Read an Excerpt
Kapitel 1: Die geheimnisvollen Wege des Schicksals Ich war fünfzehn Jahre alt und – wie viele Jugendliche – von einer Menge Bestrebungen nach etwas Großem, Heldenhaftem durchdrungen. Was stellt man sich in diesem Alter nicht alles vor! Man rettet sein Vaterland, man eilt unterdrückten Völkern zu Hilfe, man macht eine Entdeckung, die die Heilung einer bis dahin unheilbaren Krankheit ermöglicht, man wird der größte Dichter oder Musiker, man erweckt Dornröschen… Ich für meinen Teil wusste nicht wirklich, was ich tun wollte. Ich wünschte mir nur, dass es etwas Großes sei, etwas Edles, etwas Schönes, ohne dass es mir gelang, diesem Ideal einen Namen zu geben oder das zu benennen, was mir ermöglichen würde, es zu realisieren. Was ich hingegen ganz real sah, das waren all die Hindernisse, die sich bereits vor mir auftürmten. Seit mein Vater verstorben war, was einige Jahre her war, lebte ich mit meiner Familie unter erbärmlichen Bedingungen. Wie viele gute Eigenschaften hätte ich haben müssen, um mich aus diesen Bedingungen zu befreien! Aber von diesen guten Eigenschaften konnte ich keine einzige in mir erkennen – oder nur ganz wenige! Dazu kam noch, dass ich die Schule nicht mochte, ich langweilte mich dort, und ich hatte ein Verhalten, das meine Mutter beunruhigte und ihr Sorgen machte. Der Unterschied zwischen dem, was ich war, und dem Ideal, das ich in meinem Herzen trug, erschien mir unüberbrückbar und ich fühlte mich zerrissen. In dieser Zeit entdeckte ich Bücher über hinduistische Spiritualität, die von Reinkarnation und Karma1 handelten, und ich fragte mich: »Was habe ich in meinen vergangenen Leben bloß getan, um eine solche Bestrafung zu verdienen und jetzt so vielen Schwierigkeiten zu begegnen, so viele Entbehrungen ertragen zu müssen? Welche Verbrechen habe ich nur begangen?« Selbst wenn ich mich in der Schule langweilte, hatte ich den Wunsch zu lernen, um große Dinge vollbringen zu können, aber ich fühlte mich der Fähigkeiten beraubt, die ich so sehr besitzen wollte, und alle Wege schienen sich vor mir zu verschließen. Ich sah keinen Ausweg und war davon überzeugt, allein dafür verantwortlich zu sein. Ich hätte Aufklärung, Orientierung gebraucht, aber ich kannte keinen Erwachsenen, dem ich mich hätte anvertrauen können, nicht einmal meiner Mutter. Meine Mutter war eine außergewöhnliche Frau, von einer großen Weisheit, aber diese Weisheit kam von ihrer Liebe; sie war sehr wenig belesen und konnte weder auf meine Verunsicherungen antworten noch auf die Fragen, die ich mir stellte. In Wirklichkeit brauchte ich einen spirituellen Führer, aber erst zwei Jahre später begegnete ich Meister Peter Danov.* Aber während ich die Bücher über Hindu-Spiritualität las, lernte ich doch, dass man auch Hilfe erlangen kann, wenn man nicht das Privileg hat, einem Meister auf der physischen Ebene zu begegnen, wenn man sich nur mit erhabenen Menschen zu verbinden weiß, die an bestimmtem Orten der Erde lebten. Viele dieser erhabenen Menschen, so sagten die Bücher, leben im Himalaya. Durch ihre Gegenwart und durch ihre Gedanken bemühen sie sich, die Menschen auf den Weg des Lichts zu führen. Das war für mich eine große Offenbarung, und von dem Moment an begann ich, mich auf sie zu konzentrieren, mich mit ihnen zu verbinden. Auf diese Weise habe ich von Jugend an die Vorstellung akzeptiert, dass es auf der Erde Menschen von einem außergewöhnlichen Entwicklungsgrad gibt, und dass, selbst wenn ich ihnen nicht physisch begegnen konnte, ich die Möglichkeit hatte, sie mithilfe des Denkens zu erreichen. Ich stellte mir vor, dass diese derart weisen und lichtvollen Wesen einverstanden waren, mir von ihrer Weisheit und ihrem Licht zu geben. Und vielleicht ist das tatsächlich geschehen: Als sie