Der Letzte von uns: Roman

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eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Während der Bombennächte in Dresden bringt die schwer verwundete Luisa ihren Sohn zur Welt. Kurz darauf stirbt sie. Ihr letzter Wunsch ist es, ihn in Sicherheit zu wissen, denn sie ahnt: Er ist der Letzte von ihnen. Manhattan, fünfundzwanzig Jahre später. Wern ist jung, ambitioniert und unsterblich in Rebecca verliebt, Enfant terrible und Tochter einer reichen New Yorker Familie. Die beiden verbindet eine außergewöhnliche Liebe: leidenschaftlich, inspirierend und bedingungslos, so zumindest scheint es. Doch plötzlich bricht Rebecca ohne weitere Erklärungen den Kontakt zu ihm ab. Und Wern muss sich einer schmerzhaften Wahrheit stellen... „Absolut atemberaubend!“ Tatiana de Rosnay, Autorin von "Sarahs Schlüssel". „Der Stoff, aus dem eine Saga gemacht ist!“ Elle.

Product Details

ISBN-13: 9783841214676
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 02/16/2018
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 544
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Adélaïde de Clermont-Tonnerre, 1976 in Neuilly-sur-Seine geboren, ist Journalistin und Autorin. Ihr Roman »Der Letzte von uns« erhielt 2016 einen der renommiertesten Literaturpreise Frankreichs, den Grand Prix du Roman de l´Académie Française.


Amelie Thoma studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und war viele Jahre lang Lektorin, ehe sie sich als Übersetzerin selbständig machte. Sie übertrug u. a. Marc Levy und die Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani ins Deutsche.  

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Manhattan, 1969

Das Erste, was ich von ihr sah, war ihre schlanke, zarte, vom Riemchen einer blauen Sandale umschlossene Fessel. Bis zu diesem Tag im Mai hatte ich keine besondere Vorliebe für einen bestimmten Teil des weiblichen Körpers gehabt, und wenn, so hätte ich mich spontan für den Po, den Hals oder vielleicht den Mund entschieden, aber sicher nicht für die Füße. Gerade war ich in ein Gespräch mit Marcus, meinem Freund und Geschäftspartner, vertieft gewesen. Wie so häufig, hatte er mir mein Glück bei den Frauen vorgeworfen.

»Als müsstest du sie alle haben«, schimpfte Marcus, der in amourösen Angelegenheiten nicht ganz so erfolgreich war. »Du setzt dich irgendwo hin, siehst dich um, trinkst was, und hopp!, schon scharwenzeln mindestens zwei um dich herum.«

Er riss die Augen auf und machte einen Kussmund, um seine Worte zu illustrieren, gerade in dem Moment, als eine der Kellnerinnen mir schüchtern zulächelte.

»Es ist zum Verzweifeln! Wenn ich sie wäre, hätte ich eher Angst, dir zu nahe zu kommen. Mit deiner riesenhaften Statur, deinen slawischen Zügen und den wässrig blauen Augen ...«

»Meine Augen sind nicht wässrig blau! Sie sind hellblau.«

»Sie sind wässrig. Meine sind blau, haben aber ganz und gar nicht dieselbe Wirkung. Bei mir wollen die Frauen vor allem reden, über ihr Leben, ihre sämtlichen Kümmernisse, die Eltern, den ersten Zahn ... das alles muss ich mir wochenlang anhören, du dagegen kriegst sie innerhalb von einer Viertelstunde rum.«

»Ich hab dir nie eine weggeschnappt!«

»Viel schlimmer! Du unternimmst nichts, um sie mir wegzuschnappen, und sie werfen sich dir ganz von allein an den Hals.«

»Wenn du mir sagen würdest, welche dir gefallen, dann würde ich sie nicht mal anschauen.«

»Ich will keine Freundin, die mich vergisst, sobald du den Raum betrittst.«

Das Bild, das Marcus von mir zeichnete, war maßlos übertrieben. Ich begnügte mich nicht damit, mich hinzusetzen und zu warten, dass die Frauen sich auf mich stürzten. Ich tat, was nötig war, um sie zu bekommen. Ich hatte ihm meine goldenen Regeln immer wieder erklärt, doch meine unverblümte Herangehensweise erschien ihm »zu simpel«. Er wollte es lieber kompliziert, Direktheit entsprach einfach nicht seinem Naturell. Er zog es vor, seine eigene Schüchternheit mit meiner angeblich unwiderstehlichen Anziehungskraft zu entschuldigen. Dabei bestand sein Talent darin, Männern wie Frauen das Gefühl zu geben, dass sie ihm alles anvertrauen konnten – auch wenn er es nicht zu seinem Vorteil zu nutzen wusste. Und meine Begabung war nun mal, die Mädchen zu verführen.

