Über dem Abgrund

Über dem Abgrund

by Dani Pettrey
Über dem Abgrund

Über dem Abgrund

by Dani Pettrey

eBook1., Auflage (1., Auflage)

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Overview

Als Kayden McKenna bei einer waghalsigen Klettertour auf eine Leiche stößt, wird schnell klar: Es war kein Unfall, sondern heimtückischer Mord. Gemeinsam mit Jake Westin und ihren Geschwistern macht sich Kayden daran, in der Kletter-Community nach der Wahrheit zu suchen - und stößt auf harten Widerstand. Dass dabei ihre Gefühle für Jake ans Tageslicht kommen, muss sie widerstrebend zulassen. Doch erst als der Mord aufgeklärt ist, erkennen die McKennas, dass die größte Gefahr noch nicht vorbei ist, sondern ganz in ihrer Nähe lauert und bis tief in die Vergangenheit reicht ...

Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

Product Details

ISBN-13: 9783868277937
Publisher: Francke-Buch
Publication date: 01/01/2016
Sold by: CIANDO
Format: eBook
Pages: 296
File size: 920 KB
Language: German

About the Author

Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

Read an Excerpt

1 Während Kayden die Felswand hinaufkletterte, spürte sie das süchtig machende Brennen in den Armen und im ganzen Körper. Mann, wie sie das liebte – an der Kante einer mehr als zweihundert Meter hohen steilen Klippe zu hängen und zu wissen, dass ein falscher Griff den Tod bedeutete. „Diesmal schlägst du mich nicht“, rief ihre jüngere Schwester Piper und ihre Stimme hallte über die sechs Meter breite Erdspalte hinweg, die sie voneinander trennte. Sie versuchte schon den ganzen Morgen, Kayden abzulenken, aber Kayden hatte keine Mühe, ihre Schwester zu ignorieren. Nicht so einfach zu ignorieren war Jake. Er stand zusammen mit ihrem großen Bruder Gage zweihundert Meter weiter unten am Fuß der Felswand und sah zu. Die Männer waren mitgekommen, um „die Show zu genießen“, wie sie es ausgedrückt hatten. Leider ließ sich Jakes Anwesenheit deutlich weniger leicht verdrängen als Pipers Sticheleien. Es war berauschend, seine Blicke auf sich zu spüren. Kayden stieß sich mit dem rechten Fuß ab und reckte sich den halben Meter vor bis zum nächsten Haltepunkt. Sie wusste, dass Jake den Atem anhielt. Sie selbst hielt die Luft an, bis ihre Finger den Felsvorsprung umklammerten. Ihr war glühend heiß. Jake Westin – oder nein … Jake Westin Cavanagh war so viel mehr, als ihr bewusst gewesen war, und ehrlich gesagt machten ihre intensiver werdenden Gefühle für diesen Mann während der vergangenen Monate ihr eindeutig mehr Angst als der nächste Zug, der vor ihr lag. Sie erreichte den letzten Haltepunkt – einen Vorsprung aus Granit, der zweieinhalb Meter aus der Felswand herausragte. Von da aus musste sie sich an der Kante entlangschieben, dann den letzten entscheidenden Sprung wagen und beten, dass sie den richtigen Zeitpunkt wählte und genügend Kraft hatte, um auf dem Plateau zu landen. Es war der gefährlichste Punkt der Kletterroute – er trennte den Experten vom Durchschnitt. Der Granit knirschte unter Kaydens Fingernägeln, die sie in den zerklüfteten Felsen krallte. Der Wind, der stärker geworden war, heulte durch die Schlucht unter ihr und hallte als hohes Pfeifen in der Felsspalte wider. Kayden schloss die Augen und beruhigte ihre Gedanken. Ich kann das. Sie hatte es schon früher geschafft und sie würde es wieder schaffen. Ihr stockte der Atem, als sie sich abstieß und durch die Luft segelte, während sie die Finger reckte, bis sie brannten – ausgestreckt nach dem sicheren Halt. Sie berührte den Stein und presste sich an den Felsen, während ihre Finger sich um die Kante des Felsvorsprungs schlossen. Mit den Füßen fand sie eine stabile Kerbe. Dann stemmte sie sich mit Beinen und Armen gleichzeitig ab und zog