Das Erbe von Juniper House: Roman

Das Erbe von Juniper House: Roman

by Sophia Herzinger
Das Erbe von Juniper House: Roman

Das Erbe von Juniper House: Roman

by Sophia Herzinger

eBook1. Auflage (1. Auflage)

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Overview

Zwischen zwei Kriegen, zwischen zwei Ländern und zwischen Liebe und Pflicht
England in den 1920er Jahren: Emma lebt auf Juniper House bei Tante und Onkel, einem reichen Fabrikanten. Obwohl sie aus ärmlichen Verhältnissen stammt, ist sie clever und arbeitet als Buchhalterin. Und dennoch scheint es kaum eine Perspektive für die junge Frau zu geben. Als sie den jungen Lord Hessby das erste Mal sieht, ist es um sie geschehen. Doch Emma ist nicht standesgemäß und die Liebe der beiden muss ein Geheimnis bleiben...

Hamburg 2004: Sara hatte stets nur sporadisch Kontakt zu ihrer Großmutter Emma. Daher besucht sie Emma eigentlich nur aus Pflichtgefühl. Und weil sie plötzlich nicht mehr weiß, ob ihr Plan vom Leben und ihr Freund der Richtige sind. Doch obwohl Emma unwirsch ist, merkt Sara bald, dass kaum jemand sie besser verstehen kann als die fast Hundertjährige. Denn mit ihr taucht Sara in die Geschichte ihrer eigenen Familie ein. Geheimnisse, die seit Jahrzehnte schlummerten, kommen plötzlich ans Tageslicht und verändern Saras Leben für immer.


Product Details

ISBN-13: 9783958183025
Publisher: Forever
Publication date: 07/02/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 300
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

Sophia Herzinger wohnt in der Nähe von Hamburg, wenn sie nicht gerade im Großbritannien der 1920er Jahre unterwegs ist. Sie würde gerne den Charlston tanzen können, ist aber leider viel zu ungeschickt darin. Im Herzen ist sie dennoch ein echtes Flapper Girl. Vor ein paar Jahren hat sie das Schreiben zu ihrem Hauptberuf gemacht.

Sophia Herzinger wohnt in der Nähe von Hamburg, wenn sie nicht gerade im Großbritannien der 1920er Jahre unterwegs ist. Sie würde gerne den Charlston tanzen können, ist aber leider viel zu ungeschickt darin. Im Herzen ist sie dennoch ein echtes Flapper Girl. Vor ein paar Jahren hat sie das Schreiben zu ihrem Hauptberuf gemacht.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Juni 1915, Oxfordshire

Später sagte er immer, er hätte es bereits an dem Knarzen der Treppenstufen gehört, das in seinen Ohren wie das Wimmern eines Kindes klang. Und an den Schritten vor unserer Wohnungstür, die abrupt innehielten, um gleich darauf von einem energischen Klopfen abgelöst zu werden. An dem Zögern des Jungen, der ihm das Telegramm mit gesenktem Blick in die Hand drückte. Meine Schwester Isobel kämmte mir gerade im Wohnzimmer das lange Haar, das sie immer Drahtgeflecht nannte, weil es sich so schwer bändigen ließ und meistens aussah, als wäre ich in einen Sturm geraten. Meine Mutter lag auf dem Bett in der Nische: aufrecht mit dem Rücken gegen einen Berg Kissen gelehnt, blätterte sie in einer Zeitschrift, die auf der nun deutlich sichtbaren Wölbung ihres Bauchs lag und bei jedem Atemzug ein Stück zur Seite rutschte.

Mein Vater stand wie angewurzelt im schmalen Flur, selbst als der Botenjunge schon längst weg war. Sein Weggang hatte eine gespenstische Stille hinterlassen, die nicht einmal das Ticken der Küchenuhr durchbrechen konnte. Um Punkt sieben Uhr war sie stehen geblieben.

Isobel legte die Bürste beiseite und strich mir mit der flachen Hand über das Haar, etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Es hatte etwas Tröstendes an sich, und als mein Vater sich zu uns umdrehte und ich den Schmerz in seinen Augen sah, wusste ich, dass wir alle Trost brauchen würden. Isobel zuckte ganz leicht zusammen, als Vater sich in den Türrahmen stellte, immer wieder den Kopf schüttelte, während seine grünen Augen sich mit Tränen füllten. Das Telegramm fiel geräuschlos zu Boden – wie ein Staubkorn.