Ich war gerade vierzehn geworden, als sie begannen, mir Beachtung zu schenken. Es war auf der Hightschool, nach meiner Prügelei mit dem zwei Jahre älteren Billy Melvin, der die Schüler der Hawthorne Highschool terrorisierte. Eines Tages hatte er mich mit wutverzerrtem Gesicht »Knilch« genannt, in Anspielung auf meinen Nachnamen Zilch. Ich war schon fast so groß wie er, das konnte er nicht ertragen. Ich hasse diese Typen, die glauben, sich jede Anmaßung herausnehmen zu können, weil ihnen alles in den Schoß gefallen ist. Die Ehrfurcht, die sie umgibt, und ihre Verachtung gegenüber dem Rest der Menschheit bringen mich zur Weißglut. Ich habe ganz und gar nichts gegen Geld, aber ich habe nur dann Respekt davor, wenn es verdient wurde, nicht wenn Typen wie Billy es geerbt haben.

Ein Blick genügte, um zu begreifen, dass er dumm war. Ich mochte sein arrogantes Benehmen einfach nicht. Ich mochte nicht, wie er sich bewegte, wie er sprach, wie er mit überlegener Miene auf die Leute herabsah. Als er dann auch noch zu mir sagte: »Du bist ein Knilch, den zwei Trottel aus Mitleid aufgenommen haben«, packte mich eine Riesenwut, wie sie mich manchmal überkommt. Marcus sagt, dass ich dann kreidebleich werde und man das Gefühl hat, jemand anders würde von mir Besitz ergreifen. Ich habe Billy also am Arm gepackt und ihn gegen eine der großen Fensterfronten geschleudert, die der ganze Stolz unserer Highschool waren. Ein paar Sekunden lang war er ziemlich bedröppelt, dann hat er sich geschüttelt wie ein Hund, der aus einer Pfütze springt, und sich auf mich gestürzt. Wir haben uns auf dem Boden gewälzt, bis die Hofaufsicht und der Kapitän der Footballmannschaft uns trennten. Billy hinkte fluchend davon, mit blutiger Nase und einem lädierten Ohr. Mein T-Shirt war bis zum Bauch aufgerissen, meine linke, noch immer zur Faust geballte, Hand ramponiert, und am Kinn hatte ich eine Platzwunde, aus der dicke rote Tropfen auf den Beton des Schulhofs fielen.

Wir wurden beide für eine Woche vom Unterricht suspendiert, während der wir gemeinnützige Tätigkeiten verrichten mussten. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, arbeiteten wir ein paar Tage lang vor uns hin – kehrten Blätter zusammen, reparierten einen Gartenzaun, räumten Hunderte ArchivKartons um.

Dieser Verweis brachte mir eine gepfefferte Standpauke meiner Mutter Armande ein sowie die halbamtlichen Glückwünsche meines Vaters Andrew. Ihm gefiel die Vorstellung, dass ich einem älteren Jungen eine Abreibung verpasst hatte, auch wenn es deswegen Ärger gab. Als wir wieder in die Schule kamen, organisierte Marcus, der damals schon einen Hang zur Juristerei hatte, obwohl er zu jener Zeit eher Konzertmusiker als Anwalt werden wollte, die Friedensverhandlungen, die schließlich zur Unterzeichnung einer von ihm aufgesetzten feierlichen Vereinbarung führten. Danach wurde der Schulhof entlang einer Diagonalen, die von den Türen der Umkleiden bis zum Eingang der Schulmensa reichte, in zwei Hälften aufgeteilt, die Mädchen- und die Jungstoiletten wurden schraffiert und zu neutralem Terrain erklärt. Der geschichtsbegeisterte Marcus hatte sie »die Schweiz« getauft, was zwischen ihm und mir ein geflügeltes Wort geblieben ist. Noch heute gehen wir »in die Schweiz«, wenn wir mal pinkeln müssen.