sich mit eisernem Willen und Entschlossenheit nach oben. Als sie den Vorsprung erreicht hatte, zitterten ihre Arme, aber Erleichterung durchflutete sie … und dann Entsetzen. Vor ihr lag ein Mann in seltsam verdrehter Lage – eines seiner Augen starrte sie direkt an. Sie schluckte das Zittern in der Kehle hinunter und den Schrei, der ihren Lippen entfliehen wollte. Jede Faser ihres Körpers sagte: Lass los, geh zurück, hau ab, aber sie kämpfte gegen den Reflex an, während sie an der Kante des Felsvorsprungs hing. Mit einem Blick über die Schulter wägte Kayden ihre Möglichkeiten ab. An dieser Stelle umzukehren und zurückzuklettern, war Selbstmord. Ihre Arme brannten und fühlten sich wie Pudding an, und wenn sie nicht innerhalb weniger Sekunden eine Entscheidung traf, würden die Muskeln versagen. Sie musste auf den Absatz klettern, auf dem der Mann lag, musste sich davon überzeugen, dass er keine Hilfe brauchte, und feststellen, ob er bereits … Sie kniff kurz die Augen zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Mit allerletzter Kraft schwang sie sich ganz auf den Felsbrocken, sodass ihr Körper den des Mannes berührte. Sie schluckte die Galle, die ihr in die Kehle stieg, hinunter, schob sich an dem Körper vorbei und eilte zum hinteren Teil des Felsvorsprungs. Dort hielt sie einen Augenblick inne, um zu Atem zu kommen, bevor ihre Ausbildung zur Rettungssanitäterin sich einschaltete. Sie musste überprüfen, ob es irgendwelche Lebenszeichen gab, und sich vergewissern, dass dem Mann nicht mehr zu helfen war. Auch wenn sie betete, sie möge einen Herzschlag fühlen, sagte der Instinkt ihr, dass dieses Organ schon vor langer Zeit aufgehört hatte zu schlagen. „Jippieh!“, rief Piper über ihr. „Ich habe gewonnen!“ Kayden kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an und streckte Zeige- und Mittelfinger aus, um nach dem Puls des Mannes zu fühlen. Wie sie vermutet hatte. Nichts. „Kayden?“ Pipers Stimme klang jetzt näher, unmittelbar über ihr. Kayden blickte auf und schirmte die Augen gegen die Sonne ab, als Piper etwa fünfzehn Meter über ihr den Kopf über die Felskante streckte. Das ansteckende Lächeln erstarb, als Pipers große braune Augen die zusammengesunkene Gestalt neben Kayden entdeckten. Kayden räusperte sich. „Wir haben einen abgestürzten Kletterer auf dem Felsvorsprung.“ „Abgestürzt oder …“ Kayden schluckte. „Tot.“ „Ich sag den Jungs Bescheid.“ Piper zog ihr Funkgerät aus dem Gurt. Kayden nickte. „Ich komme rauf. Jake soll die Polizei anrufen.“ 2 Kayden hatte einen toten Kletterer auf dem Felsabsatz gefunden. Pipers zittrige Stimme hallte in Jakes Ohren wider, während er sein Satellitentelefon aus der Tasche zog. Seine Finger umschlossen das Metallgehäuse, als genau in diesem Moment das Telefon in seiner Hand vibrierte und das Klingeln ertönte. „Westin …“ Er blinzelte. „Cavanagh.“ Wie lange würde es wohl dauern, bis er sich wieder an seinen vollen Namen gewöhnt hatte? Er war so lange Jake Westin gewesen, dass es ihm viel schwerer fiel als erwartet, sich wieder Jake Cavanagh zu nennen. „Landon hier.“ „Perfektes Timing, Sheriff.“ „Hm?“ Nachdem Sheriff Bill Slidell sehr plötzlich den Polizeidienst und Yancey verlassen hatte, war Deputy Sheriff Landon Grainger vom Stadtrat in die Leitungsposition gewählt worden, bis die Wahlen im Herbst ihm den Job zweifellos auf Dauer bescheren würden. „Kayden hat oben auf dem letzten Absatz der Stoneface-Route einen verunglückten Kletterer gefunden.“ „Tot?“ „Ich fürchte, ja.“ „Sein Kletterkumpel hat gerade von der Rangerstation 4 aus angerufen.“ Der nächste Stützpunkt von ihnen aus. „Hat er gesagt, was passiert ist?“ „Der Mann hat einen Haltepunkt verpasst und ist abgerutscht.