sahen, dass ich derart unter meiner Unvollkommenheit litt, dass ich so sehr wünschte, mich zu verbessern, mussten sie Mitleid mit mir haben und bereit sein, mir zu helfen. Jeden Tag stellte ich mir vor, ich sei bei ihnen, mitten unter ihnen, aber auch, ich nähme an ihrer Arbeit teil. Ich wusste nicht, woher mir dieser Impuls kam. Was trug ich in mir, das mich beriet? Als es mir gelang, mich wirklich mit diesen Wesen zu verbinden, fühlte ich mich nicht mehr allein. Ich hatte die Gewissheit, auch noch einer anderen, spirituellen Familie anzugehören, und selbst wenn ich sie nicht kannte, lebte ich in ihr. Rund dreißig Jahre später, als ich bereits seit einiger Zeit in Frankreich war, berichteten mir Freunde von einer großen Hellseherin, die in Zürich wohnte. Weil ich mir der Realität einer Welt bewusst bin, die wir nicht sehen, aber mit der wir in Beziehung treten können, war es immer mein Bestreben, diese Phänomene bei Personen zu erforschen, welche die Gabe des Hellsehens oder Medialität von Natur aus besitzen. Deshalb traf ich mich mit mehreren von ihnen, aber diese eine Hellseherin aus Zürich beeindruckte mich besonders. Im Laufe des Jahres 1945 wurde ich in die Schweiz eingeladen und entschloss mich, diesen Aufenthalt zu nützen und nach Zürich zu fahren, um sie aufzusuchen. Da sie nur Deutsch sprach, suchte ich einen Übersetzer. Ich wandte mich an die Besitzerin des Hotels, in dem ich wohnte; sie sagte mir, dass ihre Tochter, die gut Französisch könne, mich gerne begleiten würde. Und zusammen mit ihr ging ich zu dieser Hellseherin. Sie war bereits in fortgeschrittenem Alter, und sofort als ich sie sah, war ich beeindruckt von der Farbe und der Feinheit ihrer Haut.2 Die Haut ihres Gesichts sagte mir, dass diese Frau eine Heilige war, und das gab mir sofort Vertrauen. Sie ergriff als Erstes meine Hand, auch wenn sie mir später anvertraute, dass dies nur eine gewohnheitsmäßige Geste bei ihr war: Sie sah nichts in der Hand, sondern direkt auf den feinstofflichen Ebenen. Dann wandte sie sich an das junge Mädchen, das mich begleitete: »Sag dem Herrn, dass er einer königlichen Familie angehört.« Ich sagte: »Aber das ist nicht möglich! Ich weiß, wer mein Vater ist, ich weiß, wer meine Mutter ist, es gibt nichts Königliches in unserer Familie.« Sie lächelte und wiederholte: »Sag dem Herrn, dass er einer königlichen Familie entstammt, er wird mich später verstehen.«3 Und in der Tat, ich habe später verstanden, dass die königliche Familie, der ich angehörte, sich nicht auf der physischen Ebene befand, sondern auf der spirituellen Ebene. Sie fuhr fort: »Sie kommen aus einem Land des Balkans, ihr Vater ist gestorben als Sie acht Jahre alt waren, und nach seinem Tod haben sie in großem Elend gelebt. Sie haben einen jüngeren Bruder, und um beide großziehen zu können, hat ihre Mutter wieder geheiratet, einen Mann, der schon ein Kind hatte, und gemeinsam haben sie noch drei Kinder gehabt. Trotz der materiellen Schwierigkeiten haben Sie viel gelernt. Sie leben seit acht Jahren in Frankreich. Sie gehören einer spirituellen Lehre an, von einem Meister gegründet, den ich dort hinter ihnen stehen sehe. Er hat weiße Haare, einen weißen Bart und er hat jetzt die Erde verlassen…« Nun, es war also wahr: Der Meister hatte die Erde verlassen! Zu der Zeit – der Krieg war kaum zu Ende – konnte ich keine Neuigkeiten aus Bulgarien erhalten, hatte aber gewisse Vorahnungen und Träume gehabt, die mir ein Zeichen gaben. Und jetzt bestätigte mir diese Hellseherin: Der Meister war gegangen. Sie fuhr fort: »Als er sah, dass derjenige, den er nach Frankreich gesandt hat, sein Werk fortsetzt, dass er auf ihn zählen kann, ist er gegangen. Sie sind sein Erbe, er hat Sie zu seinem Erben gemacht… Und jetzt hören Sie mir gut zu. Die nächsten Jahre werden Sie große Prüfungen durchmachen müssen, Todesgefahren bedrohen Sie, Sie werden Unfälle haben, aber Sie werden allem entrinnen. Danach werden Sie nach Indien reisen, wo Sie sehr wichtige Begegnungen haben werden, Sie werden Außergewöhnliches erleben. Das Geheimnis der Königin von Saba wird Ihnen offenbart werden.