Das Lied der toten Mädchen

Das Letzte, was sie hörte, war ein Schlaflied  

Herbst 1997: Auf dem Wilzenberg wird eine junge Frau tot aufgefunden, ermordet durch einen Stich ins Herz. Der Täter lässt nichts zurück außer einer Spieluhr, die »Hush little baby« spielt.

Gegenwart: Jan Römer, Reporter für ungelöste Kriminalfälle, rollt mit seiner Kollegin Mütze das Verbrechen neu auf. Warum trug das Opfer trotz der Kälte nur ein dünnes rotes Kleid? Warum kann niemand etwas zu dem Gästehaus im Wald sagen, in dem die Frau damals arbeitete? Dann wird wieder eine Frau getötet. Auch neben ihrer Leiche wird eine Spieluhr gefunden. Und Jan Römer begreift, dass die Vergangenheit nicht tot ist …  

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Das Lied der toten Mädchen

Das Letzte, was sie hörte, war ein Schlaflied  

Herbst 1997: Auf dem Wilzenberg wird eine junge Frau tot aufgefunden, ermordet durch einen Stich ins Herz. Der Täter lässt nichts zurück außer einer Spieluhr, die »Hush little baby« spielt.

Gegenwart: Jan Römer, Reporter für ungelöste Kriminalfälle, rollt mit seiner Kollegin Mütze das Verbrechen neu auf. Warum trug das Opfer trotz der Kälte nur ein dünnes rotes Kleid? Warum kann niemand etwas zu dem Gästehaus im Wald sagen, in dem die Frau damals arbeitete? Dann wird wieder eine Frau getötet. Auch neben ihrer Leiche wird eine Spieluhr gefunden. Und Jan Römer begreift, dass die Vergangenheit nicht tot ist …  

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Das Lied der toten Mädchen

Das Lied der toten Mädchen

by Linus Geschke
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Das Letzte, was sie hörte, war ein Schlaflied  

Herbst 1997: Auf dem Wilzenberg wird eine junge Frau tot aufgefunden, ermordet durch einen Stich ins Herz. Der Täter lässt nichts zurück außer einer Spieluhr, die »Hush little baby« spielt.

Gegenwart: Jan Römer, Reporter für ungelöste Kriminalfälle, rollt mit seiner Kollegin Mütze das Verbrechen neu auf. Warum trug das Opfer trotz der Kälte nur ein dünnes rotes Kleid? Warum kann niemand etwas zu dem Gästehaus im Wald sagen, in dem die Frau damals arbeitete? Dann wird wieder eine Frau getötet. Auch neben ihrer Leiche wird eine Spieluhr gefunden. Und Jan Römer begreift, dass die Vergangenheit nicht tot ist …  


Product Details

ISBN-13: 9783843715928
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 01/12/2018
Series: Jan-Römer-Krimi , #3
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 368
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Der 1970 geborene Linus Geschke arbeitet als freier Journalist für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel Online und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Für das Special-Interest-Magazin "unterwasser" verfasst er Tauch- und Reisereportagen, für die der gebürtige Kölner bereits mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet wurde.
Der 1970 geborene Linus Geschke arbeitet als freier Journalist für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel Online und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Für das Special-Interest-Magazin „unterwasser“ verfasst er Tauch- und Reisereportagen, für die der gebürtige Kölner bereits mehrere Journalistenpreise gewonnen hat. www.linus-geschke.de

Read an Excerpt

CHAPTER 1

SCHMALLENBERG/SAUERLAND HERBST 1997

Niemand ging nachts auf den Wilzenberg, zumindest nicht allein. Tagsüber war er ein bei Touristen und Einheimischen beliebtes Ausflugsziel, aber das änderte sich schlagartig, wenn die Dunkelheit kam. Wenn die Bäume lebendig wurden und ihr Rauschen klang, als wollten sie jeden, der sich hierhin verirrt hatte, zur Umkehr zwingen.

Komm nicht näher!, riefen sie.

Kehre um, solange du noch kannst.