Diesem Eklat und meinem relativen Sieg, der darin bestand, dass ich mich von Billy nicht hatte massakrieren lassen, verdankte ich neue Freundschaften und meine erste Freundin: Lou. Sie passte mich eines Tages in der Sporthalle ab, drückte mich an die Wand und küsste mich. Es schmeckte nach Kirschbonbons und fühlte sich, nach dem ersten Schreck über diesen kühnen Vorstoß, ziemlich weich an. Mir war es irgendwie zu nass. Aber Lou war das hübscheste Mädchen von Hawthorne. Sie war zwei Jahre älter als ich – so alt wie Billy – und ziemlich kess, was in klarem Kontrast zu ihren braven Faltenröcken stand. Sie hatte lange braune Haare und Brüste, die allen Jungs der Highschool den Kopf verdrehten. Lou war sozusagen eine Chance, die man nicht ausschlug. Im »Unternehmerklub« der Schule hatte uns der Lehrer eingebläut, dass man »günstige Gelegenheiten erkennen und ergreifen« musste. Obwohl ihre Attacke mich überrumpelt hatte, war ich schnell zu dem Schluss gekommen, dass Lou dem zweiten Schema entsprach: »Günstige Gelegenheit mit geringem Risiko«, einem der Fälle, in dem der potentielle Gewinn am größten ist. Leicht verstört, aber auch stolz, ergriff ich also meine Chance, und so hatte ich, als ich aus der Turnhalle trat, diese Bombe von einem Mädchen im Arm. Vor dem Schulgebäude wickelte sie sich um mich, wie Efeu um einen Baum. Der Geschichtslehrer, ein säuerlicher Alter, der nur Marcus leiden konnte (den Einzigen, der sich für die vorzeitlichen Eroberungen unaussprechlicher Könige in mikroskopischen Landstrichen interessierte), forderte uns auf, uns »anständig zu benehmen«. Ich versuchte mit einer großspurigen Antwort von dem Tumult aus Zweifeln und Hormonen in meinem Innern abzulenken. Lou dagegen warf ihm nur lässig hin: »Ist ja schon gut! Wir leben immerhin in einer Demokratie!«, und knutschte mich weiter ungerührt, woraufhin der Herr Professor tiefrot wurde und schleunigst das Weite suchte.

Lou erhöhte noch das Ansehen, das der Kampf und das Abkommen mit Billy mir eingebracht hatten. Die Jungs der Schule glaubten plötzlich an meine Superkräfte, die Mädchen warfen mir verliebte Blicke zu. Sie kicherten, wenn ich vorbeiging, und vertrauten Marcus an, dass sie für meine blauen Augen und mein süßes Lächeln schwärmten.

Seit damals hatte ich nie Schwierigkeiten, Frauen kennenzulernen, war aber auch nie wirklich bereit, mich zu binden. Eine meiner Freundinnen, eine Psychologiestudentin – ich liebte ihre Gewohnheit, die Brille aufzubehalten, wenn wir miteinander schliefen –, hatte dies damit erklärt, dass ich adoptiert und dadurch mein Urvertrauen zerstört worden war. Ich hätte, so meinte sie, eine tiefsitzende Verlustangst, die mich von einer Beziehung in die nächste trieb. Ich für meinen Teil glaubte vor allem, dass die meisten Frauen zwanghaft auf ernstgemeinte, feste Zweierbeziehungen fixiert waren. Sie wollten, dass die Männer sich verliebten, und beschimpften diejenigen, denen das nicht gelang, als Mistkerle. Zum Glück gab es in den sechziger Jahren trotzdem noch genug Mädchen, die ihre Freiheit auskosten wollten, und davon habe ich gründlich profitiert. Aber dieses goldene Zeitalter endete jäh an dem Tag, als eine junge Frau im Restaurant Gioccardi meine Unbekümmertheit mit ihren blauen Sandalen zertrat.

Marcus und ich aßen im Erdgeschoss der Trattoria in SoHo. Wir kamen beinahe jeden Tag her. Der Besitzer vergötterte Shakespeare, meinen Hund, und stellte ihm immer etwas zu fressen hin. Das war ein unschätzbarer Vorteil, denn die meisten Leute hatten Angst vor ihm. Wenn er sich auf die Hinterbeine stellte, reichte er mir fast bis zu den Schultern und wirkte trotz seines rotblonden Zottelfells ziemlich furchteinflößend. Ich beugte mich gerade über meine Spaghetti mit Pesto, als sie, die meine Haltung gegenüber den Frauen für immer verändern sollte, auf der Treppe erschien. Nach ein paar Stufen blieb sie stehen, so dass ich zunächst nur ihre zierlichen Fesseln bewundern konnte.

