Auf den Spuren meiner Schwester
New York City, Sommer 1858: Marianne Neumann hat eine geheime Mission: Sie will ihre vermisste Schwester Sophie finden, die sie in Illinois vermutet. Deshalb lässt sie sich von einem Kinderhilfswerk anstellen, um Waisen und Straßenkinder in die ländlichen Gebiete von Illinois zu begleiten und ihnen dort ein neues Zuhause zu suchen. Auf der langen Zugfahrt in den Westen lernt sie ihren lebenslustigen Kollegen Andrew Brady kennen und schätzen. Gemeinsam kümmern sie sich hingebungsvoll um die Kinder. Doch ihre Reise wird von tragischen Ereignissen begleitet, die ihre Mission infrage stellen. Und unter der heiteren Oberfläche von Andrew tun sich mit einem Mal Abgründe auf, die Marianne mit in die Tiefe zu ziehen drohen.

Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.
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Auf den Spuren meiner Schwester
New York City, Sommer 1858: Marianne Neumann hat eine geheime Mission: Sie will ihre vermisste Schwester Sophie finden, die sie in Illinois vermutet. Deshalb lässt sie sich von einem Kinderhilfswerk anstellen, um Waisen und Straßenkinder in die ländlichen Gebiete von Illinois zu begleiten und ihnen dort ein neues Zuhause zu suchen. Auf der langen Zugfahrt in den Westen lernt sie ihren lebenslustigen Kollegen Andrew Brady kennen und schätzen. Gemeinsam kümmern sie sich hingebungsvoll um die Kinder. Doch ihre Reise wird von tragischen Ereignissen begleitet, die ihre Mission infrage stellen. Und unter der heiteren Oberfläche von Andrew tun sich mit einem Mal Abgründe auf, die Marianne mit in die Tiefe zu ziehen drohen.

Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.
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Auf den Spuren meiner Schwester

Auf den Spuren meiner Schwester

by Jody Hedlund
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Overview

New York City, Sommer 1858: Marianne Neumann hat eine geheime Mission: Sie will ihre vermisste Schwester Sophie finden, die sie in Illinois vermutet. Deshalb lässt sie sich von einem Kinderhilfswerk anstellen, um Waisen und Straßenkinder in die ländlichen Gebiete von Illinois zu begleiten und ihnen dort ein neues Zuhause zu suchen. Auf der langen Zugfahrt in den Westen lernt sie ihren lebenslustigen Kollegen Andrew Brady kennen und schätzen. Gemeinsam kümmern sie sich hingebungsvoll um die Kinder. Doch ihre Reise wird von tragischen Ereignissen begleitet, die ihre Mission infrage stellen. Und unter der heiteren Oberfläche von Andrew tun sich mit einem Mal Abgründe auf, die Marianne mit in die Tiefe zu ziehen drohen.

Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Product Details

ISBN-13: 9783963629617
Publisher: Francke-Buch
Publication date: 01/01/2019
Sold by: CIANDO
Format: eBook
Pages: 336
File size: 500 KB
Language: German

About the Author

Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.