In der Nacht zeigte der Wilzenberg seine andere, böse Seite. Zahlreiche Legenden drehten sich um ihn. Unheimliche Geschichten, über die die Einheimischen tagsüber lachten und vor denen sie sich nachts fürchteten.

Auch Sonja wollte jetzt nicht hier sein, so kurz vor 22 Uhr. Am liebsten wäre sie losgerannt und ins Dorf zurückgekehrt, aber das ging nicht. Nicht, wenn sie den Mann treffen wollte, mit dem sie an dem kleinen Teich unterhalb des Gipfels verabredet war und der all ihre Ängste vertreiben würde.

Sie zitterte. Ihr Blick fiel auf die umliegenden Fichten, deren Spitzen sich dem Nachthimmel entgegenreckten wie die aufgerichteten Speere einer mittelalterlichen Armee. Auf den winzigen Teich, auf dem totes Laub wie Seerosen trieb. Auf den schwarzen Berghang hinter ihr, der bedrohlich und verlassen wirkte. Ansonsten war um sie herum nichts als Dunkelheit und Kälte. Eine heimtückische Kälte, die sich nur schleichend bemerkbar machte; hervorgerufen durch die unpassende Kleidung, die sie trug, und die Höhe, in der sie sich befand.

Ihr Herz klopfte, als sei es ein lebendiges Wesen, das den Körper verlassen wollte. Sie versuchte, ihren Pulsschlag wieder unter Kontrolle zu kriegen, indem sie sich nur auf ihre Atmung konzentrierte. Dabei hörte sie die Geräusche von Tieren, die durch das Unterholz streiften. Das Rauschen des Windes, der Blätter von den Ästen wehte. Sie fühlte sich verloren in einer unwirklichen Welt aus bewegten Schatten, die die Bäume im Mondlicht warfen.

Sie bereute, keinen wärmenden Pullover angezogen zu haben. Nur dieses rote Kleid, weil sie doch schön sein wollte, wenn sie ihm begegnete. Ihre Arme legten sich schützend um ihren Körper, um ihn zu wärmen. Vor ihrem Mund stieg bleicher Atem auf, als ob ihre Seele sich verflüchtigen würde.

Es knackte hinter ihr.

Aufgeschreckt fuhr sie herum. Vielleicht nur ein Tier auf der Suche nach Nahrung. Vielleicht nur ein Ast, der abgebrochen und zu Boden gefallen war.

Vielleicht aber auch ...

Dann wurde es wieder still, und das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang, kam von dem Wind, der weiterhin durch die Bäume fuhr. Ihre Wipfel wiegten hin und her, vor und zurück, als wenn sie sie verspotten wollten. Sie fühlte sich plötzlich unendlich einsam, von der ganzen Welt verlassen. Wie das Mädchen in einem dieser Märchen, das im Wald ausgesetzt wurde, damit die umherstreifende Bestie es sich holen konnte.

Zitternd drehte sie sich um und richtete den Blick auf das 28 Meter hohe Gipfelkreuz, welches über dem Wilzenberg wie ein überdimensionierter Grabstein thronte. Sie wusste, dass direkt dahinter der Wilzenbergturm stand, ein 1889 errichteter Aussichtspunkt, und unten am Berghang das Haus lag, in dem sie fast ein Jahr lang gearbeitet hatte.

Niemandem hatte sie erzählen dürfen, was in dem Haus vor sich ging, noch nicht einmal ihrer Mutter. So hatten die Männer es ihr klargemacht, und sie hatte sich stets daran gehalten, bis das Unfassbare geschehen war. Bis sie mit jemandem reden musste.

Er war der Einzige, an den sie sich hatte wenden können, weil er wusste, was sich hinter der offiziellen Fassade des Hauses abspielte. Er hatte ihr zugehört und sie tröstend in den Arm genommen, weil er sie genauso liebte wie sie ihn. Trotz des Altersunterschieds, der zwischen ihnen herrschte. Trotz der Aufgabe, die er in dem Haus zu erfüllen hatte.

