Der 9. November
Erstes Buch

1

Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals.
Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.
Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück.
In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief.
„Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!“
Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich —
Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr — er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.
„Wer hat den Brief —?“
„Ein Herr, ein älterer Mann — soeben —“, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.
Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet — sein einziger Sohn — eine Audienz, hm — sogar eine Zigarre — und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.
„Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.“
„Öfter hier gewesen?“
„Ja, schon einigemal — und — ah, ah: da ist er ja — an der Türe!“ rief der Portier plötzlich erleichtert aus.
Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.
Der General drehte den Kopf — aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.
„Da — nun läuft er.“ Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. „Und mir macht er Scherereien. So sind sie!“
Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine.
Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin.


Der General vergrub das Kinn in den Pelz.
„Dieser Schurke!“ dachte er und das Steingesicht zitterte. „Aber es sieht ihm ähnlich!“
Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf — hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen — es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.
"1021697906"
Der 9. November
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1

Einige Ordonnanzen, die die Treppe emporeilten, blieben plötzlich wie angewurzelt stehen, ein junger ordenglitzernder Hauptmann mit rosigen Wangen, eben im Begriff sich zu schneuzen, verbarg in äußerster Hast das Taschentuch, und nur einem Drillichkittel gelang es noch im letzten Augenblick, in die Portierloge zu entkommen: oben auf der Treppe leuchtete der hellrote Mantelaufschlag eines Generals.
Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.
Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück.
In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief.
„Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!“
Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich —
Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr — er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.
„Wer hat den Brief —?“
„Ein Herr, ein älterer Mann — soeben —“, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.
Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet — sein einziger Sohn — eine Audienz, hm — sogar eine Zigarre — und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.
„Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.“
„Öfter hier gewesen?“
„Ja, schon einigemal — und — ah, ah: da ist er ja — an der Türe!“ rief der Portier plötzlich erleichtert aus.
Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.
Der General drehte den Kopf — aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.
„Da — nun läuft er.“ Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. „Und mir macht er Scherereien. So sind sie!“
Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine.
Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin.


Der General vergrub das Kinn in den Pelz.
„Dieser Schurke!“ dachte er und das Steingesicht zitterte. „Aber es sieht ihm ähnlich!“
Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf — hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen — es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.
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by Bernhard Kellermann
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Mit breitem Steingesicht, den Blick verborgen in den grauen Augenhöhlen, die massige Gestalt von schweren Gedanken eingehüllt, stieg der General v. Hecht-Babenberg langsam und ohne jede Eile die breite Granittreppe zum Foyer hinab. Die Augen der angewurzelten Ordonnanzen folgten ruckweise jedem seiner Schritte, der junge ordenglitzernde Hauptmann mit den rosigen Wangen erstarrte in seiner Verbeugung.
Der General nahm nicht die geringste Notiz von ihnen. Ganz Kälte, ganz Würde, ganz Sammlung schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Lackstiefel blitzten, und ein feiner Parfümgeruch blieb hinter ihm zurück.
In diesem Augenblick stürzte der Portier aus seiner Loge und überreichte dem General einen Brief.
„Soeben abgegeben, Euer Exzellenz!“
Zögernd trat der General unter die Bogenlampe, die aus der Decke des Foyers herabhing. Der Umschlag des Briefes, dünn, ein ungewöhnliches, giftiges Hellgrün, mißfiel, die Schrift. Er drehte den Brief mißtrauisch zwischen den Fingerspitzen. Ganz offenbar empfand er es als eine Verletzung der Achtung, die man seinem Range schuldete, ihm einen Brief von derart geschmackloser, ja unangenehmer Färbung zu senden. Die Stirn zuckte. Ohne Absender, eilt, persönlich —
Dann aber fuhr er entschlossen in den Pelz, unter den hellroten Aufschlag, und holte den goldenen Kneifer hervor. Eine feine Ziegelröte überzog langsam das breite Steingesicht, den Hals, der aus dem gestickten Kragen hervorquoll, das knorpelige, große Ohr — er faltete den Brief zusammen und schob ihn unwillig in die Manteltasche.
„Wer hat den Brief —?“
„Ein Herr, ein älterer Mann — soeben —“, stammelte der Portier und schwankte bestürzt auf den dünnen Beinen.
Der Portier, ein alter Mann, Veteran von 1870, allerlei Münzen und Medaillen auf der Brust, kannte seine Leute. Schon an der Art, wie Exzellenz den Brief zwischen den Fingerspitzen drehte, hatte er erkannt, daß Exzellenz ungehalten waren. Aber dieser ältere Herr hatte solange auf ihn eingeredet — sein einziger Sohn — eine Audienz, hm — sogar eine Zigarre — und schließlich war es ja nur ein Brief, richtig adressiert, wie täglich Dutzende in seiner Loge abgegeben wurden.
„Ein älterer, etwas kleiner Herr, Euer Exzellenz. Vor zehn Minuten. Er ist schon öfter hier gewesen und fragte nach Euer Exzellenz.“
„Öfter hier gewesen?“
„Ja, schon einigemal — und — ah, ah: da ist er ja — an der Türe!“ rief der Portier plötzlich erleichtert aus.
Ein kleines Gesicht von glänzender, stahlblauer Blässe, wie blauer Schnee, hatte sich in diesem Augenblick der Scheibe der Türe genähert, vorsichtig, spähend. Eine Larve eigentlich, kein Gesicht, eine faustgroße Larve mit Gramfurchen und blinkenden Augen.
Der General drehte den Kopf — aber sofort prallte das kleine blaue Gesicht wieder von der Scheibe zurück. Ein steifer Hut, ein Havelock verschwanden in der tiefblauen Dämmerung.
„Da — nun läuft er.“ Der Portier murmelte ärgerlich vor sich hin und warf das Gewicht seines hageren Körpers gegen die schwere Türe. „Und mir macht er Scherereien. So sind sie!“
Ganz Kälte, ganz Würde und Sammlung schritt der General die Granitstufen hinab, ohne einen Blick auf die Straße zu werfen. Ungeduldig surrte der Motor der grauen Limousine.
Der Wagenschlag klappte, der Portier machte seinen gewohnten tiefen Bückling, und die Limousine flog dahin.


Der General vergrub das Kinn in den Pelz.
„Dieser Schurke!“ dachte er und das Steingesicht zitterte. „Aber es sieht ihm ähnlich!“
Die Augen in den tiefen Höhlen sprangen auf — hier im dunkeln Wagen, wo aufdringliche Blicke ihn nicht belauerten, konnte er getrost die Augen öffnen — es waren helle, große Augen, geschliffene Linsen.

Product Details

BN ID: 2940148686279
Publisher: Lost Leaf Publications
Publication date: 07/30/2013
Sold by: Barnes & Noble
Format: eBook
File size: 1 MB
Language: German
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