Das Lied der Neuen Welt

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Das Lied der Neuen Welt

eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Cleveland, 1905. Als »Neapels Nachtigall« bezaubert die italienische Sängerin Teresa mit ihrer Stimme das Publikum. Allein ihre Tochter Lucia kennt Teresas dunkle Seite, ihr unkontrolliertes Temperament, das sie beide gezwungen hat, aus Italien zu fliehen und ihr Glück in der neuen Welt zu suchen. Doch Lucia will nicht länger der Spielball von Launen sein. In Cleveland findet sie endlich die Kraft, sich zu wehren: Um sich ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben und Bildung zu erfüllen, trifft sie eine Entscheidung, die ihr Schicksal und das vieler anderer Menschen für immer verändern wird. 

Ein Must-Read für alle, die vielschichtige Charaktere, starke Frauen und ein realistisches historisches Setting lieben."
Pittsburg Examiner

"Ein großartiger Cast, eine zeitlose Familiengeschichte und ein faszinierendes amerikanisches Gesellschaftsporträt."
Publishers Weekly


Product Details

ISBN-13: 9783959677233
Publisher: HarperCollins Publishers
Publication date: 01/02/2018
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 432
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Pamela Schoenewaldt lebte zehn Jahre in der Nähe von Neapel, was sich in ihren historischen Romanen immer niederschlägt. Auch die Themen Familie, Immigration, Rechte und die menschliche Psyche bilden ihr literarisches Herzstück. Die USA Today-Bestsellerautorin lebt mit ihrem italienischen Ehemann, einem Arzt, in Tennessee.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Singen am Vesuv

Mittlerweile verbringe ich Stunden in Eisenbahnen oder holpere fröstelnd in geliehenen Model Ts über ausgefahrene Straßen zwischen Städten, die auf gefrorene Felder geworfenen Steinen gleichen. Ich wasche mich an Spülbecken und esse an Imbissständen am Straßenrand; manchmal aber auch von feinen Porzellantellern, gereicht von Damen, die mit mehr Schmuck behängt sind, als ich je besitzen werde. Ich spreche in Salons, Parks, Gasthäusern, Kirchen und gewerkschaftlichen Versammlungshallen im Mittleren Westen. Noch kann ich nicht nach Cleveland zurückkehren.

"Glaubt mir, ihr könnt gewinnen!", rufe ich denen zu, die von der harten Arbeit in den Fabriken und Mühlen gezeichnet sind. Meine Stimme wird langsam rau und heiser wie das Krächzen einer Krähe. Kaum zu glauben, dass meine Mutter die Nachtigall von Neapel war!

Ich bitte um ein Glas Wasser, räuspere mich und fahre fort. "Dies ist das Jahr 1913. Euer Leben kann sich verändern. Denkt an eure Kinder." Die Arbeiter starren mich ungläubig an. Als ihre Zweifel die Krallen nach mir ausstrecken, höre ich meine Mutter, die mir zuflüstert: "Lucia, selbst Krähen müssen irgendwann einmal Luft holen." Also atme ich tief durch, stelle mich breitbeinig hin, um mir mehr Halt zu geben, und spreche weiter.

Wenn mich die Frauen danach dankbar küssen und mir die Männer ihre abgearbeiteten Hände reichen, dann bekommen die Qualen dieses Wegs – die Gefängnispritschen, auf denen ich geschlafen habe; der Verrat von Freunden; der Schmerz um die Geschundenen, denen ich geschworen hatte, es könnte ihnen nichts passieren – einen Sinn.

Wenn auf unseren Landkarten Flüsse, Seen oder Kanäle eingezeichnet sind, bitte ich darum, sie mir in natura ansehen zu dürfen, selbst wenn die seichten Gewässer übel riechen und Ölschlieren auf der Oberfläche treiben.

In meinen festen Schnürschuhen bin ich plötzlich wieder barfuß. Ich wate durch das Wasser der Bucht von Neapel, dieses warmen blauen, von leuchtendem Grün umarmten Halbrunds, beobachte die auf den Wellen schaukelnden Fischerboote und höre die Rufe der Straßenhändler. Es ist mein letzter Sommer in Italien, ich heiße noch Lucia Esposito, befinde mich an der Schwelle zum Erwachsenwerden und bin ganz zufrieden mit meinem Leben. Mamma und ich sind Hausangestellte der Contessa Elisabetta Monforte in ihrer rosafarbenen Villa, die in die Bucht hinausragt. In der Küche dieser Villa bin ich zur Welt gekommen, und in den ganzen vierzehn Jahren meines Lebens habe ich noch nie woanders geschlafen als auf der schmalen Liege neben Mamma.