Erneut atmete sie durch und warf einen Blick auf die Armbanduhr, die er ihr geschenkt hatte. Spürte, wie die Warterei sie von Minute zu Minute mehr zermürbte. Sie wollte endlich wieder in seinen Armen liegen, sich sicher und geborgen fühlen und darauf vertrauen, dass er wusste, was zu tun war. So wie immer. So wie in all den Wochen zuvor, seit sie ein Paar waren, von dem niemand etwas wissen durfte.

Dann knackte es wieder.

Ihre Rückenmuskulatur verspannte sich, und sie versuchte, mit den Augen jenen Teil der Dunkelheit zu durchdringen, aus der das Geräusch gekommen war. Einen Moment lang glaubte sie sogar, eine leise Melodie zu vernehmen, die ihr sonderbar vertraut vorkam.

»Hallo? Bist du es?«, rief sie leise.

Die Melodie wurde lauter. Zarte Klänge, und auf einmal wusste sie auch, woher sie sie kannte. Sie lächelte. Freute sich, dass er es nicht vergessen hatte.

Aber warum sagte er nichts? Hatte er Angst, dass jemand sie hören könnte? Hier, mitten in der Nacht, mitten im Wald?

Erneut rief sie seinen Namen, während sie gleichzeitig versuchte, zwischen den dichtstehenden Baumstämmen eine menschliche Kontur auszumachen. Die Melodie war jetzt immer deutlicher vernehmbar.

Dann verstummte sie plötzlich.

»Hallo?«, rief sie nochmals.

Keine Antwort. Nur Stille.

Selbst der Wind hatte sich gelegt. Es war, als würde die Umgebung die Luft anhalten. Sie schluckte, doch ihr Mund war trocken.

Dann sah sie die Bewegung.

Ein Huschen.

Sie sah ...

CHAPTER 2

KÖLN GEGENWART

Es gibt Momente, da weiß man schon beim Klingeln des Telefons, dass der Anrufer keine guten Nachrichten hat. Dies war einer davon. Jan Römer war erst vor einer halben Stunde aus den Redaktionsräumen des Nachrichtenmagazins Die Reporter nach Hause gekommen, als es läutete und er Sarahs Nummer auf dem Display sah. Sarah war seine Exfrau, die Mutter ihres gemeinsamen Sohnes Lukas, und wenn sie um diese Uhrzeit anrief, hatte das nichts Gutes zu bedeuten.

Wenigstens kam sie ohne Umschweife zur Sache: »Jan, ich habe Aussicht auf einen besseren Job. Als Lehrerin auf einer Privatschule.«

»Großartig. Glückwunsch.«

»Die Schule ist am Chiemsee. In Bayern.«

Er spürte, wie sein Herz aussetzte.

»Was ist mit Lukas?«

»Wenn ich die Stelle wechsele, kommt er natürlich mit«, erwiderte sie. »Ein Kind gehört zu seiner Mutter.«

Er konnte kaum glauben, wie beiläufig sie ihm diesen Schlag verpasste. Sagte nur: »Lukas ist auch mein Sohn.«

»Klar.«

»Dann wird dir auch bewusst sein, dass ich da ein Wörtchen mitzureden habe.«

»Theoretisch ja. Praktisch nein.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Wir haben doch nach der Trennung immer alles fair gehandhabt, was mit ihm zu tun hatte, oder? Dann wird uns das auch in dem Fall gelingen.«

»Fair?«

»Lass mich doch erst mal ausreden, Jan! Ich habe mir schon Gedanken gemacht. Lukas kann dich nach dem Umzug alle zwei Wochen am Wochenende besuchen kommen und natürlich die Hälfte der Ferienzeit mit dir verbringen. Weihnachten wechseln wir uns ab, ebenso Silvester und Ostern. Ich denke, das ist unter den gegebenen Umständen eine sehr vernünftige Lösung.«

»Vernünftig?« In ihm stieg Wut auf. »Du teilst mir einfach mal eben so am Telefon mit, dass du mir mein Kind wegnimmst, weil du in irgendein bayrisches Schickeria- Kaff ziehen willst, und redest dann von Vernunft?«