Read an Excerpt

Kapitel 1 New York City Juni 1858 Marianne Neumanns Finger zitterten so sehr, dass sie das erste Notizbuch fast nicht aufschlagen konnte. In der Schublade lagen noch sechs weitere Bücher. Wie sollte sie es schaffen, sie alle durchzublättern? Als sie Geräusche auf dem Flur hörte, erstarrte sie und warf einen Blick zur geschlossenen Bürotür. Sie hielt den Atem an und betete, dass sich die Schritte wieder entfernen würden. Nach nur zwei Wochen bei der Children’s Aid Society konnte sie es sich nicht leisten, dabei erwischt zu werden, wie sie im Schreibtisch des Leiters der Organisation herumschnüffelte. Einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, regte sie sich nicht und lauschte mit angehaltenem Atem den Schritten, die sich auf dem Flur entfernten und langsam verhallten. Sie atmete tief aus und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Notizbuch, das mit einem einfachen, braunen Lederumschlag eingebunden war. Sie schlug es vorsichtig auf der ersten Seite auf. Als Datum oben auf der Seite stand April 1855. Mit zitternden Fingern blätterte sie in dem Buch und stellte fest, dass die Einträge unterschiedlich lang waren. Auch die Handschriften änderten sich häufig. Mehrere Seiten waren verknittert und die Tinte war an einigen Stellen, an denen Kaffee oder eine andere Flüssigkeit verschüttet worden war, unleserlich geworden. Der letzte Eintrag stammte von Ende 1855 – er lag also fast drei Jahre zurück. Sie klappte das Buch zu und räumte es wieder in die Schublade, in der sie es gefunden hatte. Ihre Hand strich über die unterschiedlichen Buchrücken. Sie musste die Aufzeichnungen vom vergangenen Herbst finden. Welches Buch enthielt die Informationen, die sie brauchte? Sie versuchte, das nächste Buch herauszuziehen, aber es war auf beiden Seiten eingeklemmt. Draußen war die Luft an diesem Juniabend inzwischen etwas kühler geworden, aber im ersten Stockwerk des Gebäudes der Children’s Aid Society herrschten nach wie vor eine große Hitze und eine hohe Luftfeuchtigkeit. „Komm schon!“, flüsterte sie. Dies war wahrscheinlich ihre einzige Chance, Informationen über ihre vermisste Schwester zu finden. Während ihre zitternden Finger ein weiteres Buch herausholten, bemühte sie sich, die letzte schwache Hoffnung nicht aufzugeben. Morgen würde sie zu ihrer ersten Fahrt nach Illinois aufbrechen und wäre wochenlang fort. Deswegen brauchte sie nun dringend einen Hinweis, irgendeinen Anhaltspunkt, wo sie während ihrer Fahrt suchen müsste. Sie schlug das Buch beim letzten Eintrag auf. März 1856. Das kam der fraglichen Zeit schon näher. Sie legte das Buch zurück und holte das nächste heraus. Stünden darin Aufzeichnungen aus dem Herbst 1857, in dem Sophie verschwunden war? Das Buch aus diesem Zeitraum musste doch irgendwo hier sein! Sie war nicht heimlich in das Büro des Leiters der Organisation geschlichen, um am Ende mit leeren Händen dazustehen. Mit ihrem unerlaubten Eindringen in das Büro tat sie nicht nur etwas, das Gott missfiel, sie setzte auch ihren Arbeitsplatz aufs Spiel. Selbst wenn ihr die Children’s Aid Society nicht kündigte, würde man ihr bestimmt nicht erlauben, die Kinder bei ihrer Fahrt in den Westen zu begleiten. Als wieder Schritte auf dem Flur näher kamen, erstarrte Marianne erneut. Diesmal verharrten die Schritte vor der Bürotür und ihr Puls überschlug sich fast. Sie drückte mit ganzer Kraft gegen die Schublade, um sie eilig zuzuschieben. Als der Türgriff quietschte, erfasste sie eine starke Panik und sie ließ sich schnell hinter dem Schreibtisch auf die Knie fallen. Sie hatte kaum genug Zeit, um den Kopf einzuziehen, als die Tür knarrend aufging. Sie hielt den Atem an und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Zum Glück war der Schreibtisch sehr groß. Wenn sie ein wenig mehr Zeit gehabt hätte, hätte sie vielleicht den Stuhl aus dem Weg schieben und sich noch weiter unter den Schreibtisch quetschen können. Aber nun konnte sie nur beten, dass derjenige, der die Tür geöffnet hatte, lediglich einen kurzen Blick in