Wo hätte ich auch sonst hingehen sollen? Im Obstgarten wuchsen Zitronen-, Orangen-, Feigen- und Pflaumenbäume. An den Hauswänden rankten sich Flieder und Bougainvillea empor. Sonntagnachmittags, wenn wir unseren halben freien Tag hatten, nahmen wir Brot und Wein mit zu dem großen, abgeflachten Felsen, der sich wie eine Theaterbühne vor dem Kegel des Vesuvs ausnahm. Wenn Nannina, die Köchin, guter Laune war, gab sie uns Käsestücke mit und irdene Schüsseln voller Pasta und Bohnen. Tomaten und süße Paprikaschoten, die von den Vögeln angepickt worden waren, gehörten uns. Reife Zitronen fielen von den Bäumen; wir sammelten sie in unseren Schürzen auf.

"Ich habe auf dem Markt Zitronen gesehen", sagt ein junger Mann aus der Gewerkschaftshalle.

"Waren sie groß wie zwei Fäuste und hatten eine großporige Schale?", frage ich. "Schwer wie Melonen und fast genauso süß? War die Schale noch warm von der Sonne, das Fruchtfleisch jedoch so kühl wie eine Meeresbrise?"

"Nein", gibt er zu. "Ganz und gar nicht."

Es war immer heiß an jenen Nachmittagen an der Bucht, aber es war nicht die drückende, von Kohlenstaub geschwängerte Hitze der amerikanischen Städte. Unsere altersdünnen, verschwitzten Leinenkleider klebten an unseren Körpern. Mamma war achtundzwanzig und eine Schönheit; mit sanften Rundungen, cremeweißer Haut, Mandelaugen und einer Flut glänzender schwarzer Haare, die ihr in Wellen über die Schultern fielen. Junge Männer mit Körben voller Muscheln, die sie an den Klippen von Posillipo gesammelt hatten, ruderten dicht an unseren Felsen heran und riefen: "Fahr mit uns hinaus, Teresa. Wenn du willst, kannst du deine kleine Schwester mitnehmen."

Sie ignorierte sie oder gab so schroffe Antworten, dass ich sie einmal fragte, ob es ein Muscheltaucher gewesen wäre, der sie als erst Vierzehnjährige ins Seegras gestoßen und mit mir geschwängert hatte. "Nein, es war jemand auf einem Kostümball. Der Schuft trug eine Maske."

"Sing mir etwas vor", bat ich sie in solchen Momenten, wenn sie zu zittern anfing und ihre Miene sich vor Zorn verfinsterte. Dann wandte sie sich dem Vesuv zu, dem dunklen Berg, den sie so liebte, und sang "Maria Marì", "Santa Lucia" oder "Sì, mi chiamano Mimi" aus ihrer Lieblingsoper La Bohème. Das Singen stimmte sie wieder weicher; sie ließ mich die Nadeln aus ihrem Haar ziehen, es zu einem Zopf flechten oder es offen über ihrem Rücken ausbreiten. In einer meiner frühesten Erinnerungen tauche ich meine kleinen Hände in diese seidige Flut und ziehe sie wieder daraus hervor. Sie gleichen Delfinen, die aus den dunklen Wellen springen.

An jenen Sonntagnachmittagen spielten Kinder auf der Mole, flickten Fischer ihre Netze, und Liebespaare ließen sich zwischen den Felsen nieder. Alle waren wie verzaubert von ihrer Stimme, die einem Seevogel gleich schwerelos zum Himmel emporschwebte. Ich lehnte an ihrer Schulter; sie drückte mich an sich, unsere Körper verschmolzen, und sie war alles, was ich brauchte.

Ich habe nie Anzeichen dafür entdeckt, dass ihr Geist so labil war, und wenn, dann habe ich sie falsch gedeutet. Ihre plötzlichen Wutanfälle; die kostbaren Porzellanfiguren, die scheinbar zufällig ihren Händen entglitten und auf dem Marmorboden zerschellten; die wiederholten Drohungen des Grafen, uns fortzuschicken, und die angespannten Gespräche zwischen Contessa Elisabetta und Paolo, dem Majordomus – all das war für mich vertrauter Alltag. Was wusste ich schon über andere Mütter? Erst jetzt, rückblickend, sprechen diese Anzeichen so deutlich zu mir wie dunkle Wolken über Kornfeldern, die Regen ankündigen.