»Schrei bitte nicht so.«

»Ich schreie, wann ich will!«

»Und ich werde nicht in Köln bleiben, nur weil das für dich am bequemsten ist. Punkt. Nicht, wenn sich mir die Chance bietet, woanders hinzugehen, wo ich beruflich wesentlich besser gestellt bin und mehr Geld verdiene. Und wenn du mal in Ruhe darüber nachdenkst, wirst du feststellen, dass das neue Umfeld auch für Lukas eine große Chance ist.«

Er atmete tief durch, schaute auf den Kunstdruck von Monets Houses of Parliament London, der an seiner Wand hing, und versuchte, sich zumindest so weit wieder zu beruhigen, dass er antworten konnte. »Wir haben genug Geld. Du bist Beamtin, ich verdiene gut, es gibt also keinen Grund ...«

»Das Problem mit dir ist ...«

»Ach, heute nur ein Problem?«

Sie seufzte. »Eines der Probleme ist, dass man über manche Dinge mit dir einfach nicht in Ruhe diskutieren kann. Du bist viel zu emotional und regst dich immer ...«

»Erstens: Du diskutierst nicht mit mir, du stellst mich vor vollendete Tatsachen. Und zweitens: Entschuldige bitte, dass ich emotional reagiere, wenn es um mein Kind geht.«

»Ich habe schon zugesagt.«

»Klasse!« Er stieß ein zynisches Lachen aus. »Ohne zuvor mit mir zu reden.«

»Du siehst ja, wohin das führt, wenn ich es versuche.«

»Dann lass ihn bei mir, verdammt noch mal!«, fuhr er sie an. »Köln ist sein Zuhause. Hier hat er seine Schule, seine Freunde, seine vertraute Umgebung. Warum willst du ihm das wegnehmen?«

Er hörte, wie sie durchatmete, bevor sie sagte: »Er kann nicht bei dir leben, Jan. Du bist andauernd unterwegs, manchmal ganze Nächte. Du recherchierst, begibst dich in Gefahr, tust weiß Gott was. Glaubst du ernsthaft, du wärst die richtige Bezugsperson für ein elfjähriges Kind?«

Ein Teil von ihm wusste, dass sie recht hatte. Dennoch war er nicht bereit, in diesem Punkt nachzugeben. »Du gehst weg, nicht ich. Das ist nicht fair, und ich werde mich dagegen wehren.«

»Komm mir nicht so!«, erwiderte sie scharf. »Ich hatte gehofft, das nicht sagen zu müssen, aber meine Anwältin meint ...«

»Ach – du hast schon mit einer Anwältin gesprochen?«

»Natürlich.«

»Ich fasse es nicht!«

»Mach, was du willst, aber lerne, wie ein erwachsener Mensch damit umzugehen. Meine Entscheidung steht fest.«

Wütend schmiss er den Hörer auf das Sofa. Als er ihn wieder aufhob, hatte sie schon aufgelegt.

Nichts kann schlimmer sein als ein verregneter Montagabend, an dem die Exfrau einem mitteilte, dass sie einem den Sohn wegnehmen will. Sie raubte ihm Lukas, indem sie ohne sein Einverständnis mit ihm nach Bayern zog – zumindest kam es ihm so vor.

Gleichzeitig wusste er aber auch, dass Sarahs Anwältin einen möglichen Sorgerechtsprozess aller Voraussicht nach gewinnen würde. Ihm graute vor einem Gerichtstermin, vor den damit verbundenen harten Auseinandersetzungen, und er wusste, dass ein solcher Prozess Lukas zerreißen würde. Dass er seinen Sohn ganz verlieren konnte, wenn er mit allen Mitteln um ihn kämpfte.

Am besten wäre es gewesen, wenn er nach dem Telefonat mit Sarah sofort Arslan angerufen hätte. Arslan war einer seiner besten Freunde, ein ehemaliger Profiboxer, der jetzt in Köln-Mülheim ein Boxstudio betrieb. Der hätte ihm dann versichert, dass er voll auf seiner Seite stehe, dass er die Dinge wie Jan sah und keine Frau das Recht hatte, einem Mann das Kind wegzunehmen. Genau das also, was er in diesem Moment hören wollte.