den Raum werfen und nicht hereinkommen würde. Das Klicken, das verriet, dass die Tür wieder geschlossen wurde, jagte ihr ein Zittern durch den Körper. Als jemand anfing, das Zimmer zu durchqueren, drückte sie die Augen zu und duckte sich noch tiefer. Geh weg!, rief sie im Stillen. Aber die Schritte kamen immer näher. Komm nicht um den Schreibtisch herum! Bitte! Als die Schritte vor dem Schreibtisch stehen blieben, wagte sie nicht mehr zu atmen. Ihr Herz raste so schnell, dass es sich fast überschlug und wie wild gegen ihren Brustkorb hämmerte. Die Person, die sich jetzt im Raum befand, suchte etwas auf dem überfüllten Schreibtisch, blätterte in den Papieren und schob Bücher herum. Das gesamte Büro wirkte sehr chaotisch – die Regale quollen mit Büchern und Papieren über, mit Briefen gefüllte Kartons standen herum und auf dem Boden stapelten sich Zeitungen. Auch wenn es das größte Büro im ganzen Gebäude war, gab es hier kaum einen freien Platz und nur ein einziges Fenster, das halb offen stand. Plötzlich hörte das Rascheln auf der Schreibtischplatte auf. Marianne schlug die Augen auf. Ihr Blick fiel auf ein Paar Schuhe unter dem Schreibtisch. Schwarze Lederschuhe, die auf Hochglanz poliert waren. Oh nein! Sie drückte die Augen wieder zu, obwohl sie genau wusste, dass ihr das nicht helfen würde. Selbst wenn sie diese Bilder aussperrte, würde sie dadurch nicht auf wunderbare Weise aus dieser Notlage befreit werden, so verzweifelt sie sich das auch wünschte. Und der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches würde dadurch auch nicht verschwinden. War Pastor Brace zurückgekommen? Er hatte das Gebäude vor über einer Stunde verlassen. Sie hatte gedacht, sie hätte lange genug gewartet, bevor sie in sein Büro geschlichen war. Hatte sie sich in Bezug auf seine Termine geirrt? Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches räusperte sich. Sie wand sich innerlich. Stille breitete sich in dem Büro aus. Dadurch wirkten die plappernden Stimmen der Kinder im Erdgeschoss und die Abendgeräusche auf der nahe gelegenen Broadway Street – das Klappern von Pferdehufen, das Knarren von Kutschen und die Stimmen der Verkäufer und Händler, die ihre Geschäfte schlossen – noch lauter. Die Stille im Büro wurde beinahe unerträglich. Fast hätte sie geglaubt, dass der Mann verschwunden war, aber als sie wieder einen Blick wagte, standen seine Schuhe immer noch an derselben Stelle vor dem Schreibtisch. „Also …?“, fragte eine zögernde Stimme. Sie zuckte zusammen. Sie sollte eigentlich nicht erschrecken, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte so sehr gehofft, unentdeckt zu bleiben. Aber offensichtlich war ihr Versteck nicht gut genug gewesen. Sie wünschte, der Boden würde sie verschlingen und sie könnte spurlos verschwinden. Aber da das nicht geschehen würde, suchte sie panisch nach einer Ausrede, nach irgendetwas, was erklären würde, warum sie hinter dem Schreibtisch auf dem Boden kniete. „Kann ich Ihnen helfen?“ Die Stimme klang jünger als die von Pastor Brace und war ihr unbekannt. Vielleicht sollte sie sich auch weiterhin nicht rühren und so tun, als hätte sie ihn nicht gehört. Vielleicht würde er dann begreifen, dass sie nicht entdeckt werden wollte, und wieder verschwinden. Aber sosehr sie ihre missliche Lage auch gerne verdrängt hätte, wusste sie doch ganz genau, dass sie nun nach Kräften versuchen musste, ihren Ruf und ihren Arbeitsplatz zu retten. Dieser Mann war zwar offensichtlich nicht Charles Loring Brace, der Gründer der Children’s Aid Society, aber er könnte Pastor Brace sehr leicht erzählen, dass sie unerlaubt in seinem Büro gewesen war. Marianne versuchte, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, und fuhr mit der Hand über den Boden. „Ich suche nur meinen Stift.“ Im Stillen flüsterte sie ein Gebet um Vergebung, weil sie nun zu allem Überfluss auch noch log. Sie fühlte sich schon schrecklich genug, weil sie in das Büro eingedrungen war. Jetzt machte sie mit ihrer Lüge alles noch schlimmer. „Haben Sie ihn gefunden?