Das Glück kurz hinter Graceland: Roman

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Overview

Zwei Frauen, ein Weg, eine Antwort

Cory Ainsworth schlägt sich nach dem Tod ihrer Mutter als Blues-Sängerin durch. Bis sie im alten Schuppen ihres Elternhauses ein Erinnerungsstück der Rock 'n' Roll-Geschichte entdeckt: den Blackhawk, das legendäre Auto von Elvis Presley. Für Cory ist das der langgesuchte Beweis: Elvis muss ihr biologischer Vater sein! Vor 37 Jahren war ihre Mutter Honey Backgroundsängerin beim King persönlich. Alles, was sie weiß, ist, dass Honey nach einem Jahr reumütig nach Hause zurückkehrte, um ihre Jugendliebe zu heiraten. Kurzerhand startet Cory das Auto und fährt dieselbe Route ab, die Honey damals genommen hat. Dabei erfährt sie nicht nur viel über ihre Mutter, sondern auch über Elvis, die 70er und ihren eigenen Platz in dieser Geschichte.

Eine faszinierende Mutter-Tochter-Geschichte – bewegend und mitreißend wie ein Elvis-Song


Product Details

ISBN-13: 9783843716062
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 03/09/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 352
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Kim Wright schreibt für mehrere Lifestylemagazine über Wein, Restaurants und Reisen. Sie ist leidenschaftliche Tänzerin und lebt in Charlotte, North Carolina.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

TEIL EINS

Beaufort, South Carolina

CORY

30. Mai 2015

Ich war ein Frühchen und wog 4490 Gramm. Ja, ich weiß. Unmöglich. Aber medizinische Wunder speziell dieser Art sind im ländlichen Süden sehr verbreitet, verstehen Sie. Hier blickt Jesus noch immer von Reklametafeln herab, und den Leuten ist es nach wie vor wichtig, was ihre Nachbarn denken. Wir beten, und wir grüßen einander ... und vor allem lügen wir. Deshalb haben wir auch so viele gute Schriftsteller hervorgebracht und ebenso viele schlechte. Wir alle haben gelernt, die Wahrheit zu verbiegen, kaum dass wir zu sprechen gelernt haben.

Das mag sich schlimm anhören, aber man sollte bedenken, dass die meisten Menschen nur lügen, um etwas zu schützen, was sie lieben, wie ihre Familie oder ihre Würde oder ihren Ruf. Ein Gefühl für Anstand kann durchaus etwas Gutes sein. Bei genauer Betrachtung verfügt die Welt nicht über genug Anstand. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter bei einer Gastspielaufführung von Anatevka in Savannah, zu der sie mich mitgenommen hatte, zu weinen anfing und sich die Augen rieb, als sie »Tradition« sangen. Sie sagte zu mir: »Das ist mein Leben, Cory Beth, das bin ich durch und durch. Mit der einen Ausnahme, dass sie Juden sind.«

Versetzen Sie sich also in eine Version von Anatevka, wo es zur Tradition gehört, dass man Reis in kleine rosa Netzsäckchen verpackt, bevor man die Braut damit bewirft, dass man das dunkle Fleisch ganz unten im Hähnchensalat vergräbt, damit die Damen vom Gebetskreis nicht denken, man gehöre zum Gesindel, und dass man Leuten, die man eigentlich gar nicht ausstehen kann, Geburtstagsgeschenke schickt, nur weil sie einem 1997 mal eins geschickt haben und nun keiner mehr weiß, wie man aus diesem Teufelskreis rauskommt. Ganz genau. Versetzen Sie sich in ein Irrenhaus, wo man sehr höflich miteinander umgeht, und Sie bekommen ein Gefühl dafür, wie ich groß geworden bin.

Beaufort, South Carolina, das ist der Alte Süden. Nicht vergleichbar mit Atlanta und seinem Hip-Hop oder Charlotte mit seinen Banken oder Florida mit Walt Disney und all den Serienmördern. Das ist eine völlig andere Welt. Das ist der Teil des Südens, der mehr oder weniger den Krieg gewonnen hat, und die Menschen vergessen gern, dass der Rest von uns auch noch existiert. Wir sind nichts weiter als ein Ort, durch den man fährt, wenn man anderswohin unterwegs ist. Sind die Leute gezwungen, hier anzuhalten, weil sie was benötigen – Benzin oder Feuerwerkskörper oder einen Grill oder Wassermelonen –, kehren sie in ihre Autos zurück und sagen kopfschüttelnd: »Ist das zu fassen?« Sie halten uns für langsam. Aber wir sind gar nicht so langsam. Wir brauchen einfach nur länger für alles. Wir streifen umher, machen Umwege und reden um den heißen Brei herum, und genau das tue ich im Moment wohl auch.