Doch Jan entschied sich anders. Er zog los und suchte sich eine Bar in der Innenstadt, wo er versuchen wollte, sich einen Plan zurechtzulegen, um diesen Umzug doch noch zu verhindern. Er schaffte es nicht. Stattdessen schaffte er es, sich in Rekordzeit zu betrinken. Gin Tonic, Rum mit Cola, Whisky mit Triple Sec und Sprite, alles schön durcheinander und viel zu schnell.

Nach anderthalb Stunden hing er auf dem Klo der Bar und kotzte.

Anschließend schaffte er es noch irgendwie nach Hause. Er schaffte es sogar, sich die Treppen zu seiner Wohnung hochzukämpfen. Was er nicht mehr schaffte, war, sich zu waschen, bevor er vollständig bekleidet ins Bett fiel, wo der Schlaf ihn wie ein verständnisvoller Freund empfing.

In den folgenden zwei Tagen und Nächten richtete Jan sich in dem depressiven Loch ein, in das ihn Sarahs Anruf gestürzt hatte. Er trank direkt nach dem Aufstehen das erste Bier und dachte an das zweite, noch bevor er sich angezogen hatte. Er verbrachte mehr Zeit im Bett als außerhalb und redete mit dem Bild von Lukas, das in einem weißen Rahmen auf der Kommode stand. Bislang hatte das Bild ihm noch keine Antwort gegeben, aber vielleicht würde es das ja nach ein paar weiteren Dosen Bier tun.

Was es dann tatsächlich auch tat. Er telefonierte daraufhin mit Lukas, um zu erfahren, wie sein Sohn zu dem Umzug stand. Es war nicht zu überhören, dass Lukas schon jetzt hin- und hergerissen war, weil er sowohl Sarah als auch ihm gegenüber loyal sein wollte. Und er hörte heraus, dass ein Teil von Lukas sich auf Bayern freute, auf das Haus am See dort, das Sarah ihm offenbar in den schillerndsten Farben beschrieben hatte.

Jan sagte ihm daraufhin Dinge, an die er selbst nicht glaubte: Dass sie auf immer und ewig ein Team bleiben würden, dass Lukas jedes zweite Wochenende nach Köln kommen konnte und sie sich deshalb ja kaum weniger sehen würden. Dass alles beim Alten bliebe, trotz des Umzugs und der Entfernung zueinander. Dabei gab er sich Mühe, seiner Stimme einen fröhlichen Klang zu verleihen, während er sich gleichzeitig die Unterlippe blutig biss.

Nachdem sie eingehängt hatten, schaute Jan sich in seinem Schlafzimmer um. Es sah aus, als hätte jemand strategisch geschickt ein paar Dynamitstangen in den Schubladen verteilt und diese dann gleichzeitig gezündet, worauf ein paar der Kleidungsstücke tot auf dem Boden zurückgeblieben waren. Andere hatten sich verwundet noch ein Stück weitergeschleppt und klammerten sich jetzt an den Schrank und die Bettfüße wie Gefallene.

Er beseitigte die schlimmsten Auswüchse des Chaos, dann ging er duschen, zog sich Jeans, einen dünnen Pullover und Chucks an und verließ am frühen Abend das Haus. Nicht aufgrund irgendwelcher »Das Leben geht weiter«-Anwandlungen, sondern aus rein profanen Gründen.

Essen, zum Beispiel.

Er schloss gerade seine Wohnungstür ab, als er eine Stimme hinter sich hörte. »Guten Abend, Herr Römer! Na, wir zwei haben uns ja schon länger nicht mehr gesehen.«

Christina Guerin wohnte auf derselben Etage wie er. Eine attraktive Blondine Mitte dreißig, die viel dafür tat, in Form zu bleiben. Ihr Mann war Franzose, und sie hatte ihm auch mal gesagt, bei welcher Firma er arbeitete. Diese Information hatte er sofort wieder vergessen, Fakt war aber, dass der gute Mann zu viel unterwegs war und seine Frau zu oft allein ließ.