“ Mehr war nicht nötig, nur ein Fehlgriff. Kein Wunder, dass Jake das Herz jedes Mal bis zum Hals schlug, wenn Kayden kletterte. Er war sogar mit ihr zusammen geklettert, weil er das Gefühl hatte, dann wenigstens besser helfen zu können, sollte etwas schiefgehen. Aber das war natürlich Unsinn. Sie hatte so viel mehr Erfahrung als er, dass er höchstens einen Logenplatz hatte, wenn sie abstürzte. Er verdrängte den schrecklichen Gedanken. „Kommst du hierher?“ „Ja, ich habe Cole und Booth schon angerufen. Wir kommen, sobald wir können.“ „Wir müssen die Bergungsausrüstung hinten raufbringen.“ Die Wagen würden nur einen Teil des Weges zurücklegen können, dann würde die restliche Rettungsmannschaft weiterwandern und auch wieder zu Fuß zurückgehen müssen, wenn sie die Leiche geborgen hatte. „Wie geht es den Mädchen?“, fragte Landon. „Wir machen uns jetzt auf den Weg zu ihnen.“ „Sag Piper, dass ich unterwegs bin“, sagte er, offensichtlich besorgt um seine Verlobte. „Mach ich.“ Jake klappte das Telefon zu und berichtete Gage von dem Gespräch, während sie um das Felsmassiv herum zur Rückseite des Berges gingen. Der Weg – wenn man das so nennen konnte – war schmal und gewunden und mit Baumwurzeln und Moos überwuchert, das vom letzten Regen noch feucht war. Vielleicht war der Mann deshalb ausgerutscht. Vielleicht war er zu früh losgeklettert, bevor die Sonne die Chance gehabt hatte, den Felsen zu trocknen. Als sie den letzten Anstieg zurücklegten, stand Jake der Schweiß auf der Stirn, nachdem sie zweihundert Höhenmeter erklommen hatten. Die Luft war hier dünner, füllte aber frisch und kühl seine Lunge. Piper sah die Männer zuerst, sie hatte Tränen in den Augen. Kayden stand mit dem Rücken zu ihnen und Jake ging auf sie zu. Er hätte sie so gerne getröstet, aber er wusste, dass sie das niemals zulassen würde. „Jake“, begrüßte Piper ihn. Kayden drehte sich um. Wie erwartet waren ihre Augen trocken, aber ihre Wangen waren gerötet – auch sie war erschüttert. Wie sollte es auch anders sein? „Gage!“ Piper lief in die Umarmung ihres Bruders. Er tätschelte ihr den Rücken. „Wie geht’s, Kleines?“ „Mir geht es gut, aber Kayden …“ „Geht es auch gut.“ Ihr Blick traf den von Jake, als sie seine unausgesprochene Frage beantwortete. „Alles in Ordnung.“ Er nickte, auch wenn er wusste, dass es gelogen war. „Landon ist auf dem Weg hierher“, sagte Gage, woraufhin Pipers Anspannung spürbar nachließ. „Kommt Booth mit?“ Warum fragte Kayden nach dem Gerichtsmediziner? „Ja.“ „Gut.“ Sie rieb sich die Arme. „Irgendwas kommt mir hier nämlich komisch vor.“ Jake schob sich neben sie und sie versuchte zu ignorieren, wie gut sich seine Anwesenheit anfühlte. Sie sehnte sich danach, in seine Arme zu laufen, so wie Piper sich von Gage hatte umarmen lassen. „Was meinst du mit komisch?“ Eine Sorgenfalte erschien auf seiner Stirn. „Es ist nur so ein Gefühl. Super …“ Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Jetzt klinge ich schon wie Piper.“ Ihre Schwester hatte einen guten Instinkt. Aber Kayden …? Er berührte ihren Arm. In dem Moment, in dem sie seine Hand auf ihrer Haut spürte, fühlte sie sich ganz ruhig. „Nichts gegen Gefühle. Sie können eine große Hilfe sein.“ Sie zuckte mit den Schultern. Irgendwas stimmte hier nicht, auch wenn sie nicht darauf kam, was es war. „Sie sind hier“, sagte Piper und sprang auf, um zu ihrem Verlobten zu laufen. Booth erschien ebenfalls, dicht gefolgt von Cole. „Hallo, Booth.“ Kayden begrüßte den Gerichtsmediziner von Yancey mit einem Nicken. Cole trat um Booth herum und ging geradewegs auf sie zu. Wenn sie sich von irgendjemandem trösten ließ, dann von ihrem großen Bruder, dem ältesten der McKenna-Geschwister und seit dem Tod ihrer Eltern das Oberhaupt der Familie. „Wie geht es dir?