« Ich war erstaunt, wie konnte diese einfache und wenig gebildete Frau vom Geheimnis der Königin von Saba sprechen? Sie hat mir noch einiges mehr gesagt, von dem ich euch vielleicht eines Tages berichten werde. All das, was sie von meiner Vergangenheit sah, stimmte, und was sie mir vorhersagte, hat sich bereits verwirklicht oder ist dabei sich zu verwirklichen. Aber kommen wir auf den ersten Satz zurück, den sie aussprach: dass ich einer königlichen Familie angehöre. Wenn ich den Ehrgeiz gehabt hätte, zu befehlen, zu herrschen, mich gegen andere durchzusetzen, dann wären die Bedingungen, unter denen ich geboren und aufgewachsen bin, natürlich nicht die günstigsten gewesen. Doch selbst wenn ich mir dessen nicht sofort bewusst gewesen bin, waren diese Bedingungen doch die besten, da mein wahrer Ehrgeiz allein darin bestand, König meines eigenen Königreiches zu werden, das heißt, Herr meiner selbst zu werden. Kein einziger Mensch kommt auf die Erde mit dem klaren Wissen von dem, was er ist, von dem, was er tun wird, und warum er es tut. Lange Zeit ist auch für mich nichts klar gewesen. Die Inkarnation ist ein Fall in die Materie, und die Materie ist eine Kraft, die die Seele so sehr ergreift, dass sie ihr die Erinnerung nimmt. Man weiß, dass die alten Griechen sich das Jenseits als eine Erde vorstellten, die von verschiedenen Flüssen durchströmt wird, unter anderem dem Fluss Lethe, was »vergessen« bedeutet. Sie glaubten, dass die Seelen nach dem Tod vom Wasser des Lethe trinken, um die Ereignisse ihres irdischen Lebens zu vergessen. Und sie trinken auch von diesem Wasser, wenn sie sich wieder inkarnieren. Man findet auch einen Nachklang dieses Glaubens in einem der Bücher von Platon, »Der Staat«, wo er erklärt, dass das Schicksal einer Seele, die sich inkarniert, durch das bestimmt ist, wie sie in vorangegangenen Existenzen gelebt hat. Bevor sie herabsteigt, bekommt sie Kenntnis von dem, was sie erwartet, sei es, weil es ihr auferlegt ist, oder sei es, weil sie die Möglichkeit hatte zu wählen; aber in dem Moment, wo sie herabsteigt, wird ihr dieses Wissen entzogen, denn auch da muss sie wiederum das Wasser des Lethe trinken, und sie vergisst alles. Das ist natürlich nur eine Art bildhafter Vorstellung der Dinge, aber so ist die Realität: Die Seele, die sich inkarniert, weiß vorerst nichts von ihrem Schicksal, das sie durchleben wird. Selbst für die am weitesten entwickelten Seelen bleibt dies verborgen. Aber nach und nach erinnern sie sich, und das unterscheidet sie von den anderen, die dazu verurteilt sind, weiterhin nicht zu wissen, warum und wie sie auf die Erde gekommen sind, und was sie hier zu tun haben. Ja, im Gegensatz zu dem, was manche behaupten, wird niemand mit einem klaren Bewusstsein bezüglich seiner Vorbestimmung geboren. Sicher, schon in jungen Jahren kann man sich in diese oder jene Richtung gezogen fühlen, aber das bleibt ziemlich vage. Es sind Jahre um Jahre des Forschens, des Studierens und sogar des Leidens nötig, bevor man seine wahre Berufung erkennt.4 Daher habe ich erst nach vielen Jahren und vielen Prüfungen begriffen, wie sich der Sinn eines Schicksals offenbart, und ich möchte, dass das, was ich verstanden habe, auch euch dient, damit ihr die Probleme, die sich euch jeden Tag stellen, besser lösen könnt. Wie viele Hindernisse, wie viele Schwierigkeiten, auf die wir treffen, haben nur den einen Grund, uns zu nötigen, den einzigen