Wenn ich in jenen Tagen über meine Zukunft nachdachte, sah ich uns beide in den Diensten einer alternden Gräfin. "Lucia, wenn du das Lesen und Rechnen beherrschst, könntest du später einmal einem hochherrschaftlichen Haushalt vorstehen", sagte Paolo einmal, als wir allein waren. Ein breites Lächeln erhellte dabei die sonst in der Öffentlichkeit so ernsten Züge, und ich war ganz aufgeregt. Aber was sollte Mamma ohne mich anfangen? Nein, ich wollte für immer in der Villa bleiben.

Und was hätte ich getan ohne Paolo, der wie ein Fels in der Brandung immer für uns da war? Einmal dachte ich laut darüber nach, wie wunderschön unser Leben sein würde, wenn er mein Vater wäre. Mamma und ich wischten gerade Staub im Salon, in dem der Flieder, der sich draußen neben den hohen Fenstern emporrankte, seinen Duft verströmte. Ihre Miene wurde erst wehmütig, dann war es, als ob sich dunkle Wolken vor den Mond schöben. "Nun, er ist aber nicht dein Vater", brauste sie auf und entstaubte eine Porzellanschäferin so ungestüm, dass diese umfiel. Mit einem großen Satz nach vorn konnte ich sie gerade noch auffangen.

"Aber es können doch nicht alle Männer so schlecht sein ..." Sie brachte mich mit einem wütenden Blick zum Schweigen. Als ich die kleine Porzellanschäferin an ihren Platz zurückstellte, schien diese sich mit ihrem kitschig bemalten Gesicht über mich lustig zu machen, als wollte sie sagen: "Ich habe einen guten Vater."

"Lass mich allein! Geh und hilf Nannina", fuhr Mamma mich an. Und so wurde ich wieder einmal in die Küche verbannt und musste angebrannte Töpfe scheuern.

"Was war es dieses Mal?", wollte Nannina wissen, und ich gestand ihr meine heimliche Angst – dass Mamma jedes Mal, wenn sie mich ansah, in Wirklichkeit ihn sah, den maskierten Schuft. Wie konnte ich ihn nur von mir abstreifen? Heiße Tränen fielen ins Spülwasser.

"Hier", sagte Nannina und gab mir eine Scheibe Brot vom Vortag mit Ricotta darauf. "Erstens kennen viele Leute ihren Vater nicht, viel mehr, als du glaubst. Und zweitens verdankst du diesem Mann dein Leben. Wünschst du dir, du wärst gar nicht auf der Welt?"

"Nein, aber sie ist manchmal so ..."

"Schwierig. Ich weiß. Aber sie hat dich lieb, nur dich. Denke immer daran."

"Instabil", hörte ich einmal den Grafen zu Paolo sagen. Ich stellte mir Mamma in einem schwankenden Boot stehend vor, instabil.

Bei Anbruch der Nacht war ihr Zorn verebbt. Während sie vor dem Schlafengehen mein Haar bürstete und flocht, versuchte ich wie so oft, ihre Laune zu bessern, indem ich sie zum Erzählen brachte.

"Erzähl mir von deinem Vater, Mamma."

"Er war ... Chorleiter." Und damit begann eine neue Fantasiegeschichte. Ihr Vater war ein gut aussehender Fischer, nein, nein, ein Kameenschnitzer, ein Fechtmeister, ein Schauspieler aus Paris, ein deutscher Prinz. Einmal, nach dem Genuss von Wein auf einem Straßenfest, ein verwunschener Fischgott. Nun murmelte sie: "Ich sage dir jetzt die Wahrheit; er verließ uns, und dann starben meine Mutter und meine Brüder an der Cholera. Ich fand Arbeit bei der Gräfin und bekam dich." Danach sprach sie nie wieder von ihm, und ich begriff, dass wir keine weitere Familie mehr hatten, nur noch uns beide. Dem Wohlwollen Paolos und der Gräfin Elisabetta hatten wir es zu verdanken, dass wir in der Villa lebten. "Mach die Augen zu", sagte sie sanft, "und ich singe dich in den Schlaf."