“, fragte er und legte eine Hand so fest auf ihre Schulter, dass sie sich nicht umdrehten konnte, sondern ihm in die Augen sehen musste. Sie warf einen Blick zu ihrer Schwester hinüber, die noch immer ein wenig blass um die Nase war. „Besser als Piper.“ Der Anflug eines müden Lächelns zuckte an Coles Mundwinkeln. „Das ist kein Wettbewerb, Kayden.“ Sie straffte die Schultern und zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. „Alles ist ein Wettbewerb.“ Cole schüttelte den Kopf. „Du bist unmöglich.“ Er sah sie prüfend an. „Weißt du, es ist in Ordnung zuzugeben, wenn dich etwas aus der Fassung bringt.“ „Nicht jeder muss heulen, um mit etwas fertig zu werden.“ „Ich weiß.“ Seine grünen Augen wurden sanfter. „Aber ich weiß auch, wenn du erschüttert bist.“ Sie atmete aus, als sie die Ernsthaftigkeit in seinem Blick sah. Er wollte nur helfen. „Ich weiß – und ich weiß es auch zu schätzen.“ Jetzt musste sie sich auf das vorbereiten, was als Nächstes kam. Das Opfer zu finden, war schlimm genug gewesen, aber jetzt folgte die grausigere Aufgabe des Tages – die Leiche zu bergen. Bei all seinen Verletzungen hatte sie es schlecht beurteilen können – und sie hatte sich nicht überwinden können, sein Gesicht eingehender zu betrachten –, aber wenn der Mann von hier war oder auch aus der Umgebung, dann war es durchaus möglich, dass sie ihn kannte, zumindest dem Namen nach. Die Kletterer auf der Alaska-Halbinsel kannten sich. Alle Kletterer in Alaska kannten sich, wenn man es genau nahm. „Unser Opfer heißt Conrad Humphries“, sagte Landon, während Kaydens Brüder die Bergungsausrüstung zurechtlegten. „Conrad?“ Piper schluckte. „Du kanntest ihn?“ „Wir kannten ihn beide“, sagte Kayden. „Nicht gut, aber er war im letzten Winter ein paarmal im Kletterpark. Ich glaube, er wohnt auf Imnek. Woher weißt du, dass er es ist?“ „Sein Kletterkumpel hat sich gemeldet.“ „Er war mit jemandem zusammen unterwegs?“, fragte Kayden, überrascht, dass sein Freund ihn zurückgelassen hatte. Landon nickte. Sie trat näher. „Was hat der Freund berichtet?“ „Er sagte, alles sei gut gelaufen. Conrad war an dem Überhang vorbei und sein Kumpel hat ihn nicht mehr gesehen. Kurz darauf hörte er Conrad schreien und dann …“ „Und dann?“, wiederholte sie. Landon zog eine Grimasse. „Und dann einen Aufprall.“ Kayden versuchte, nicht zusammenzuzucken. Sie hatte das Ergebnis dieses Aufpralls aus nächster Nähe gesehen. Ihr Magen zog sich zusammen. „Woher hat der Freund angerufen?“ „Von Station 4. Er hatte wohl keinen Handyempfang und wusste, dass Conrad Hilfe brauchte, also ist er runtergeklettert und zu seinem Mietwagen gelaufen. Dann ist er zu der Rangerstation gefahren, an der Conrad und er auf dem Weg vorbeigekommen waren. Er sagte, er hätte nicht gewusst, wie er noch schneller hätte Hilfe holen können.“ „Hat er nachgesehen, ob Conrad bei Bewusstsein war, bevor er gegangen ist?“ „Ich weiß nicht, aber er schien der Meinung zu sein, dass es sich um einen Rettungseinsatz handelt und nicht um eine Bergung.“ „Das heißt, er glaubt, Conrad sei noch am Leben?“, fragte Jake. Landon nickte. „Den Eindruck hatte ich jedenfalls.“ „Selbst nachdem er den Aufprall gehört hat?“ „Unser Gehirn macht bei Tragödien, was es will.“ „Wo ist der Freund jetzt?“, fragte Kayden. „Immer noch bei den Rangern. Ich habe ihn gebeten, dort zu bleiben. Ich wollte nicht, dass er hierherkommt, während wir versuchen zu arbeiten. Ich habe Ranger Aikens gesagt, dass ich vorbeischaue, um mit ihm zu reden, wenn wir hier fertig sind.“ „Wie heißt er?“ Landon sah in seinem Notizbuch nach. „Stuart Anderson.“ Stuart Anderson? Der Name sagte Kayden nichts. Woher kam der Mann? „Okay“, sagte sie, während ihre Gedanken sich überschlugen. „Ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass du ihn befragen solltest.