»Arthur? Wer war das?« Meine Mutter legte die Zeitschrift neben sich, richtete ihren Oberkörper kerzengerade auf und runzelte die Stirn, weil sie keine Antwort bekam. »Arthur?«

Ich weiß noch, dass ich die Luft anhielt, weil mich der Anblick meines Vaters so erschreckte, wie er zitternd zu Boden ging, den Mund lautlos geöffnet, nach Worten ringend, die einfach nicht herauskommen wollten. Bis er einen Schrei ausstieß, spitz und durchdringend, der unser aller Herzen durchbohrte.

»Artie. Es ist Artie, oder?« Die Stimme meiner Mutter klang ruhig, als sie die Füße vorsichtig aus dem Bett schwang und sich, stöhnend den Bauch haltend, aufrichtete.

»Nicht, der Arzt hat gesagt –«, rief Isobel, doch meine Mutter brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. Trotz ihrer äußeren Ruhe wirkte sie so zerbrechlich wie nie zuvor in ihrem langen Nachthemd mit den weißen Rüschen am Kragen, die sie extra angenäht hatte, damit die Narbe am Hals verdeckt wurde, von der sie nie erzählt hatte, woher sie stammte. Das dunkelblonde Haar war zu einem Zopf geflochten und fiel ihr bis über die schmalen Schultern. Die Wangen waren blass und eingefallen, die Lippen spröde. Seit Beginn der Schwangerschaft übergab sie sich mehrmals am Tag und verlor stetig an Gewicht. Der Arzt hatte ihr Bettruhe verordnet und gesagt, sie würde das Baby vermutlich verlieren, wenn sie noch mehr abnahm. Seitdem hatte sie erneut fast zwei Pfund verloren.

Mein Vater wischte sich mit der Hand über Augen und Mund, holte tief Luft und erhob sich schwerfällig. Seine Nasenflügel blähten sich, der Schnurrbart zitterte, und ich hörte seine Zähne klappern, obwohl ein Feuer im Kamin brannte. Mit zwei Schritten war er bei meiner Mutter und drückte sie sanft aufs Bett zurück. Er legte vorsichtig seine Hand auf ihre Schultern, schluckte schwer und wandte sich von ihr ab, bevor er sprach. Seine Stimme klang wie das Knistern von Folie, einige Silben verschluckte er gänzlich.

»Ein Luftangriff der Deutschen ...« Er ging zurück Richtung Flur, bückte sich nach dem Telegramm und hielt es zwischen zwei Fingerspitzen, so als wollte er es am liebsten gar nicht berühren. »Der Dachstuhl des Hauses fing Feuer, das Haus wurde zerstört. Sie sind beide tot.«

Ich weiß noch, dass ich nicht verstand, von wem er sprach. Wir kannten keine Deutschen, die ein Haus hatten. Als meine Schwester zitternd ihre Arme um meinen Körper legte und mich an sich zog, dämmerte mir allmählich, dass ich ihn falsch verstanden haben musste. Meine Kehle schnürte sich zu; ich begann zu zittern. Isobel drückte ihren Kopf gegen meinen, ihre Tränen tropften auf meinen Scheitel und in meinen Nacken. Artie, mein kluger, immer zu Späßen aufgelegter Bruder, war tot.

* * *

Ich kannte Zeppeline nur von Fotografien. In der Buchhandlung unseres Vaters lagen ein paar Postkarten aus, die diese – in meinen kindlichen Augen – seltsam geformten Flugschiffe zeigten. Während mein Bruder Artie meinen Vater mit Fragen über Geschwindigkeit und die Ausstattung löcherte, jagte mir deren Anblick Angst ein. Ich empfand sie als bedrohlich und konnte nicht verstehen, wie so ein Ding in die Luft steigen konnte, wieso Menschen freiwillig damit fliegen sollten. Mir wurde bereits schwindelig, wenn ich auf einen Hocker steigen musste. Ich wäre allerdings nie auf die Idee gekommen, dass man Zeppeline dazu benutzen könnte, Brandbomben auf Häuser abzuwerfen.

»Damit kann man Ozeane überqueren, Emma«, sagte Artie eines Tages mit leuchtenden Augen und wedelte mit der Postkarte vor dem Tresen herum, bevor mein Vater sie ihm vorsichtig abnahm und zurück auf den Stapel neben die Kasse stellte.