Sie sprach mit jemandem hinter sich. Ich brauchte eine Weile, bis ich ihre Stimme aus dem allgemeinen Gewirr der Gespräche und des Besteckgeklappers herausgeschält hatte. Sie wolle unten essen, erklärte sie nachdrücklich. Der Saal oben sei so gut wie leer. Das sei ihr zu öde. Die Stimme eines Mannes, dessen braune Mokassins ich nun sah, protestierte. Oben sei es ruhiger. Der linke Fuß der jungen Frau trat auf die nächsttiefere Stufe und offenbarte ein Stück Wade. Er stieg wieder höher, dann erneut nach unten und setzte seinen Weg endlich fort. Während sie nach und nach zum Vorschein kam, ließ ich meinen Blick über die elegante Linie ihrer Schienbeine gleiten, ihre Knie, den Ansatz der Oberschenkel. Ihre nur leicht gebräunte, geradezu unwirklich perfekte Haut verschwand unter dem schwingenden Saum eines blauen Rocks. Ein Gürtel hob ihre Taille hervor, und ich malte mir aus, wie es sich anfühlte, sie zu umfassen. Die ärmellose Bluse ließ den Blick auf ihre schlanken Arme frei. Weiter oben wurde ein eleganter Hals sichtbar, der zerbrechlich wirkte.

Lachend nahm sie die letzten drei Stufen. Ein Leuchten erfüllte den Raum, als sie ihn betrat. Sie zog einen Mann von etwa vierzig Jahren hinter sich her, der eine beige Hose und einen marineblauen Blazer mit gelbem Einstecktuch trug. Sehr verärgert, bemühte er sich, ihr zu folgen, ohne die Treppen hinunterzufallen.

»Ernie, du bist wirklich todlangweilig!«

Ich musterte sie so unverhohlen, dass sie instinktiv zu mir herübersah und für den Bruchteil einer Sekunde innehielt. Kaum hatte ihr Blick mich gestreift, wusste ich, dass dieses Mädchen mir besser gefiel als alle, die ich jemals kennengelernt oder auch nur begehrt hatte. Mein Herz schlug schneller, und mir wurde heiß. Sie hingegen schien überhaupt nicht beeindruckt zu sein. Dafür sah »Ernie« mich erbost an. Sofort straffte sich mein Körper. Ich war bereit, um sie zu kämpfen. Was hatte er überhaupt hier zu suchen? Er verdiente dieses wundervolle Wesen nicht. Ich schaute ihn provozierend an, doch er wandte nur den Blick ab.

Ein Kellner, der von ihr ebenso fasziniert zu sein schien wie ich, führte sie an einen Tisch.

»Hast du mitbekommen, dass ich dir vor einer Minute und fünfzehn Sekunden eine Frage gestellt habe?«, meldete sich Marcus zu Wort. Er tippte mit dem Zeigefinger auf seine neue Uhr, deren Stoppfunktion er aktiviert hatte.

Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden, während sie sich mit dem Rücken zum Raum hinsetzte. Wie in Trance fragte ich: »Findest du sie nicht auch wundervoll?«

»Sie ist in der Tat sehr schön und sehr begleitet, das dürfte dir nicht entgangen sein ...«

»Glaubst du, sie sind ein Paar?«

Der Gedanke, dass meine Göttin mit diesem alten Dandy liiert sein sollte, erschien mir unerträglich.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Wern«, erwiderte Marcus, »aber wenn wir einmal miteinander essen könnten, ohne dass du dir die Halswirbel ausrenkst, um allem hinterherzuglotzen, was einen Rock trägt, wäre das Balsam für mein Ego.«

»Schatz, verzeih, ich bin dir gegenüber nicht aufmerksam genug«, frotzelte ich und legte dabei meine Hand auf seine.

Marcus zog sie mit gekränkter Miene zurück.

»Du weißt genau, dass es nicht darum geht. Aber wir sollten vor unserem Treffen heute Nachmittag wirklich dringend ein paar winzige Details klären.«

Unsere sehr junge Baufirma befand sich gerade in einer heiklen Entwicklungsphase. Wir hatten alles, was wir mit unserem ersten Projekt verdient hatten, zusammen mit einem Maximum an geborgtem Geld in den Bau zweier Mietshäuser in Brooklyn investiert. Nachdem alle Genehmigungen erteilt waren, hatte ein Kommunalbeamter wegen einer obskuren Katastergeschichte einen Baustopp erwirkt. Dabei scherte er sich den Teufel um das Gesetz, er wollte uns nur zwingen, ihn ein weiteres Mal zu schmieren.

