehen«, sagte Kenny. »So nah, wie Sie jetzt sind.«

»Schlechtes Zeichen«, sagte der alte Garrow und erhob sich schwerfällig. Er hustete, aus tiefster Kehle. »Sollte nich' so nah sein.«

»Nein«, sagte Kenny. »Mr Garrow, wir müssen diesen Mann jetzt zu Doctor Books bringen.«

»Ein Wal in der Bucht. Schlecht is' das.«

»Ja«, sagte Kenny. »Wir müssen weiter.«

»Den Fischern wird's nich gefallen.«

»Vermutlich nicht.«

»Das war kein fischfressender Wal, Mr Garrow«, sagte Jeremy. »Soweit ich es erkennen konnte, war es ein Finnwal.«

»Ein Finnwal, was?«

»Die fressen keine Fische. Das sind Bartenwale.«

Aminata mischte sich ein. »Mr Melon, wir würden alle nur zu gerne hier herumstehen und uns über die Biologie der Wale unterhalten, aber ich finde, wir müssen diesen Mann jetzt wirklich zum Arzt bringen.«

»Natürlich. Natürlich.«

Der Strandweg von St. Piran führt um die felsige Landspitze herum und biegt dann abrupt Richtung Inland, zu den großen Granitsteinen des Hafens. Hier ragen zwei Ufermauern wie schützende Arme ins Meer, die den Ozean von der unscheinbaren Reihe niedriger, weißgetünchter Gebäude dort abhalten. Quer über diese Landspitze stolperte der Rettungstrupp, den Körper des Fremden mühsam zwischen sich. Sie erregten die Aufmerksamkeit jedes Dorfbewohners, der freie Sicht auf den Hafen hatte. Casey Limber, der Netzmacher, war der Erste, der sie sah. Er war gerade an der Hafenmauer in Richtung Strand unterwegs, als er ihnen begegnete. Bald gesellte sich auch Jessie Higgs dazu, die Ladenbesitzerin, und die Fischer Daniel und Samuel Robins, dazu der Wirt des Petrel Inn, Jacob Anderssen, und zwei der jungen Frauen, die Fisch abpackten, sowie Captain O'Shea, der Hafenmeister, und Polly Hocking, die Frau des Pastors, und Martha Fishburne, die Lehrerin, und noch ein Dutzend mehr, falls wir den Geschichten glauben dürfen.

»Wer ist das?«, riefen viele, aus Angst, dass der Körper aus dem Meer ein Geliebter sein könnte, ein Bruder, ein Cousin oder ein Sohn.

»Wissen wir nicht«, antwortete Jeremy.

»Also ein Fremder.«

»Sieht so aus.«

Hinter dem Krankentransport ging der alte Garrow. Er schwenkte in der einen Hand seinen Gehstock, hielt seine Pfeife in der anderen. »Ein Omen ist das, ich sach's euch. Ganz schlechtes Zeichen.«

Weil sie mehr erfahren wollten, drängten sich die Dorfbewohner um den alten Garrow. »Ein Wal war das«, erklärte er und beschrieb die Größe mit einer übertriebenen Geste. »Kam aus'm Meer wie 'n Teufel aus der Tiefe. Größer als 'n Haus war der. Größer als 'n paar Häuser.«

Dieser Bericht verwirrte die Zuhörer. »Was redest du da, Garrow?«, fragte jemand. »Das ist doch kein Wal. Das ist ein Mann.«

»Ein gutaussehender«, sagte jemand anderes. Das mochte Polly Hocking gewesen sein, die Frau des Pastors.

»Da war ein WAL, ich sach es euch«, rief der alte Fischer. »Hab ihn gesehen. Der kam aus'm Meer und hat mich mit sei'm Auge angesehen.« Die Menge am Kai betrachtete diese neue Information misstrauisch.

»Sie waren gar nicht nah dran an dem Wal«, warf Kenny Kennet ein. Jetzt, da die Unterhaltung auf den Wal gelenkt worden war, wollte er sichergehen, dass sein eigener Anteil an den Geschehnissen nicht übersehen wurde. »Ich stand direkt vor ihm.«

»Ich hab ihn so genau gesehen wie jetzt dich«, sagte der alte Garrow.

»Können wir diesen Mann jetzt bitte zum Arzt bringen?«, sagte Aminata.

»Moment, ich fass mit an.« Das war der junge Casey Limber. Er übernahm Charitys Teil der Last, doch seine Arme waren so stark, dass er den bewusstlosen Mann einfach hochhob und alleine trug.

Und so zog die Menge an der Hafenmauer vorbei, an den Fischerhäuschen, die den Kai säumten, zu dem schmalen Platz und die enge Kopfsteinpflastergasse hinauf bis zur Tür eines Häuschens. Viele der Menschen, die sich am Hafen zu den ursprünglichen Vieren gesellt hatten, versuchten, ihnen ins Haus zu folgen.

»Sind Sie krank?«, wollte Jeremy von Mrs Penroth wissen, der Frau des Hummerfischers. »Nein? Dann bleiben Sie bitte draußen.«

Die Tür des Hauses in der Fish Street schloss sich hinter ihnen und ließ die versammelten Zuschauer mit ihren eigenen Theorien auf der Straße zurück.

(Continues…)


Excerpted from "Der Wal und das Ende der Welt"
by .
Copyright © 2015 John Ironmonger.
Excerpted by permission of S. Fischer Verlag.
All rights reserved. No part of this excerpt may be reproduced or reprinted without permission in writing from the publisher.
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Table of Contents

• [Widmung],
• [Motto],
• Teil Eins Kann man einen Leviathan an den Haken bekommen?,
o Prolog,
o 1 Der Tag, an dem Kenny Kennet den Wal sah,
o 2 Der klitzekleinste Zeh,
o 3 Immer ein guter Anfang,
o 4 Das ist ein verdammter Finnwal,
o 5 Der Fisch ist tot,
o 6 Keiner kann so feste ziehen,
o 7 Woran sterben Menschen?,
o 8 Wir shorten estländischen Stahl,
o 9 Diese Sache in Saudi-Arabien,
o 10 Wo führt das alles hin?,
o 11 Das war kein Geschenk, das war ein Fluch,
o 12 Ich denke gerade darüber nach, Sir,
o 13 Ich hab's nicht zu Ende gedacht,
o 14 Was essen die Leute?,
• Teil Zwei Kann man mit dem Leviathan einen Bund schließen?,
o 15 Als alles anders wurde,
o 16 Sie sehen die Zusammenhänge,
o 17 Das sind sie,
o 18 Manche Menschen mögen den Geruch von Fisch,
o 19 In Cornwall gibt's keine Grippe,
o 20 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
o 21 Das ist Ihr perfekter Sturm,
o 22 Kein Strom und kein Telefon,
o 23 Currypaste, einhundert, achtundvierzig,
o 24 Ich mochte sie,
o 25 Es gibt noch andere Jobs,
o 26 Mord und Totschlag gibt das,
o 27 Für eine heiße Mahlzeit würde ich töten,
• Teil Drei Kann man aus einem Leviathan ein Festmahl machen?,
o 28 Wie werden wir uns alle verhalten?,
o 29 Es gibt immer andere Frauen,
o 30 Ich glaube, er wurde angeschossen,
o 31 Erlaubnis, an Land zu kommen,
o 32 Ansichten eines alten jüdischen Bankiers,
o 33 Ein Herz so groß wie fünf Männer,
o 34 Das Leben geht weiter,
o 35 Sie hat die Zusammenhänge gesehen,
• Nachbemerkungen des Autors,
• Und nicht zu vergessen ...,

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