»Das kann man auch mit einem Schiff«, war meine Antwort, woraufhin Vater mir über das Haar strich und zustimmend brummte. »Aber stell dir nur vor, wie aufregend es sein muss, so hoch über dem Boden zu fliegen.« Artie, der mit seinen fünfzehn Jahren fast genauso groß wie unser Vater war, stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen weiteren Blick auf den Stapel Postkarten zu werfen. Manchmal durften wir uns eine Karte aussuchen und an die Pinnwand in die Küche hängen. Es hingen schon welche aus Paris und London und zwei von einem Automobil dort. »Na, schön, nimm dir schon eine«, sagte Vater seufzend. Ich erinnere mich, dass Artie fast einen Luftsprung gemacht hatte, bevor er die Karte vom Stapel nahm und vorsichtig in seiner Westentasche verstaute. Später hing die Postkarte mit dem grässlichen Zeppelin über seinem Bett. Oft starrte er sie minutenlang nach dem Aufwachen an und verpasste dadurch beinahe das Frühstück. Mehrmals wurde ich von unserer Mutter in sein Zimmer geschickt, um ihn zu holen. Da saßen wir oft noch ein paar Minuten auf seinem Bett, und er schwärmte vom Fliegen oder erzählte mir, welche Abenteuer er später erleben wollte. Mal war es eine Safari in Afrika, dann die Erforschung eines Ureinwohnerstammes auf einer Pazifikinsel. Artie las unheimlich viele Bücher und hielt sich anschließend nicht mit seinem neuen Wissen zurück, was Isobel mitunter dazu verleitete, ihn einen »unausstehlichen Besserwisser« zu nennen.

»Man fährt in einem Zeppelin und fliegt nicht, wusstest du das?«, fragte er eines Morgens, als wir nebeneinander auf seinem Bett lagen und die Postkarte an der Wand anstarrten.

»Nein, es fliegt doch«, sagte ich und wandte schnell wieder meinen Blick von dem monströsen Ding ab. Es verursachte mir eine Gänsehaut. Je länger ich die Karte anstarrte, umso bedrohlicher kam es mir vor. »Ich finde Flugzeuge schöner. Aber damit fliegen möchte ich auch nicht«, meinte ich.

»Zeppeline sind so viel besser als Flugzeuge«, erwiderte Artie verträumt, verstrubbelte mir das Haar und stand endlich auf, damit wir zum Frühstück gehen konnten. Obwohl ich die Postkarte hasste – und später nach seinem Tod noch viel mehr –, liebte ich diese zwei, drei Extraminuten mit meinem Bruder, in denen er mir das Gefühl gab, ein Teil seiner Welt zu sein, in die er sonst kaum jemanden ließ. Wir hatten nicht viel gemein. Er war vier Jahre älter und verbrachte seine Freizeit am liebsten mit Lesen und dem Zeichnen von Automobilen. Manchmal spielten wir Verstecken zwischen den Regalen in der Buchhandlung, Isobel, Artie und ich, aber meistens war er für sich alleine. Unsere Mutter nannte ihn immer liebevoll ihren kleinen Einsiedler.

An dem Tag, an dem wir das Telegramm mit der Todesnachricht erhielten, rannte ich in sein Zimmer und riss die Postkarte von der Wand. Mit zittrigen Fingern zerriss ich sie in der Mitte, dann noch einmal und noch einmal, während heiße Tränen meine Wangen hinabrollten und auf den Kragen meines Kleides tropften. Am Ende war die Postkarte ein Meer aus grauen Schnipseln, einige wellig von meinen Tränen. Es hatte etwas Triumphales – wenn auch nur für einen sehr kurzen Moment –, die Überreste des Ungetüms mit der Hand auf den Boden zu fegen, wo sie wie Konfetti auf den Teppich rieselten. Doch dieses Aufflackern von Befriedigung verschwand mit einem Schlag, als mein Blick die kahle Stelle an der Wand streifte. Mir wurde bewusst, dass ich Arties wertvollsten Besitz zerstört hatte.

Das ist nicht nur eine Karte, Emma, es ist der Eintritt in eine andere Welt. Eine aufregende Welt.

Mit der flachen Hand strich ich über den rauen Putz an der Wand, malte mit dem Zeigefinger die Konturen der Karte nach und brach in Tränen aus. Mein Vater fand mich Minuten später auf dem Fußboden, wie ich verzweifelt versuchte, die winzigen Fetzen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ich wollte nicht einsehen, dass es zwecklos war, und schrie ihn an, dass er mir helfen müsse, weil Artie sonst böse auf mich sein würde. Ich schrie so laut, dass sich meine Stimme überschlug, verschluckte mich an meinem eigenen Speichel, hustete, während mir Tränen über das Gesicht liefen, und trat nach meinem Vater, als er mich aus dem Zimmer trug.

Am nächsten Morgen hing eine neue Postkarte über Arties Bett. Wir hatten sie alle unterschrieben. Isobel hatte ein Herz daraufgemalt und in ihrer schönsten Schrift den Satz »Wir vermissen dich« danebengeschrieben.