Aber ich will Ihnen etwas mitteilen, und jetzt kommt es: Zu sagen, ich sei sieben Monate und vier Tage, nachdem meine Eltern geheiratet haben, zur Welt gekommen, ist nur eine Rechenvariante. Eine andere wäre, zu sagen, ich sei sieben Monate und neun Tage, nachdem meine Mama Graceland verlassen hatte, geboren worden. In wahnsinniger Eile war sie nach Hause gerast, weil ihr plötzlich klar geworden war, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie doch nicht als Backgroundsängerin auf Tour gehen und sich die Haare schwarz färben und die Augen schminken und den strahlenden Lichtern des Rock 'n' Roll hinterherjagen sollen. Vielleicht wäre sie besser zu Hause geblieben und hätte den Jungen von nebenan geheiratet, den, der sie so sehr liebte, dass er ihr noch am selben Abend, als sie beide ihren Highschoolabschluss von der Leland Howey High in der Tasche hatten, einen Heiratsantrag machte. Aber das hatte sie damals nicht begriffen. Sie war blind dafür gewesen, dass ihr wahres Schicksal direkt vor ihr stand. Sie war achtzehn, und sie musste sich etwas beweisen.

Also verließ Laura Berry Beaufort, und als die Tür hinter ihr zuschlug, erschütterte der Knall Bradley Ainsworths Herz. Sie tourte, und er wartete, wurstelte sich durch im Familienbetrieb, der mit Beton sein Geld verdiente, bis zu jenem Tag ... jenem Tag im Spätsommer 1977, als es so heiß war, dass die Luft flimmerte, und er aufblickte und anfangs dachte, der Schweiß in seinen Augen beschere ihm ein Trugbild. Aber nein, sie war es wirklich. Laura, die Liebe seines Lebens, kam über den Rasen auf ihn zu. Das Make-up hatte sie sich aus dem Gesicht gewischt. Die Stiefel waren verschwunden und die Lederjacke auch, das Haar war schlicht zusammengebunden, und sie streckte ihre Arme aus wie eine Schlafwandlerin. Es tue ihr leid, sagte sie. So überaus leid. Sie habe die Welt gesehen, und sie habe genug gesehen. Sie habe Memphis verlassen und sei die Nacht durchgefahren, habe geweint und gebetet und Truck-Stopp-Kaffee getrunken, um durchzuhalten. Wolle er sie immer noch? Oder sei es zu spät?

Statt einer Antwort hob er sie hoch und wirbelte sie herum. Er drehte sich mit ihr um die eigene Achse, und als sie sich noch mal entschuldigen wollte, sagte er, sie solle still sein, denn das Jahr ihres Getrenntseins habe es nie gegeben. Sie sei sein Mädchen, sei es immer gewesen, und jedes weitere Wort erübrige sich. Gleich am nächsten Tag heirateten sie, Lauras Vater stand auf der Kanzel, und die gesamte Gemeinde füllte die Bänke. Der Rest ihres Lebens spulte sich ab wie Seide, ein schönes Ereignis folgte dem anderen, genau so, wie sie es geplant hatten.

Sieben Monate und vier Tage später kam ich. Ich war so groß und kräftig, dass allgemein behauptet wurde, ich hätte meinen Kopf gehoben und Laura und Bradley im Kreißsaal angesehen nach dem Motto: »Ernsthaft? Seid ihr euch da sicher? Ist das die Geschichte, an der wir festhalten wollen?«