“, fragte der Mann. „Nein.“ Sie wollte sich vom Boden hochschieben, aber noch bevor sie sich am Schreibtisch festhalten konnte, um sich hochzuziehen, stand der Mann schon neben ihr, ergriff ihren Arm und half ihr auf die Beine. Sie hatte insgeheim Angst gehabt, dass sich sein Griff verstärken und er sie aus dem Büro zerren würde, um sie die Treppe hinabzuführen und ihr Vergehen vor den anderen Mitarbeitern, die noch im Haus waren, bloßzustellen. Deshalb war sie überrascht, dass er sie nur sanft abstützte und dann losließ, als sie wieder auf den Beinen stand. „Danke“, brachte sie über die Lippen, obwohl ihre Kehle wie zugeschnürt war. „Gern geschehen.“ Seine Worte hatten einen leichten Südstaatenakzent. Obwohl sie am liebsten den Kopf eingezogen hätte und aus dem Zimmer geschlichen wäre, warf sie unwillkürlich einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Auf sein unglaublich attraktives Gesicht. Aus seinen Gesichtszügen sprachen Stärke und Charme. Ein Grübchen an seinem Kinn verlieh ihm etwas Unwiderstehliches. Seine gebräunte Haut ließ seine sandfarbenen Haare noch heller erscheinen. Sie waren nicht blond, aber trotzdem viel heller als ihre eigenen, dunkelbraunen Locken. Der kurze Bart an seinem Kinn und auf seinen Wangen war eine Nuance dunkler als seine Haare. Seine Brauen zogen sich nach oben und betonten große Augen, die keine eindeutig zu bestimmende Farbe hatten – sie waren nicht direkt grün, aber auch nicht blau. Auf jeden Fall wirkten sie sehr belustigt. Belustigung war doch sicher besser als Ärger, oder? Marianne bemühte sich um ein leichtes Lächeln, das sich aber eher wie eine Grimasse anfühlte. „Ich bin Miss Neumann.“ Sein Lächeln hatte Ähnlichkeit mit dem Sommersonnenschein, der hinter den Wolken hervorbricht, und gab den Blick auf wohlgeformte Zähne frei. Viele Frauen hätten bei diesem umwerfenden Lächeln sicher weiche Knie bekommen. Aber Marianne ließ sich davon nicht so leicht beeindrucken. „Ich bin Andrew Brady.“ „Mr Brady …“ „Drew.“ „Ähm. Ja. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“ In Wirklichkeit freute sie sich überhaupt nicht, ihn kennenzulernen. Im Gegenteil, es gefiel ihr ganz und gar nicht, von ihm in Pastor Braces Büro erwischt worden zu sein. Was musste er von ihr denken, nachdem sie sich auf dem Boden versteckt hatte? Und dann war sie herumgekrochen und hatte so getan, als suche sie einen Stift, den es überhaupt nicht gab. Obwohl sie sich insgeheim schämte, versuchte sie, äußerlich die Fassung zu bewahren. Sie strich mit einer Hand über ihren Rock und war erleichtert, dass sie eines ihrer neuen Sommerkleider trug. Der gelb-weiß-gestreifte Baumwollstoff war mit lila und roten Blumen übersät. Der weite Glockenrock war aus so viel Stoff gefertigt, dass man ihn mit Leichtigkeit hätte auseinanderschneiden und daraus Kleider für ein ganzes Haus voll kleiner Mädchen nähen können. Nun ja, vielleicht nicht für ein ganzes Haus. Aber es war ein viel vornehmeres Kleid als die Kleider, die sie früher besessen hatte. Alle ihre Kleider, die sie seit einigen Monaten trug, waren schön und traumhaft. Ihre ältere Schwester, Elise, hatte darauf bestanden, ihr diese Kleider zu schenken. Marianne hatte nicht allzu heftig dagegen protestiert. Sie gab unumwunden zu, dass sie ihre schmutzigen, abgetragenen Lumpen gern gegen diese luxuriöse Kleidung eingetauscht hatte. „Miss Neumann.“ Mr Brady sprach ihren Namen aus, als übe er eine Fremdsprache. „Ja, Miss Neu-mann“, betonte sie jede einzelne Silbe. Es war ein typischer deutscher Name. Sie nahm an, dass sie ihn immer noch mit dem deutschen Akzent aussprach, den sie anscheinend nicht ganz ablegen konnte, obwohl sie seit fast acht Jahren in Amerika lebte. „Ich arbeite seit zwei Wochen für die Children’s Aid Society und breche morgen zu meiner ersten Fahrt mit Kindern in den Westen auf.“ „Und ich nehme an, Sie schleichen sich in Mr Braces Büro he-rum, weil sie Informationen über ein verschwundenes Kind suchen, das Sie während dieser Fahrt zu finden hoffen?“ „Genau.