Das falsche Grab

Das falsche Grab

by Kathleen Weise
Das falsche Grab

Das falsche Grab

by Kathleen Weise

eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Der erste Fall für den Entomologen Dr. Klaas Hansen
Im Rahmen seiner Forschungsarbeit führt Dr. Klaas Hansen in einem Waldstück ein Experiment durch. Seine Bienen sind so konditioniert, dass sie Beweisstücke anhand von Gerüchen erkennen können – ähnlich wie Spürhunde. Während des Experiments finden die Sniffer Bees jedoch unerwartet einen Leichnam. Aber wer ist der unbekannte Tote und warum wurde er im Wald vergraben? Als die Presse von der Sache Wind bekommt, gerät Hansen unter Druck. Um seinen Job zu behalten, muss er nicht nur beweisen, dass das Bienenprojekt ein Erfolg ist, sondern auch der Polizei helfen, den Fall schnellstmöglich aufzuklären. Als wäre das nicht schwierig genug, handelt er sich auch noch Ärger mit den Kollegen der örtlichen Polizeihundestaffel ein und begegnet einer geheimnisvollen Fremden, die der Geschichte um den Toten im Wald eine völlig neue Wendung gibt …


Product Details

ISBN-13: 9783958192287
Publisher: Midnight
Publication date: 10/01/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 296
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Kathleen Weise, 1978 in Leipzig geboren, veröffentlicht seit über zehn Jahren Romane für Jugendliche und Erwachsene in den Genres Historisches, Krimi und Phantastik. Außerdem arbeitet sie als freie Lektorin und veranstaltet Workshops und Textwerkstätten. Sie lebt mit ihrem Partner, dem Autor Boris Koch, und der gemeinsamen Tochter in Leipzig.   

Kathleen Weise, 1978 in Leipzig geboren, veröffentlicht seit über zehn Jahren Romane für Jugendliche und Erwachsene in den Genres Historisches, Krimi und Phantastik. Außerdem arbeitet sie als freie Lektorin und veranstaltet Workshops und Textwerkstätten. Sie lebt mit ihrem Partner, dem Autor Boris Koch, und der gemeinsamen Tochter in Leipzig.   

Read an Excerpt

CHAPTER 1

2013

»Die Hunde werden durchdrehen«, sagte Landmann.

Hansen legte den Schalter um, und zweiunddreißig Lämpchen im Gehäuse des Detektors leuchteten grün auf. »Bis die Jagd beginnt, bin ich längst verschwunden«, erwiderte er. Von der morgendlichen Kälte waren seine Finger beinahe steif geworden, und der Bart fühlte sich unangenehm feucht an.

Auch Landmann zog die Schultern hoch, obwohl er im Wagen saß und die Standheizung lief. Einen Arm hatte er auf die heruntergelassene Scheibe gestützt, und trotz seiner sitzenden Position brachte er es irgendwie fertig, auf Hansen herabzusehen. Dabei zog sich sein linker Mundwinkel nach unten, wie immer, wenn er mit einer Sache unzufrieden war. Der Blick hinter der Brille richtete sich mahnend auf Hansen. »Denk daran, dass die Zeit gegen dich läuft«, sagte er. »Sieh zu, dass du nichts übersiehst. Wir kriegen Riesenärger mit der Forstwirtschaft, wenn ihre Hunde etwas ausgraben, das nicht zur Jagd gehört.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Drüben beim Rapsfeld steht der Kollege von der Bundespolizei, die Nummer hast du ja. Ruf ihn an, wenn du die Teile gefunden hast, dann wird er dir sagen, ob du alle erwischt hast.« Bei dem Wort Teile verzog er angewidert das Gesicht.

Hansen konnte es ihm nicht übel nehmen. Selbst für jemanden, der den Anblick von Leichen gewöhnt war, blieb die Vorstellung, im Wald nach vergrabenen Gliedmaßen zu suchen, eine makabre Angelegenheit.

Nach einem letzten skeptischen Blick auf den Detektor startete Landmann den Motor und fuhr über die vom Winter zerfressene Straße davon, während Hansen dem Wagen nachsah und sich fragte, ob sich sein Vorgesetzter je für etwas anderes interessiert hatte als für seinen eigenen Platz im System. Als er das Auto nicht mehr sehen konnte, drehte er sich um und blickte in das Dickicht vor ihm. Entschlossen trat er auf den feuchten Weg. An dieser Stelle war er breit angelegt, aber bald würde er schmaler werden, bis er nach wenigen Minuten Fußmarsch nur noch die Breite von einem Schritt besaß. In dieser Ecke des Waldes kannte sich Hansen gut aus. Von hier aus wollte er sich nach Westen vorarbeiten und dann systematisch den Forst durchkämmen.