Weg zu nehmen, auf dem wir unsere Vorbestimmung als Söhne und Töchter Gottes erfüllen können! Eine große Weisheit überwacht all die Schicksale, und man sollte diese Wahrheit anerkennen, um die Leiden nicht zu verstärken. Die kosmische Intelligenz hat niemals die Absicht, uns auszulöschen; aber mit dem, was sie uns gibt, und auch mit dem, was sie uns vorenthält, versetzt sie uns in Situationen, die uns zwingen, das Beste in uns hervorzuholen und auszudrücken. Da ich im Äußeren keinen Ausweg sah, musste ich in meinem Inneren unablässig suchen und arbeiten, mithilfe des Denkens, der Vorstellungskraft und des Willens. Alles, was ich in der Folge erreichen konnte, was ich geworden bin – das weiß ich jetzt –, verdanke ich diesen Einschränkungen, diesen Entbehrungen, die mir auferlegt wurden. Das Schicksal hat für jeden eine spezielle Sprache, und man muss sich bemühen, diese zu interpretieren. Die Hindernisse, die Hemmnisse, an denen ich mich gestoßen habe, zwangen mich, das, was ich gebraucht habe, in der Welt von Seele und Geist zu suchen. Und all das, was ich entdeckt habe, möchte ich euch jetzt zugutekommen lassen. Nach vielen Jahren habe ich verstanden, dass die äußeren Bedingungen nicht bestimmend sind. Oder genauer gesagt, sie sind nur in dem Sinne bestimmend, dass sie uns zwingen, an uns selbst zu arbeiten. Wenn man nicht voranschreiten kann und nicht zurückfallen will, bleibt einem nur, in sich selbst abzutauchen, wie der Perlenfischer, der in die Tiefen des Meeres taucht; oder aber man muss sich sehr weit, sehr hoch aufschwingen, bis zu den Sternen. Jetzt kann ich sagen: Dank all der Schwierigkeiten, denen ich begegnet bin, habe ich vom Grund der Meere viele Perlen empor geholt und habe mich bis zu den Sternen aufgeschwungen. Man darf sich nicht mit der Armut abfinden, man darf nicht in Entbehrungen resignieren, man darf sich nicht von den Schwierigkeiten lähmen lassen, sondern sollte sie nur wie einen Ansporn verspüren, um sich auf die Suche nach den wahren Reichtümern zu begeben. Die Wege des Schicksals sind immer geheimnisvoll. Entgegen allem äußeren Anschein haben sie für mich die besten Bedingungen herbeigeführt. Aber was weiß man mit fünfzehn Jahren von den Wegen des Schicksals? Und vor allem, wie hätte ich wissen können, dass, bevor ich herabgestiegen bin, um mich zu inkarnieren, ich selbst diese Bedingungen akzeptiert habe? Ja, jetzt weiß ich es: Ich habe sie akzeptiert. * Der Prosveta Verlag schrieb in den deutschsprachigen Büchern den Nachnamen »Danov« bisher anders, nämlich »Deunov«. Der Verlag wird nun nach und nach die Schreibweise »Danov« für den Namen von Meister Peter Deunov einführen. Diese Schreibweise führt (gemäß mehrerer Hinweise aus Bulgarien) zu einer richtigeren Aussprache. Die bisher in den deutschen Büchern von Omraam Mikhaël Aïvanhov verwendete Schreibweise »Deunov« war beim Übersetzen aus dem Französischen übernommen worden, ergibt aber, wenn man sie deutsch liest und ausspricht, für die Bulgaren einen völlig anderen Namen. Das »a« dieser neuen Schreibweise wird für eine möglichst richtige Aussprache des Namens überhaupt nicht betont, sondern nur kurz, ja fast unhörbar gesprochen und klingt dann ähnlich wie »D’-nov«. Weiterführende Literatur 1. Siehe Band 202 der Reihe Izvor »Der Mensch erobert sein Schicksal«, Kapitel 8: »Die Reinkarnation«. 2. Siehe Band 235 der Reihe Izvor »Im Geist und in der Wahrheit – Wie finde ich zu Gott?«, Kapitel 9: »Die Haut, Organ der Erkenntnis«. 3. Siehe Band 29 der Reihe Gesamtwerke »Die Pädagogik in der Einweihungslehre, Teil 2 und 3«, Kapitel 5: »Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist«, Teil 4. 4. Siehe Band 242 der Reihe Izvor »Unerschöpfliche Quellen der Freude«, Kapitel 6: »Wie ein Fisch im Wasser«.