Bradley Ainsworth ist ein guter Mann. Er hat meine Mutter bis zu ihrem viel zu frühen Tod gepflegt, als sie an Brustkrebs erkrankte, und er hat alles getan, was man von einem Vater erwarten kann. Ich sehe ihn noch immer vor mir, wie er das Markiergerät über den Fußballplatz der Grundschule schiebt, wie er die Kekse der Pfadfinderinnen isst, die zu verkaufen ich zu schüchtern war, wie er die Stirn runzelt und den jeweiligen Jungen vor einem Date mit mir fragt, wieso er glaubt, sein kleines Mädchen zum Tanz ausführen zu dürfen. Er lebt ein einfaches, schlichtes Leben. Er wählt die Republikaner und nimmt an den Versammlungen der Presbyterianischen Kirche von Beaufort teil. Ich würde ihm niemals wehtun wollen, aber Zahlen lügen nicht, und Fakten sind Fakten, und die Wahrheit kann selbst im Süden nicht auf Dauer verborgen bleiben. Ich habe es schon immer gewusst, und es ist Zeit, etwas zu unternehmen. Die meisten Menschen, denen ich wehtun könnte, sind tot, außer Bradley, und wer weiß, vielleicht hat die Wahrheit ja auch für ihn etwas Befreiendes. Tief in seinem Herzen muss er es doch auch wissen, und deshalb können wir beide genauso gut einmal tief Luft holen und es laut aussprechen:

Mein wirklicher Vater ist Elvis Presley.

Das ist nicht einfach so aus der Luft gegriffen. Es ist nicht nur dem unleugbaren biologischen Tatbestand geschuldet, dass meine Mama bereits schwanger gewesen sein muss, als sie in wilder Fahrt von Memphis nach Beaufort durch die Nacht raste und sich überlegte, wie sie das Baby eines anderen Mannes ihrer gutgläubigen Highschool-Liebe unterjubeln könnte. Ich behaupte das auch nicht allein deshalb, weil mein Bauchgefühl mir immer schon gesagt hat, dass ich in der falschen Familie und am falschen Ort aufgewachsen bin. Und auch nicht etwa, weil immer schon etwas in mir wusste, dass ich zu Größerem bestimmt war, und auch nicht allein aufgrund der Tatsache, dass ich singen kann.

Das kann ich wirklich, glauben Sie mir, wie ein Engel und auch wie ein Teufel.

Aber ich greife vor. Erzähle das Ende, bevor ich den Anfang erzähle.

Also von vorn: Die Enthüllung meiner wahren Identität begann gestern Nachmittag, als ich in die Bar kam, um meinen Scheck abzuholen.

Ich arbeite in einer Kneipe, die Bruiser's heißt. Warum, weiß ich nicht. Also nicht, dass ich nicht wüsste, warum ich dort arbeite – man bezahlt mich, und die Auftrittsmöglichkeiten für Musiker in einer Stadt wie Beaufort sind begrenzt. Was ich sagen will: Ich weiß nicht, warum sie den Laden Bruiser's genannt haben. Das klingt nach einer Spelunke, in der sich Biker gegenseitig die Köpfe einschlagen, obwohl es ein nettes kleines Café ist, direkt am Zufluss der Wasserstraße gelegen. Ich spiele draußen auf der Veranda, wo die Shrimps zum Selbstpulen eimerweise serviert werden. Ich spiele Coverversionen von Jimmy Buffet, Joni Mitchell, Chris Isaak und auch ein bisschen was von Van Morrison. Dazwischen hin und wieder was Eigenes, obwohl das dem Besitzer eigentlich nicht gefällt. Dann gehen die Gäste nämlich auf die Toilette oder verlangen die Rechnung.

Jeder, der bei Bruiser's arbeitet, bekommt freies Essen, bevor seine Schicht beginnt. Fast alle nutzen diese für Gerry, den Besitzer, völlig untypische Großzügigkeit aus, auch wenn wir sehr wohl wissen, dass wir die Reste vom Vorabend bekommen. Die Kellner sitzen mit den Kellnern zusammen, die Köche mit den Köchen, und das Talent des Abends sitzt an einem separaten Tisch, was für eine Band ganz schön sein mag, für eine Solistin wie mich aber kann es ziemlich einsam werden. Ich bringe mir immer was zu lesen mit. Meistens liegt das Buch im Auto für den Donnerstag- und Freitagnachmittag, damit ich einen beschäftigten Eindruck mache, während ich meine Krabben pule, die Zitrone darüber auspresse und zusehe, wie die Sonne über der Bucht untergeht. Es fühlt sich an wie auf der Highschool, aber das ist ja am Ende bei fast allem so.