In der Luft hing der Geruch von taunasser Erde und Morcheln. Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis die ersten Sammler den Wald unsicher machen würden. Das war auch ein Grund gewesen, warum die Forstwirtschaft darauf drängte, die Experimente noch in dieser Woche durchzuführen. Niemand war scharf auf Spaziergänger, die plötzlich einen abgeschnittenen Fuß fanden.

Hansen mochte den Wald. Er war einer der Gründe gewesen, weshalb er sich in Dahlfeld niedergelassen hatte – in dieser Stadt, die weder Bedeutung noch Zukunft besaß und dennoch irgendwie weitermachte. Als ginge es nur darum, bis zu dem Tag durchzuhalten, an dem plötzlich wie aus heiterem Himmel alles besser wurde. Dabei war die Braunkohleindustrie in der Region schon lange in die Knie gegangen, und die letzten zehn Jahre war es auch sonst nicht besser geworden. Es mangelte an Investoren, und selbst die Universität zog nicht mehr genügend junge Leute an. Stattdessen schloss ein Studiengang nach dem anderen.

Einziger wirtschaftlicher Lichtblick blieb der alte Flughafen Dahlfeld-Nord, ein ehemaliger Fliegerhorst, der zu einem zivilen Flughafen ausgebaut werden sollte. Das Gebiet lag günstig, es gab kaum Anwohner, dafür eine ausgebaute Infrastruktur. Mit Blick auf die östlichen Nachbarn und das steigende Frachtaufkommen hoffte man darauf, dass ein Arbeitsplatz auf dem Flughafen zwei weitere in der Region nach sich ziehen würde. Dieser Entwicklung verdankte Hansen auch sein Projekt mit den Sniffer Bees.

Er stellte den Kragen gegen den Wind auf und sah auf den Detektor in seiner Hand hinab. Der besaß große Ähnlichkeit mit einem Handstaubsauger. In Hansens großen Händen wirkte er beinahe wie ein Spielzeug, doch sein finanzielles Potenzial belief sich auf Millionen. Im Inneren des Gehäuses waren zweiunddreißig Honigbienen auf winzigen Haltern festgeschnallt, die aussahen wie Throne.

Als wären sie alle Königinnen, dachte Hansen, und einen Moment lang stellte er sich vor, wie die Bienen unter der Plastikhaube mit den Flügeln zitterten, die Rüssel suchend ausstreckten und dabei von dieser einen Prägung überwältigt wurden, der sich alles andere unterordnen musste – diesem einen Sinn.

Dem Geruch.

Er verriet ihnen das Öffnen einer Blüte und das Verdampfen des Taus auf den Blättern. Sie nahmen das Vorbeiziehen eines Fuchses genauso wahr wie die vergeblichen Versuche eines Rehs, sich durch das Unterholz zu drängen. Selbst vom Blut, das jeden Tag von verletzten Tieren in den Waldboden sickerte, wussten die Bienen. Sie besaßen Kenntnis von Dramen, die Hansen verborgen blieben.

Im Gehen warf er immer wieder Blicke auf das Display, aber noch leuchtete die LCD-Anzeige in einem ungebrochenen Grün. Was immer die Bienen in diesem Augenblick rochen, es war nicht das, wonach er suchte und worauf sie konditioniert waren.

Die Versuche mit Kokain und TNT in Gebäuden oder verschlossenen Gefäßen hatte Hansen bereits hinter sich. Die Bienen hatten immer reagiert. Fäulnisgase in einem Waldstück zu lokalisieren, war ungleich schwieriger, denn die Bienen würden keinen Unterschied zwischen größeren Tierkadavern und Hansens Versuchsteilen machen. Er hoffte, dass in den letzten Tagen keine Rehe verendet waren.

Ungeduldig sah er wieder auf das Display und beschleunigte den Schritt, die Zeit lief gegen ihn. Nur langsam erwärmte sich die Luft, eigentlich war noch keine Flugzeit für Bienen. Doch in ihrem künstlichen Flugraum auf dem Gelände des alten Flughafens herrschte ewiger Sommer, daher waren sie so munter, als wäre schönstes Urlaubswetter. Ein winziges Heizelement erzeugte diese Wärme auch in dem Detektor.