»Würde er sie immer noch mögen, die Karte?«, fragte ich meinen Vater, nachdem er das Zimmer meines Bruders betreten hatte, in dem ich seit einer halben Stunde gesessen und auf die Wand gestarrt hatte. Er strich sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart, lehnte sich gegen den klobigen Eichenschrank und schwieg eine Weile, während er die Postkarte auf sich wirken ließ.

»Ich denke schon. Es war nicht der Zeppelin, der ihn getötet hat, sondern die Menschen darin, die eine Bombe auf das Haus von Tante Maisie warfen.«

Tante Maisie war die ältere und einzige Schwester unserer Mutter gewesen. Artie hatte sie besucht, weil sie sich bei einem Treppensturz ein Bein gebrochen hatte. Da meine Mutter das Bett nicht verlassen durfte, hatten meine Eltern beschlossen, Artie hinzuschicken, um Tante Maisie zu helfen.

Der Angriff erfolgte nachts. Die Bombe hatte den Dachstuhl in Brand gesetzt, und Artie war von einem Dachbalken erschlagen worden, als er Tante Maisie aus dem Bett hieven wollte, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie war im Qualm erstickt. In der danebenliegenden Wohnung hatte der Nachbar nur drei seiner fünf Kinder retten können. Die Kleinsten starben in ihren Betten. Viele Kinder starben bei solchen Angriffen während des Großen Krieges, der seit einem Jahr tobte, viele weitere Opfer folgten.

CHAPTER 2

Mai 2004, Hamburg

Immer, wenn sie in der Vergangenheit wühlte – in alten Fotoalben, Briefen und Urlaubserinnerungen –, überkam sie diese unbeschreibliche Sehnsucht nach etwas, das sie vermutlich gar nicht kannte. Nach einem Ort, an dem sie einfach so sein konnte, wie sie war, und dennoch geliebt wurde. Nach Menschen, denen sie nichts beweisen musste, vor allem nicht ihre Liebe, die sich nun einmal schwer beweisen ließ. Liebe war ein Gefühl, das man in sich trug, ohne es nach außen tragen zu können. Wieso verlangten manche Menschen überhaupt, dass man seine Gefühle wie auf eine Leinwand nach außen projizierte, nur damit andere sich besser fühlten, während man selbst leer zurückblieb? Die drei magischen Worte auszusprechen bewies gar nichts. Ein Ich – liebe – dich war entweder wahr oder falsch, vielleicht auch manchmal irgendwo dazwischen, aber oft war es nur eine leere Worthülse. Solange man sich nicht geliebt fühlte, nützten einem diese Worte gar nichts.

Mehr als einmal hatte Sara sich gefragt, ob man etwas herbeisehnen konnte, das man nie kennengelernt hatte, und jedes Mal fragte sie sich, wieso sie es nicht einfach gut sein lassen konnte. Ihre Hand zitterte leicht, als sie das Fotoalbum in die Hand nahm, das mit Saras Schulzeit beschriftet war, doch sie legte es gleich wieder in den braunen Pappkarton zurück. Vielleicht leidest du einfach nur an Weltschmerz, hatte ihre Mutter einmal gemeint, als Sara ihr erzählte, dass sie ganz oft so ein seltsames Gefühl befiel, das sich kaum in Worte fassen ließ. Als ob man gleichzeitig Hunger hatte und satt war, müde und doch wach war, die Gedanken durcheinanderwirbelten, obwohl im Kopf Stillstand herrschte.

Ihre Mutter hatte ihr oft gesagt, dass sie sie liebte. Immer dann, wenn Sara etwas geleistet hatte oder dem Willen ihrer Mutter gefolgt war. Nachdem sie zwanzig Umzugskartons in den dritten Stock geschleppt oder zwei Tage auf den Hund aufgepasst hatte. Der neue Job hingegen wurde nur nickend zur Kenntnis genommen, schließlich hatte sie sich damit ihrer eigenen Zukunft als Anwältin beraubt. Dass sie das Jurastudium abgebrochen und stattdessen Grafikdesign studiert hatte, hielt ihr ihre Mutter immer noch vor.