Wir haben also den gestrigen Tag, und ich bin fast fertig, als ich aufblicke und Gerry mit einem Bier in der Hand auf mich zukommen sehe. Es schäumt sehr, weil die Anlage immer spritzt, wenn das Fass beinahe leer ist. Er hat eine Nachricht für mich.

»Dein Daddy hat für dich angerufen«, sagt Gerry.

»Möchte er zurückgerufen werden?«

»Ne. Er sagte nur, du sollst ihm seine Watstiefel schicken.«

»Seine Watstiefel? Keine Ahnung, wie ich ihm seine Watstiefel schicken soll. Ich weiß nicht mal, was dieser Satz bedeuten soll.«

Gerrys Stirn legt sich in Falten. »Moment mal. Ich hab's mir aufgeschrieben.«

Er kehrt ins Restaurant zurück und schlürft dabei den Schaum von seinem Bier. Da ich während der Saison jedes Wochenende im Bruiser's spiele, wird Bradley gewusst haben, dass seine Nachricht mich hier erreicht. Ich schiebe meinen Teller beiseite und lasse den Blick zu dem Grüppchen der Bedienungen wandern, die eine Ebene unter mir sitzen. Hauptsächlich sind es Collegekids, entweder aus der Designschule in Savannah oder aus dem College unten in Charleston. Sie sehen nach altem Geld und neuen Klamotten aus, und es gefällt ihnen, das einfache Leben mal auszuprobieren. Ein paar von ihnen teilen sich ein Ferienhaus unten an der Wasserstraße, verbringen den ganzen Tag dösend am Strand und servieren dann am Abend. So ein einfaches Dasein macht Spaß, solange es nur vorübergehend ist und man weiß, dass man irgendwann nach Hause ins echte Leben zurückkehren kann. Jugendliche wie diese kommen jeden Sommer ins Tiefland, werden mit den Gezeiten an- und wieder weggespült, und früher habe ich jede Saison mit einem oder zweien der Jungs geschlafen. Sie waren jung und hübsch und leicht zu vernaschen, genauso wie ein Haufen Krabben vom Vortag, und ich war damals auch jünger und hübscher.

Julie Mackey, meine Mitbewohnerin für den Großteil meiner Zwanziger, ließ sich jedes Jahr am Memorial Day zum Zeichen des Saisonstarts ein Tattoo stechen. Die Sommerjungs nannte sie »das Buffet«. »Schauen wir mal, was das Buffet zu bieten hat«, forderte sie mich Mitte Mai immer auf, wenn die Bars und die Rettungsschwimmerhäuschen anfingen, Jobs zu vergeben. Wir schlenderten durch die Stadt und hielten Ausschau, was die neue Saison für uns in petto hatte. »Sieht ganz danach aus, als würde ich dieses Jahr einen besonders großen Teller brauchen«, meinte Julie manchmal. Sie sang für eine Coverband, die alles spielte, und konnte knurren wie Janis Joplin. Rau wie Sandpapier, in der Stimme wie im Leben. »Sieht ganz nach einem Nachschlag aus«, sagte sie in den Sommern, in denen das Buffet besonders reichhaltig bestückt war. Immer wenn Julie so daherredete, hatte man das Gefühl, sie würde gleich eine Zigarette wegschnipsen, obwohl ich das Mädchen nie hatte rauchen sehen.

Jetzt ist Julie verheiratet. Sie hat Kinder, und ich frage mich, was sie mit ihren Tattoos gemacht hat, mit der bekifft aussehenden Meeresschildkröte auf ihrer Schulter oder dem Nix auf ihrer Brust. Ihr Knurren ist zu einem zahmen Schnurren geworden, und manchmal laufe ich ihr über den Weg – unvermeidbar in einer Stadt von dieser Größe –, aber es scheint ihr nicht peinlich zu sein, mich zu treffen. Wahrscheinlich sollte es uns beiden ein wenig peinlich sein – ihr wegen dem, was sie mal war, und mir, weil ich es noch immer bin. In den Zwanzigern ist das wilde Leben eine schöne Sache, selbst um die dreißig ist es noch okay, sich so treiben zu lassen, aber jetzt ... mit siebenunddreißig immer noch das Buffet abzugrasen? Kommt nicht so gut. Meine Augen schweifen über die männlichen Bedienungen und hinaus auf die Bucht, wo die Segelboote auf den Wellen schaukeln und der Himmel in rosa- und lilafarbenes Licht getaucht ist.