Hansen hingegen fielen Tautropfen in den Kragen, wenn er unter tief hängenden Ästen hindurchging. Die Kälte kroch ihm unerbittlich unter die Haut, ein boshaftes letztes Aufbegehren gegen die wärmeren Tage, die folgen sollten. Das Licht schien blass durch die dichten Zweige.

Gelegentlich hörte er noch ein Auto, aber nach einer Weile war er so weit in den Forst vorgedrungen, dass die lautesten Geräusche von Vögeln kamen. Unter seinen schweren Sohlen knackten Zweige, und hin und wieder gab die nasse Erde schmatzende Geräusche von sich. Schon nach kurzer Zeit waren seine Stiefel und die Ränder der Hosenbeine schlammbedeckt.

Vorsorglich hatte er den alten Pullover und die lange graue Wolljacke angezogen, die ihm bereits an Deck gute Dienste geleistet hatten. Robuste Kleidung war die heimliche Leidenschaft vieler Seeleute, modische Aspekte spielten dabei keine Rolle. Ein Mann wie ein Bär, hätte seine Mutter über ihn gesagt, wenn sie ihn jetzt sehen könnte, und damit vor allem in einer Hinsicht recht gehabt: Er blieb lieber für sich.

Während er weiterlief, versuchte er, die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln. In letzter Zeit fiel ihm das wieder schwerer. Vielleicht wegen der Sache mit seinem Vater, die ihm keine Ruhe ließ. Der Alte war wie ein Gespenst, das man nicht loswurde.

Hansen warf einen Blick auf die Uhr. Je schneller er war, umso zufriedener war Landmann, umso eher ließ er ihn in Ruhe weiterarbeiten.

Die schlammverklebten Schuhe wurden schwer, der Weg war nur noch ein glitschiger Pfad. Er verließ ihn und stapfte quer durch den Wald. Wurzeln ragten hier und da aus dem Boden, und Hansen geriet mehrmals fast ins Straucheln. Er stieg über Baumstümpfe und eine winzige Anhöhe hinauf, oben atmete er schwerer. Die Wintermonate über hatte er zu viel Zeit im Labor verbracht und zu wenig trainiert. Die selbst gebaute Drückerbank im Keller setzte langsam Staub an, und wenn er nicht aufpasste, würde er bald wieder Schwierigkeiten mit der linken Schulter kriegen.

Auf einem tief sitzenden Ast vor ihm ließ ein Habicht sein verärgertes Gickern hören. Es war ein Männchen, das einfach nicht fortfliegen wollte. Hansen blieb stehen, und ein paar Herzschläge lang sahen sich der Vogel und er in die Augen, bevor Hansen durch ein Flackern am Rand des Sichtfelds abgelenkt wurde. Er schaute nach unten.

Die erste Lampe hatte ihr Licht verändert.

Er blinzelte, doch die Lampe leuchtete immer noch rot. Gleich darauf änderte eine Zweite ihre Farbe.

Er hatte es gewusst! Zwei von zweiunddreißig Lämpchen konnten zwar Zufall sein, aber das glaubte er nicht. Irgendwo hier musste das erste Teil liegen. Langsam ging er in die Richtung weiter, die er ursprünglich eingeschlagen hatte. Jetzt nur nichts überstürzen, um die Fährte nicht zu verlieren. Das meckernde giek, giek, giek des Habichts folgte ihm.

Nach wenigen Metern leuchteten alle Lampen rot. Jetzt hatte auch die letzte Biene den Geruch aufgenommen, auf den sie konditioniert war. Das war ganz sicher kein Zufall mehr. Aufmerksam sah sich Hansen um, während er ganz langsam weiterging.

Das Problem mit den Sniffer Bees war, dass sie manchmal einfach zu gut waren. Man wusste nie genau, ob sie etwas in zwei oder zwanzig Metern Entfernung rochen. Und auch wenn man Bienen nicht wie Hunde abrichtete und ihnen keine Namen gab, wollte er doch stolz auf sie sein. Sie waren mehr als nur funktionierende lebendige Teile eines Detektors.