Der Mietvertrag für die schicke Wohnung mit riesigem Balkon und nagelneuer Einbauküche wurde sogar schlechtgeredet, weil die Wohnung viel zu weit entfernt war. »Ich werde auch nicht jünger, stell dir vor, ich breche mir das Bein, dann musst du quer durch die Stadt fahren, um hierherzukommen!«

Nein, sie litt nicht an Weltschmerz. Sie wusste nicht, wie sie ihre Sehnsucht genau in Worte fassen sollte, aber es betraf nicht die ganze Welt. Vielleicht vermisste sie einfach ein Zuhause. Als Kind war sie mit ihrer Mutter so oft umgezogen, dass sie nach dem dritten Umzug viele ihrer Sachen gar nicht mehr aus den Umzugskartons genommen hatte. Mit dreizehn bestand ihr Zimmer aus einem nagelneuen Bett, unter dem sechs Kartons mit Büchern und Krimskrams standen, einem Schreibtisch und einem Sitzsack. Die Wände waren weiß geblieben, weil das Geld für Farbe gefehlt hatte und überhaupt nicht feststand, ob und wie lange sie in der Wohnung blieben. Jeden Abend vor dem Schlafengehen hatte sie auf zwei Poster eines Schauspielers gestarrt, die sie mit Tesafilm über dem Bett befestigt hatte. Oft hatte sie ihre Freundinnen beneidet, die seit Ewigkeiten in ein und demselben Kinderzimmer schliefen. Ein halbes Jahr später hatte ihre Mutter geheiratet, und sie waren wieder umgezogen. Dieses Mal in ein großes Einfamilienhaus, in dem sie drei Jahre lang blieben. Die Wände hatte ihr Stiefvater – der zweite inzwischen – gelb gestrichen, obwohl Saras Mutter lachend gemeint hatte, das Kind bräuchte keine Farbe, es wäre bunt genug. Damit hatte sie auf Saras pinke Haare angespielt, die ihr ein »Wie soll man denn so ein Kind lieben?« entlockt hatten. Gefolgt von einem »Was soll ich denn den Nachbarn sagen? Dass mein Kind sich einer Gruppe von Clowns angeschlossen hat?«. Womit sie Saras Clique, die überwiegend aus Punks bestand, gemeint hatte.

Sara hatte in dem neuen Zimmer mit den gelben Wänden versucht Behaglichkeit hineinzubringen. Mit bunten Decken und zahlreichen Kerzen. Vieles hatte sie bei Freunden abgeguckt, in deren Zimmer sie sich immer wohler gefühlt hatte als in ihrem eigenen. Sie hatte Monate damit verbracht, ihrem neuen Zimmer ihren Stempel aufzudrücken, dennoch hatte sie sich immer wie ein Eindringling darin gefühlt.

»Was ist das?«

Sara schreckte aus ihren Gedanken, blinzelte ein paar Mal, um sich wieder in die Gegenwart zurückzuversetzen. Sie hatte ganz vergessen, dass Fabian früher von der Arbeit nach Hause kam, weil die Bankfiliale, in der er angestellt war, renoviert wurde.

»Das ist meine Kindheit in einem Karton. Fotoalben, Schulzeugnisse, Bilder aus dem Kindergarten. Meine Mutter hat ihn beim Aufräumen im Keller gefunden und gefragt, ob ich ihn mitnehmen will oder ob er mit dem anderen Krempel entsorgt werden soll.«

Auf Fabians Stirn zeigten sich Furchen, während er sein Hemd aus dem Hosenbund zog und glatt strich.

»Sie wollte deine Zeugnisse und Andenken aus dem Kindergarten wegwerfen? Liebreizend.« Er setzte sich neben sie und zog den Karton heran. »Ihr wart in Italien im Urlaub?«, fragte er mit Blick auf das grüne Fotoalbum, dessen Beschriftung Italien 1986 bereits verblasste. Sara nickte und nahm einen Miniatur-Pisa-Turm aus Plastik heraus. »Ich weiß noch, dass sich meine Mutter an dem Tag, an dem wir den Turm besichtigt haben, ständig übergeben hat. Ich habe erst vor ein paar Jahren erfahren, dass sie damals schwanger war.« Vorsichtig legte sie den Turm zurück in den Karton.

»Was ist passiert?«

»Sie hat es verloren. Ein paar Wochen später.« Sie erschrak über ihre Gleichgültigkeit in ihrer Stimme.

»Wäre vielleicht einfacher gewesen mit Geschwistern.«

»Ja, möglich. Ich habe mir immer eine Schwester und einen Bruder gewünscht, aber meine Mutter war irgendwie zu sehr mit Heiraten beschäftigt.« Sara presste die Lippen fest aufeinander, als wollte sie die folgenden Worte am liebsten nicht aussprechen. »Sie heiraten nächste Woche, Hubert und meine Mutter.« So fest sie konnte, kickte sie den Karton mit der Schuhspitze zur Seite.

(Continues…)


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