Für sechzehn Uhr war nun eine Anhörung anberaumt, in der es galt, unsere Zukunft zu retten, doch ich konnte mich kaum auf unsere Argumente konzentrieren, meine Gedanken wanderten immer wieder zu der schönen Fremden, die nur wenige Tische von uns entfernt saß. Sie hielt sich so gerade, dass ihre Schultern die Stuhllehne nicht berührten. Ihre um sie herumflatternden Hände untermalten jedes ihrer Worte in einer anmutigen Choreographie.

Marcus sah mich irritiert an. Er kannte meine Schwäche für die Frauen, doch er war es gewohnt, dass unsere Firma immer Vorrang hatte.

Jetzt legte die Unbekannte den Kopf in den Nacken und streckte sich ungeniert in einer geschmeidigen, katzenhaften Bewegung. Auf ihren Schultern bildeten sich Grübchen, und ihre langen lockigen Haare schienen ein Eigenleben zu führen. Wie gerne hätte ich meine Hände nach ihnen ausgestreckt und mein Gesicht darin vergraben.

»Gibt es ein Problem, Mr Werner?«, fragte Paolo, der Inhaber des Lokals. Eine Flasche Marsala in der Hand, betrachtete er besorgt meinen randvollen Teller. Er war immer stolz wie eine sizilianische Mamma, wenn er mich riesige Portionen Pasta und Lasagne oder ein enormes Roastbeef verschlingen sah. Nur heute hatte ich meine Spaghetti nicht angerührt.

»Ist die Pasta nicht gut? Nicht genug gesalzen? Verkocht?«, versuchte er den Fehler zu diagnostizieren.

Ich bemerkte ihn gar nicht. Mit einer schnellen, gewundenen Handbewegung hatte die Unbekannte gerade ihre Haare über einer Schulter zusammengefasst und dabei für den Bruchteil einer Sekunde ihren Nacken entblößt. Warum kam sie mir so vertraut vor, obwohl ich mir sicher war, dass ich ihr noch nie zuvor begegnet war? Wie konnte ich sie ansprechen?

Paolo schnappte sich indessen meinen Teller, schnüffelte an ihm und wetterte dann los:

»Giulia! Was hast du mit der Pasta von Mr Zilch angestellt!«

Der ganze Saal drehte sich nach ihm um, auch meine Unbekannte. Ein amüsiertes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sah, dass ich sie wie verhext anstarrte. Dann wandte sie sich wieder ab.

Ich wollte alles über sie wissen, alles an ihr kennenlernen, ihren Duft, ihre Stimme, ihre Eltern, ihre Freunde; wo sie wohnte, mit wem; wie ihr Zimmer eingerichtet war, welche Kleider sie trug, wie sich ihre Laken anfühlten, ob sie nackt schlief, ob sie im Schlaf redete. Ich wollte, dass sie mir ihren Kummer und ihre Träume anvertraute, ihre Wünsche und ihre Sehnsüchte.

»Ich habe es ihr schon hundert Mal erklärt!«, empörte sich Paolo. »Sie wird nie lernen, Pesto zu machen! Auf das Handgelenk kommt es an ... und auf die Kraft, man muss im Mörser ordentlich stampfen und drehen«, erklärte er und imitierte dabei mit grimmiger Miene die erforderliche Rotationsbewegung. »Giulia, die rührt das Pesto wie eine Vinaigrette mit weichem Handgelenk, anstatt dass sie den Stößel fest und gerade hält!«

Ich malte mir aus, wie ich aufstand, zu ihr ging, den Dummkopf, der sie begleitete, zur Seite schob, sie bei der Hand nahm und entführte, um sie durch und durch zu erkunden.

»Ist er krank? Fühlt er sich nicht gut?«, fragte Paolo, der die Spaghetti inzwischen probiert hatte und offensichtlich nichts daran auszusetzen fand, was wiederum ein triumphierendes Lächeln auf Giulias Gesicht zauberte, die alarmiert aus der Küche herbeigeeilt war.

(Continues…)



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