Bradley versucht also, Kontakt zu mir aufzunehmen. Er möchte, dass ich ihm seine Watstiefel schicke, was zum Teufel das auch heißen mag.

Ich hatte in letzter Zeit einige finanzielle Engpässe. Mein Handyvertrag wurde mir gekündigt. Nur vorübergehend, bis zum Ersten des nächsten Monats, oder vielleicht auch bis zum Ersten des übernächsten Monats. Ich vermute, dass Bradley mich angerufen und die Nachricht bekommen hat, dass seine Tochter mit ihren bald vierzig Jahren eine Loserin ist, die in einem Trailer lebt, durch die Strandbars tingelt und mit den falschen Männern schläft. Verbindungsstudenten, Durchreisenden, koksenden Bassisten, fremdgehenden Vertretern, einem Hilfsgeistlichen, der daran zweifelt, dass Gott zuhört. Das sind meine Jungs. Ich weiß nicht, ob mein Mobilfunkanbieter das alles in einer Ansage unterbringt, aber denken wird man es sich dort. Außerdem ist Bradley bestens darüber informiert, dass sein süßes Mädchen am Abgrund taumelt. Ich bin der Grund, weshalb er nicht für den Schulausschuss kandidiert hat, obwohl ihm alle gesagt haben, er soll es tun.

Rätselhaft ist es schon. Bradley ist runter nach Clearwater gefahren, um dort über das Memorial-Day-Wochenende zu angeln. Wenn er seine Watstiefel vergessen hat, was offenbar der Fall ist, warum ist er dann nicht in irgendein Sportgeschäft oder einen Anglerladen da unten gegangen und hat sich ein Paar gekauft? Die verdammten Dinger nach Florida zu schicken, vorausgesetzt, ich finde sie überhaupt, wird ein Vermögen kosten. Allerdings hat Bradley große Füße. Größe 48, die Füße eines Basketballers. Ich lege meine eigenen auf einem Stuhl ab und mustere sie. Größe 35, mit hohem Rist und kurzen Zehen. Klein wie die eines Kindes.

»Was singst du heute Abend?«, ruft mir eine der Bedienungen zu. Der Junge hat offensichtlich schon mittags zu trinken angefangen und einen Sonnenbrand. Ich weiß nicht, warum er mich anspricht. Vermutlich versucht er nur, nett zu sein.

»Weiß ich noch nicht«, rufe ich zurück. Er hat sich in seinem Stuhl so weit nach hinten gelehnt, dass er damit gleich auf die Veranda knallen wird.

»AAE«, sagt er augenzwinkernd. »Alles außer Elvis.«

Woher verdammt noch mal weiß er, dass ich nie Elvis singe? Während ich mit zusammengekniffenen Augen sein Gesicht mustere, frage ich mich, ob er womöglich zu den Wiederholungstätern gehört und ich ihn vom letzten Jahr kennen sollte. Ich glaube nicht, dass ich mit ihm geschlafen habe, aber drauf wetten würde ich auch nicht. Ich habe kein gutes Gedächtnis für Gesichter oder Namen oder die Hauptstädte von Südamerika oder die Abfolge der Präsidenten oder sonst irgendwas, außer Songtexten. Wenn ich einen Song einmal gehört habe, kenne ich jedes Wort, eine sehr nützliche Gabe für eine fahrende Sängerin. Für ein Mädchen, das die Wasserstraße abklappert, von einem Klub zum nächsten zieht und sich nie ganz sicher sein kann, mit welcher Klientel sie es zu tun haben wird. An einem Abend ist es eine Gruppe von Motorradfahrern. Am nächsten sind es Golfer. Dann wieder lande ich in einem Lokal, wo die Leute zum Überwintern aus New York und Pennsylvania hinkommen, jenen Bundesstaaten, in denen keiner daheim zu bleiben scheint. Also muss ich darauf vorbereitet sein, jeden Song zu covern, den sie hören wollen, und bis zu einem gewissen Punkt kann ich das auch.

(Continues…)


Excerpted from "Das Glück Kurz Hinter Graceland"
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