In der Nähe einer riesigen Buche blieb er stehen und suchte mit dem Blick den Boden ab, bis er die Stelle fand, die am ehesten danach aussah, als wäre der Boden frisch aufgeworfen worden. Vorsichtig legte er den Detektor ab, damit das Gehäuse nicht zu sehr erschüttert wurde, und stellte die Tasche daneben. Er zog eine kleine, schwarz lackierte Schaufel heraus und stach damit schwungvoll in die Erde.

Der Typ von der Polizei hatte den Sack sicher nicht tief vergraben. AKeiner macht sich morgens um fünf Uhr die Mühe. Mit ein bisschen Glück musste er nicht lange suchen.

An dieser Stelle war die Erde weich. Die Schaufel fuhr leicht durch die Erdschichten, und schon wenige Stiche später stieß sie auf Widerstand. Hansen hörte Plastik rascheln. Zufrieden wählte er die Nummer, die ihm Landmann ins Handy programmiert hatte.

Am anderen Ende meldete sich der verantwortliche Beamte, schlecht gelaunt und heiser, wie es von einem Mann zu erwarten war, der seit dem Morgen in seinem Wagen saß, nachdem er Leichenteile vergraben hatte.

»Na endlich!«, bellte er ins Telefon. »Ich friere Ihretwegen bald an meinem Sitz fest!«

»Ich habe etwas gefunden. Nicht weit vom Hochsitz.« Hansen nannte ihm die Flurstücksnummer.

Der Beamte nieste. »Welcher Hochsitz?«

Hansen wiederholte die Flurnummer.

»Ganz kalt. Da war ich nicht einmal in der Nähe, Herr Wissenschaftler.«

»Aber ...«

»Neumodischer Quatsch«, murmelte der Beamte. »Mit einem Hund wäre das nicht passiert.«

Irritiert runzelte Hansen die Stirn. »Bleiben Sie dran.« Er legte das Telefon auf die Erde und versuchte, mit Hand und Schaufel die Erde weiter abzutragen.

Hatten sich seine Bienen geirrt? Alle? War er nur auf Abfall gestoßen?

Der Plastiksack war viel größer, als er erwartet hatte. Was immer auch darin lag, war weit mehr als nur ein Fuß oder ein Unterarm.

Was zum Henker war das? Verendete Rehe krochen nicht freiwillig in Plastiksäcke. Noch einmal warf er einen Blick auf den Detektor, aber die Lämpchen leuchteten nach wie vor rot. Die Bienen streckten ihre Rüssel nach Zuckerwasser aus, das sie während der Konditionierungsphase immer dann bekommen hatten, wenn sie gleichzeitig Fäulnisgase rochen.

Noch konnte er nicht ertasten, was in dem Sack lag. Es musste zusätzlich eingewickelt sein. Bedächtig legte er die Schaufel beiseite und zückte sein Schweizer Taschenmesser. Mit der großen Klinge stach er vorsichtig ein Loch hinein und schlitzte den Sack dann längs auf. Sofort schlug ihm der allzu bekannte Geruch nach Verwesung entgegen, und die ersten Fliegen schwirrten hervor. Angewidert hielt sich Hansen den Handrücken unter die Nase.

Unter dem Plastik kam Stoff zum Vorschein. Da hörte er die Rufe aus dem Telefon. Zögernd ließ er die Hand sinken, um das Handy vom Boden aufzuheben, während er mit der anderen Hand weiter versuchte, den Stoff zu entfernen. Er durchstach mit dem Messer das Leinen und sah endlich den Inhalt des Sacks.

Instinktiv legte er das Messer ab und griff nach dem Anhänger des heiligen Nikolaus, den er an einer dünnen Kette Tag und Nacht um den Hals trug. Warm lag das Silber in seiner Hand.

»Was treiben Sie denn?«, kam es vom anderen Ende der Leitung.

Aber es dauerte einen Augenblick, bis Hansen antwortete: »Rufen Sie Ihre Kollegen an. Ich habe hier keine Leichenteile.« Er wischte sich den Schweiß von der Augenbraue. »Es ist eine ganze Leiche.«

CHAPTER 2

17 Jahre zuvor

Die Party war bereits am Abflauen. Die Pärchen hatten sich gefunden, und in der alten Stereoanlage, deren Kabel mit Pflastern umwickelt waren, liefen nur noch langsame Songs. Der Geruch von Deo, Schweiß und Chili con Carne waberte durch die Räume, als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz, dass eine Party erst etwas taugte, wenn die ganze Bude nach Bohnen stank.