Am nächsten Morgen, als wir gerade die Terrasse fegten, hielt sie plötzlich inne und umarmte mich stürmisch. "Meine kleine Santa Lucia. Uns wird niemals etwas Schlechtes widerfahren. Niemals!"

"Nein, Mamma, natürlich nicht."

Genauso plötzlich machte sie sich wieder an ihre Arbeit und erklärte, jetzt wäre ich an der Reihe, mir eine Geschichte auszudenken. Ich machte uns zu Meerjungfrauen in einer Unterwasservilla, wo das Meer allen Staub und Schmutz fortspülte, uns das Essen brachte und unsere Korallenteller blank polierte. Wir schliefen in Betten aus Seegras, für die man keine gebügelten Laken brauchte. "Und wir können den ganzen Tag lang lesen", fuhr ich verträumt fort. Mamma runzelte die zarte Stirn, als wäre dies die seltsamste Fantasie von allen.

Rückblickend finde ich es merkwürdig, dass ich niemals daran gedacht habe, Neapel zu verlassen. 1905 legten unentwegt Schiffe nach Amerika ab. Hausierer, Tagelöhner, Fischer, ja selbst Wasserträger hatten irgendjemanden "dort drüben". Paolo und Nannina, unser Gärtner Luigi und Alma, die Waschfrau – alle besaßen Fotos von Familienangehörigen und Freunden in Amerika. Der alte Bernardo führte in seinem Marionettentheater die Abenteuer seines Bruders in New York vor; die herrlich gemalten Kulissen zeigten die Freiheitsstatue und prunkvolle Paläste an der Fifth Avenue. Dennoch schien keins dieser Wunder ein Grund zu sein, Neapel zu verlassen.

Nein, unser Weg ins Exil begann mit einem Tintenfisch in dem Sommer, als ich gerade vierzehn war. Graf Filippo flüchtete im Sommer meist vor der Hitze in der Stadt in seine Villa in den Hügeln von Capri, in sein Lustschloss, wo er sich, wie Nannina verächtlich brummte, "von gewissen Damen unterhalten lässt." In jenem Jahr hinderte ihn jedoch die Malaria daran, und er war ruhelos und furchtbar gereizt. An einem brütend heißen Augustmorgen verlangte er ein Mittagessen, bestehend aus Pasta mit Tintenfischsauce, Mozzarella, Tomaten von den Hängen des Vesuvs und einem Zitroneneis vom Café Gambrinus.

"Dr. Galuppi hat dir geraten, nur leichte Kost zu dir zu nehmen", warnte Gräfin Elisabetta.

"Ich esse, verdammt noch mal, was ich will", brüllte er. Also schickte Nannina uns zum Einkaufen und trug uns auf, uns zu beeilen; die Sauce benötigte einige Vorbereitungszeit.

Auf dem Fischmarkt feilschte Mamma geschickt um einen fetten Tintenfisch und schlug ihn tot. Der große Olivenmann füllte unseren Tonkrug; danach kauften wir Tomaten, Brot und sahnige Mozzarellakugeln. Inzwischen war unser Korb so schwer, dass wir ihn zu zweit tragen mussten.

Im Café hatte sich eine Schlange gebildet. Vor uns unterhielten sich ein paar Frauen aufgeregt über den berühmten Mailänder Dirigenten Maestro Arturo Toscanini, der in Kürze in der San Carlo Oper eintreffen sollte. Mamma beugte sich vor und lauschte neugierig. Ich zupfte an ihrem Ärmel. "Sieh nur, Mamma, heute bedient der nette Eisverkäufer. Vielleicht gibt er mir ja wieder eine Kostprobe."

"Hast du gehört", wandte sich die große Frau vor uns an ihre Freundin, "wie gut Maestro Toscanini aussieht und wie 'talentiert' er ist – und das nicht nur, was die Musik betrifft?" Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr, und beide lachten hell auf.

"Wir gehen zur Oper", verkündete Mamma und zerrte mich aus der Schlange heraus. "Ich werde ‚Sì, mi chiamano Mimi' vorsingen und entdeckt werden wie Enrico Caruso." Sie zog mich die Via Roma entlang.

Der Korb schlug gegen meine Beine. Ihr gerötetes Gesicht machte mir Angst, und ich packte ihren Arm. "Nein, Mamma, wir müssen nach Hause gehen! Graf Filippo wird wütend sein, wenn wir zu spät kommen."