“ Landon legte den Kopf schief. „Das hatte ich sowieso vor. Bei einem Kletterunfall ist das die ganz normale Prozedur. Hast du eine bestimmte Vermutung?“ Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Fleecejacke. „Ich glaube nicht, dass es ein ganz normaler Unfall war.“ Landon sah sie prüfend an. „Warum?“ „Irgendetwas stimmt nicht, aber ich kann es nicht erklären, bevor ich ihn genauer angesehen habe.“ „Okay. Alle mal herhören.“ Landon rief die anderen zum Rand des Überhangs. „Die Regeln sehen vor, dass dies ein Tatort ist, bis wir etwas anderes festgestellt haben. Ich werde gemeinsam mit Booth die Ermittlungen führen und wir brauchen zwei von euch auf dem Vorsprung.“ „Ich gehe“, meldeten sich Kayden und Jake beinahe gleichzeitig. Jake warf ihr einen Blick zu, aber sie starrte Landon unverwandt an. Sie würde gehen. „Ich habe ihn gefunden. Ich will ihn nach Hause bringen.“ Landon nickte. Cole nahm das oberste Seil. „Gage und ich übernehmen die Sicherung. Und das schwere Hochziehen.“ „Ist gut.“ Landon nickte Kayden und Jake zu. „Los geht’s.“ Der schnellste, sicherste und einfachste Weg zu dem Felsvorsprung war es, sich von ihrem jetzigen Punkt aus abzuseilen. Jake hakte seinen Gurt neben denen von Booth, Landon und Kayden ein. Anschließend überprüften sie noch einmal die Sicherungen der jeweils anderen. Als alle vier definitiv gesichert waren, ging Landon als Erster, gefolgt von Booth und dann Kayden. Jake genoss das Können und die Geschicklichkeit, mit der sie kletterte oder vielmehr glitt. Ihre muskulösen Arme waren, obwohl immer noch ausgesprochen weiblich, Beweis für die Kraft, die sie besaß – eine Kraft, die tiefer ging als bloße Sportlichkeit. Diese körperliche Kraft bewunderte er, aber was ihn wirklich fesselte, waren die seltenen Blicke in ihr Herz. So sehr er auch versucht hatte, gegen seine Gefühle anzukämpfen, hatte er sich doch schon vor langer Zeit bis über beide Ohren in Kayden verliebt und er fürchtete, dass diese Liebe für immer in seinem Herzen Wurzeln geschlagen hatte. Die Frage war – jetzt, wo die Wahrheit über seine Vergangenheit ans Tageslicht gekommen war und sie seinen Charakter nicht mehr anzweifelte –, ob sie all das hinter sich lassen und ihn so lieben konnte, wie er war. „Jake?“, rief Landon von unten. „Komme.“ Jake setzte die Schuhsohlen fest auf den grauen Granit und ließ sich nach hinten fallen, bis er im Seil hing, fast auf der Höhe des Felsvorsprungs unter ihm. Er führte das Seil durch den Karabiner an seinem Gurt und ließ sich langsam hinunter, während das obere Seil über ihm ihn sicherte. Als er mit beiden Füßen auf der festen Oberfläche des Vorsprungs aufsetzte, hakte er sich aus und vollführte eine Drehung, um … Sein Magen zog sich zusammen, als er das zermalmte Opfer sah, und sein Blick huschte zu Kayden hinüber. Kein Wunder, dass der Anblick sie mitgenommen hatte. Landon holte seine Kamera aus dem Rucksack. „Ich muss Fotos machen, bevor wir irgendwas bewegen.“ Booth hockte sich neben die Leiche und begann mit einer ersten Untersuchung. Jake lehnte sich neben Kayden an die Felswand, wobei sie versuchten, Landon und Booth nicht im Weg zu sein, bis ihre Hilfe gebraucht wurde. Kaydens Blick war starr auf den dunkler werdenden Horizont gerichtet. Regen war im Anzug. Der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht. Die Sommersonne hatte ihre sonst dunkelbraunen Haare mit natürlichen hellen Strähnchen versehen. Mann, er könnte sie stundenlang ansehen. Weil er nicht wollte, dass sie ihn schon wieder dabei ertappte, wie er sie anstarrte, holte er tief Luft und widmete seine Aufmerksamkeit dem Toten. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten. Nur ein kleiner Teil der rechten Gesichtshälfte war sichtbar, das rechte Auge war weit aufgerissen und durch den Aufprall hervorgequollen. „Das war es. Siehst du die Kreide?“ Während Landon Bilder machte, zeigte Kayden auf die weißen Kreidespuren, die über den Arm des Toten liefen. „Kreide sollte nie so flüssig sein.“ „Vielleicht war er zu früh hier draußen und der Fels war noch nass. Vielleicht hat er einen Haltepunkt mit einer Pfütze erwischt“, versuchte Jake, den Advocatus Diaboli zu spielen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Wasser würde die Kreide wegwaschen, sie würde nicht seinen Arm hinunterlaufen.“ „Und was bedeutet das deiner Meinung nach?“, fragte Landon. Kayden trat vor und kniete sich neben die Leiche. „Ich würde vermuten, dass er stark geschwitzt hat, aber normalerweise lässt Schweiß die Kreide nicht zerfließen.“ „Stark geschwitzt? Meinst du, er hatte einen Herzinfarkt oder so etwas?“ „Nein, denn wenn er geschwitzt hätte, würde die Kreide die Flüssigkeit an seinen Händen aufsaugen – also zusammenbacken und nicht verlaufen.“ „Das heißt …?“ „Vielleicht stimmte etwas mit seiner Kreide nicht. Das ist bei einem Kletterunfall ein riesiger Faktor.“ „Vielleicht hat er billige Kreide benutzt“, sagte Jake, während Landons Kamera die weißen Spuren ablichtete. „Könnte sein.“ Kayden richtete sich auf. „Das wird Booth im Labor feststellen …“ „Aber?“, hakte er nach. Sie seufzte. „Ich weiß nicht …“ Jake merkte, dass sie nicht auf ihren Vermutungen bestehen wollte, aber sie war die erfahrenste Kletterin in der Gegend. „Vertrau deinem Instinkt, Kayden. Das bringt in vielen Fällen den entscheidenden Durchbruch.“ „Okay“, sagte Landon und erhob sich. „Kommt her.“ „Was meinst du?“, fragte Jake ihn. Landon zog seine Baseballkappe aus der Gesäßtasche und setzte sie auf, während die ersten Regentropfen fielen. „Ich meine, wir müssen uns beeilen.“ Das Unwetter kam näher. Was jetzt ein sanfter Nieselregen war, würde bald eine Sturzflut sein, wenn die dunklen Wolken etwas zu sagen hatten. Auf Landons Zeichen ließen Cole und Gage die Trage hinunter. Landon und Jake hielt sie fest und lenkten sie neben den Leichnam des Mannes, während Booth zusah. Kayden machte Anstalten zu helfen. Landon schüttelte den Kopf. „Jake und ich heben ihn hoch.“ Sie blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Mir geht es gut. Ich kann helfen.“ Landon seufzte und kniete sich neben den Mann. „Es kann noch deutlich hässlicher werden, wenn wir ihn umdrehen. Außerdem musst du Handschuhe anziehen und seinen Kreidebeutel hier drin verstauen.“ Er warf ihr eine Asservatentüte aus seiner Tasche zu. „Sobald wir an seinen Kreidebeutel kommen, mache ich seinen Gürtel los und gebe ihn dir. Er muss trocken bleiben.“ Sie nickte und stellte sich ein Stück hinter Landon auf, die Latexhandschuhe bereits an den Fingern. Landon hockte sich hin und sah Jake über den Toten hinweg an. „Bist du so weit?“ Jake holte tief Luft, hielt den Atem an und nickte. „Auf drei“, sagte Landon. „Eins, zwei, drei.“ Sie hoben und rollten den Mann auf die Trage, sodass er auf dem Rücken zu liegen kam. Kayden unterdrückte den Laut, mit dem sie scharf einatmete, aber Jake hörte ihn trotzdem. Landon nahm den Kreidebeutel vom Gürtel des Mannes und reichte ihn ihr. „Es ist noch Kreide drin, die wir untersuchen können“, sagte sie. Landon machte schnell noch einige Fotos, während Booth das Opfer in seiner neuen Position begutachtete. Dann bedeckten sie den Leichnam und gurteten ihn an. Cole und Gage zogen ihn hi-nauf, immer darauf bedacht, genügend Sicherheitsabstand zwischen der Trage und den zerklüfteten Felsen zu halten, um den Körper des Toten nicht noch mehr in Mitleidenschaft zu ziehen, als er es ohnehin schon war.

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