Seit zehn Minuten versuchte Mark bereits, Jessie unter die Bluse zu greifen, und gelangweilt kraulte sie ihm den Nacken, damit er nicht merkte, dass ihre Aufmerksamkeit längst etwas anderem galt. Träge glitt ihr Blick über die Leute, von denen sie die meisten nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte. Im Licht der roten Glühlampe an der Decke wirkten ihre schemenhaften Gestalten wie Tiere mit seltsam verrenkten Gliedern.

Am Nachmittag in der Schule hatte Jessie noch geglaubt, dass es irgendwie spaßig werden könnte, mit Mark raus nach Fuchsheim zu fahren. Aber jetzt musste sie erkennen, dass die angeblich heißen Partys, von denen er geschwärmt hatte, doch nur wieder derselbe alte Mist waren wie immer – Saufen, Rauchen, Knutschen. Der Teppich rieb unangenehm an ihren Knien, und ein Ohrring hatte sich in einer Haarsträhne verfangen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber doch irgendwie etwas anderes als das.

Gelangweilt zerrte sie den Ohrring aus der Strähne und warf einen Blick zu Margret, die an der gegenüberliegenden Wand hockte, das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt, als wäre sie eine in sich zusammengesunkene Marionette. Im Schein der blöden Glühlampe wirkten ihre nackten Schienbeine wie Keulen in der Auslage eines Fleischers.

Obwohl Jessie es nicht genau sehen konnte, wusste sie doch, dass Margret sie in diesem Moment beobachtete. Der Blick wärmte ihre Schultern und übertrug den stummen Vorwurf wie einen Funkspruch: Warum hast du mich hierhergebracht?

Weil ich nicht allein gehen wollte.

Es überraschte Jessie nicht, dass keiner der Jungs Notiz von Margret nahm. Ihre Freundin war nicht hässlich, sie war nur wie eine dieser Pflanzen, deren Blüten sich bei der geringsten Berührung schlossen. Sie trug ihre Unentschlossenheit wie eine Fahne vor sich her, und die meisten Jungs waren eben wie Mark. Sie wollten ihre Zungen irgendwo reinstecken und vorher nicht noch groß ins Kino gehen. Margret hingegen sah aus wie die Mädchen, die sich erschreckten, wenn man ihnen die Hand unter den Rock schob. Das machte sie bei den Jungs nicht gerade beliebt, obwohl sie eigentlich ein hübsches Gesicht hatte, mit ihren großen braunen Augen und den wenigen blassen Sommersprossen. Aber das glaubte Margret ihr nicht.

Sie mochte die Art, wie Jessie mit Jungs umging, ohnehin nicht besonders. »Musst du schon wieder so gemein sein«, fragte sie manchmal, wenn wieder ein Junge mit gebrochenem Herzen abzog. Sie hatte noch nicht verstanden, dass ein gebrochenes Herz bei diesen Kerlen genauso schnell heilte wie der Schnitt im Daumen, wenn man sich beim Öffnen einer Konservendose verletzte.

Jessie hatte das längst begriffen. Aber es war ihr lieber, Margret in dem Glauben zu lassen, sie wäre manchmal herzlos, als eingestehen zu müssen, dass die meisten Jungs Jessie genauso schnell ersetzt hatten wie die T-Shirts, aus denen sie herauswuchsen.

Wahrscheinlich denkt sie, dass es mir Spaß macht, dachte Jessie und seufzte. Das schien Mark für ein gutes Zeichen zu halten, denn er verdoppelte seine Bemühungen. Sein Speichel lief ihr am Hals hinunter, und auf einmal drückte seine Berührung ihr die Kehle zu, und sie schnappte nach Luft. Angewidert machte sie sich von ihm los und kam schwankend auf die Beine. Umständlich zog sie den Rock herunter.

»Was ist denn?«, maulte er von unten. »Wo willst'n hin?«

»Nach Hause«, murmelte sie, während er sich durch die Haare fuhr und irritiert zu seinem Kumpel sah, der an einer Brünetten mit Doppel-D herummachte, die von der Bowle völlig hinüber war.

Aber der Kumpel zuckte nur ratlos mit den Schultern.

»Spinnst du? Vergiss es, ich fahre euch bestimmt nicht.« Beinahe aggressiv griff Mark nach ihrem Knöchel, aber Jessie schüttelte ihn ab.

(Continues…)


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