"Der Mann ist schon wütend zur Welt gekommen! Heute Morgen war er sogar wütend auf die Möwen. Wenn meine Stimme Toscanini gefällt, werden wir reich. Du wirst Privatlehrer haben. Wir reisen in die großen Städte." Sie war jetzt außer Atem, und feuchte Locken klebten an ihren Wangen. "Wir werden Bedienstete haben und von feinen Porzellantellern essen. Das ist meine Chance, endlich eine Operndiva zu werden. Eine zweite bietet sich mir vielleicht nicht."

"Aber die Tintenfischsauce ..."

Sie blieb stehen, packte meine Schultern und schüttelte mich so heftig, dass mir der Kopf wehtat. "Basta mit der Tintenfischsauce! Willst du dein Leben lang immer nur Fußböden scheuern?" Vor dem Haupteingang des Opernhauses hatte sich bereits eine aufgeregte Menge eingefunden. "Wenn Toscanini aus der Kutsche steigt, halte ihn auf, damit er mich singen hört."

Das Blut dröhnte in meinen Ohren. "Wie soll ich ihn denn aufhalten?" Ich hatte zwar keine Ahnung von der Oper, aber ich wusste eins ganz genau – dass Dienstmädchen keine Gentlemen behelligten.

"Halt ihn an den Rockschößen fest! Da ist die Kutsche, beeil dich!"

Doch letztlich kam ich nie dazu, ihn zu berühren. Erstarrt in der Gewissheit einer bevorstehenden Katastrophe sah ich, wie meine Mutter sich durch die Menge drängelte und sich dem Maestro in den Weg stellte, als ihm drei kleine Mädchen gerade Rosen überreichen wollten. Sie holte tief Luft, nahm Haltung an und begann zu singen. So erschrocken ich auch war, erkannte ich doch, dass ihre Stimme noch nie so schön geklungen hatte, so hoch, kraftvoll und klar. Die Menge verstummte; vielleicht glaubten manche, sie gehörte zum Willkommenskomitee der Stadt. Arturo Toscanini war in der Tat ein schöner Mann mit seinem weißen Hut, den schwarzen Augenbrauen, die sich wie Adlerschwingen über seinen scharfen Augen wölbten, dem prächtigen Schnurrbart und dem eleganten taubengrauen Anzug. Als er den Kopf zur Seite neigte, um zuzuhören, hielt ich den Atem an. Vielleicht wurde sie ja tatsächlich entdeckt. Dann streckte sie die Hände nach seinem Jackett aus.

"Nein, Mamma, fass ihn nicht an!", rief ich, aber sie hatte bereits seine Revers gepackt, als wäre sie Mimi und er ihr Liebhaber Rodolfo. Toscanini wich abrupt zurückt und schnippte mit den Fingern.

Er ruft seine Leibwächter, dachte ich entsetzt. Ja, Offiziere mit roten Umhängen näherten sich Mamma, während sie leidenschaftlich weitersang. Ich war hin- und hergerissen zwischen Panik und Stolz – Mamma, hör auf, lauf weg! dachte ich, und gleichzeitig: Maestro, machen Sie eine Operndiva aus ihr!

"Das Problem in Neapel ist", wandte er sich an eine Gruppe junger Männer, "dass hier selbst die Straßenweiber singen wie die Engel. Hören Sie sich dieses Timbre an, diese Beweglichkeit der Stimme! Und doch ist sie offensichtlich ein Dienstmädchen oder sogar noch Schlimmeres und schon zu alt für die Ausbildung. Ich kann sie nicht gebrauchen, aber wenn einer von Ihnen sie für ein Hauskonzert haben möchte, lässt sich das sicher arrangieren." Dann war er fort, behände wie eine Katze verschwand er mit fliegenden grauen Rockschößen im Opernhaus.

Ich ließ den Korb fallen und rannte zu Mamma. Ihr Gesicht war tiefrot vor Zorn. Sie hob die geballten Fäuste und schrie ihm nach: "Du Mistkerl! Du Speichellecker der Reichen mit all deinen Geliebten und seidenen Röcken! Du warst einst ein Niemand, und jetzt willst du einer ehrlichen Frau nicht helfen!" Sie machte einen Satz in Richtung Tür, und ich bekam nur noch ihren Schal zu fassen.

Die Wachen ergriffen sie. "Lasst mich los! Graf Filippo Monforte lässt es nicht zu, dass man seine Bediensteten misshandelt!", kreischte sie.

(Continues…)



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