»Hallo«, sagte Jan und winkte ihr zu.

»Wo geht's denn hin?« »Nur kurz vor die Tür, eine Kleinigkeit essen.«

»Ach, das ist ja ein Zufall«, sagte sie und stellte die Einkaufstüten ab. »Ich wollte mir gerade eine Lasagne machen. Wenn Sie möchten, können Sie mir gern dabei Gesellschaft leisten. Mein Mann ist schon wieder im Ausland, und Sie wissen ja, wie das ist – für einen allein zu kochen, macht einfach keinen Spaß.«

»Das ist wirklich nett von Ihnen, aber ich bin schon verabredet. Vielleicht ein anderes Mal, ja?«

Sie musterte ihn mit einem Blick, den er nur schwer deuten konnte. »Wirklich schade«, sagte sie dann. »Einen schönen Abend noch und viel Spaß bei der Verabredung.«

Er winkte ihr zu, dann verließ er das Haus.

Es war ein milder Abend, und die Straßen waren immer noch belebt. Jan ließ sich vom Strom der Passanten treiben und machte extra einen Umweg, bevor er sein Stammlokal auf der Subbelrather Straße erreichte. Dort traf er Mütze, und wie so oft war sie seine Rettung.

*
Mützes richtiger Name lautete Stefanie Schneider, aber so nannte sie niemand. Nicht, seitdem sie sich in der Jugend den Tick angewöhnt hatte, das Haus nie ohne Kopfbedeckung zu verlassen. Ohne Strickmütze oder Baseballcap, so sagte sie, fühlte sie sich nackt und schutzlos.

Mütze war 33 Jahre alt und somit gut zehn Jahre jünger als er. Sie war schlank und groß gewachsen, hatte dunkelblonde Haare und braune Augen, die von bernsteinfarbenen Punkten durchsetzt waren. Ihr Gesicht sah rosig und blitzeblank aus, so gänzlich ungezeichnet vom Leben, obwohl sie sämtliche Schattenseiten kannte. Dennoch schwebte sie wie ein schillernder Vogel über dreckigem Wasser, unverdorben von den Vorgängen in der Tiefe. War ihr Leben wirklich so leicht? Oder verfügte sie einfach über das Talent, es leicht zu nehmen?

Mütze war nicht nur seine Kollegin beim Nachrichtenmagazin Die Reporter, sie war weit mehr als das: der Mensch, dem er wie keinem anderen vertraute. Ob er in sie verliebt war? Wahrscheinlich schon, wenn auch eher unterschwellig. So konnte die Liebe bleiben, ohne die Freundschaft zu zerstören.

In der folgenden Stunde erzählte er Mütze von dem Telefonat mit Sarah, wobei die reine Schilderung des Gesprächs nur fünf Minuten dauerte und der Rest der Zeit dafür draufging, Mütze wissen zu lassen, was er von seiner Exfrau hielt und was er ihr gerade am liebsten antun würde. Dann ging es ihm besser. Ähnlich wie einem Druckbehälter, bei dem das Ventil geöffnet wurde und der auf einen Schlag den ganzen Druck ablassen konnte.

»Geht's dir jetzt besser?«, fragte sie.

»Ist das so offensichtlich?«

»Der Rotton in deinem Gesicht ist etwas blasser geworden, aber die Halsschlagader pocht immer noch. Weißt du zufällig, ob sie hier einen Defibrillator haben?«

Er lachte, dann bat er sie, ihn mit irgendwas anderem abzulenken. Sie erzählte ihm, dass sie am Vormittag ein Treffen mit Alexander Herold gehabt hatte, dem Herausgeber von Die Reporter, und dabei seinen ganzen Frust über die sinkende Auflage des Magazins und den nicht aufzuhaltenden Vormarsch sozialer Netzwerke abbekommen hatte.

(Continues…)



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