“ Sein Lächeln wurde breiter und seine Augen wurden eine Nuance heller, fast blau. „Nein, natürlich nicht!“, korrigierte sie sich schnell und hätte sich am liebsten an den Kopf geschlagen. „Was ich sagen wollte, ist, dass ich hoffte, meinen Stift zu finden, damit ich nicht ohne ihn losfahren muss.“ Er deutete mit dem Kopf zu der Schublade mit den Büchern, die sie in der Eile nicht ganz zugeschoben hatte. „Vielleicht sollten Sie in der Schublade nach Ihrem Stift suchen.“ Sie trat einen Schritt weg von dem Indiz, das sie eindeutig der Lüge überführte. „Danke, Mr Brady, aber ich muss jetzt gehen. Ich muss heute Abend noch packen.“ „Sie wollen den Stift doch bestimmt nicht hierlassen, oder?“, fragte er, „nachdem Sie so mutig waren, in Mr Braces privates Büro zu gehen, um ihn zu suchen.“ Wollte er sie ködern, ihm zu verraten, warum sie in Wirklichkeit in diesem Büro war? Sie schaute ihn forschend an und hoffte, seine Miene deuten zu können. Sein Grinsen wurde nur noch breiter und das Funkeln in seinen Augen verriet, dass es ihm Spaß machte, sie aufzuziehen. Sie wurde wütend. Sie mochte es überhaupt nicht, wenn sich jemand auf ihre Kosten amüsierte. „Ich wüsste nicht, was es Sie angeht, dass ich hier bin. Vielleicht sollten eher Sie erklären, was Sie in Pastor Braces Büro machen.“ Jetzt hatte sie den Fokus von sich auf ihn gelenkt. Immerhin stand er genauso unbefugt in diesem Raum wie sie. „Wer sind Sie überhaupt? Und warum sind Sie hier?“ Seit sie hier arbeitete, hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie verschränkte anklagend die Arme vor sich, aber ihre weiten Ärmel machten die gewünschte Wirkung zunichte. „Vielleicht sind Sie unerlaubt hier eingedrungen und ich sollte die Polizei rufen.“ „Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Süße“, sagte er mit betont breitem Akzent und einem verschwörerischen Augenzwinkern. „Ich verspreche Ihnen, dass ich niemandem erzählen werde, dass Sie hier waren.“ Einen kurzen Moment war sie sprachlos. Dieser Mann hatte sie auf Anhieb durchschaut. Trotzdem brauchte er nicht zu wissen, dass er recht hatte. Am besten verschwand sie, solange ihr noch ein Rest an Würde blieb. Sie trat zur Tür. „Da ich nichts zu verbergen habe, können Sie versichert sein, dass ich mir Ihretwegen keine Sorgen mache, Mr Brady.“ Sie versuchte, Selbstvertrauen in ihre Schritte zu legen, und zwang sich, den Raum zu verlassen, ohne noch einmal einen Blick hinter sich auf ihn zu werfen. Sie war auf dem Flur nur einen Schritt weit gekommen, als aus dem Erdgeschoss Schreie ertönten. Verängstigte Schreie. Was war hier los? Ärgerte einer der größeren Jungen ein kleineres Kind? Sie raste zur Treppe. Sie hatte schon den ganzen Tag sehr viel zu tun gehabt. Sie hatte den Waisen geholfen, sich zu baden, sie hatte an jedes Kind zwei Garnituren Kleidung verteilt und allen Kindern die Haare geschnitten und sie entlaust. Zusätzlich war es ihre Aufgabe, an diesem Abend und während der ganzen Nacht auf die Kinder aufzupassen. Zu dieser späten Stunde saßen die meisten Kinder beim Abendessen – unter den wachsamen Augen der Frau, die angestellt war, um die Mahlzeiten zu kochen, sowie unter der Aufsicht von zwei weiteren Mitarbeiterinnen, die halfen, alles für die Fahrt in den Westen vorzubereiten. Trotzdem schluckte Marianne schwer, da sich starke Schuldgefühle wie eine unsichtbare Hand um ihren Hals legten und sie würgten. Hatte sie denn ihre Lektion nicht gelernt, als sie im letzten Herbst zu einer Notlüge gegriffen hatte, nachdem sie arbeitslos und obdachlos geworden war? Aufgrund ihrer Lügen hatte sie Sophie verloren. Sünden führten nie zu etwas Gutem. Sie würde Gott nur wieder enttäuschen und noch mehr Züchtigung zu spüren bekommen. Als sie hinter sich schwere Schritte hörte, vermutete sie, dass Mr Brady den Lärm gehört hatte und ebenfalls nachsehen wollte, was los war. Unten angekommen, ließ sie der Anblick, der sich ihr bot, abrupt stehen bleiben. In der Tür zum Esszimmer stand ein Mann mit hängenden Schultern und fuchtelte mit einer Pistole durch die Luft. Er trug eine ausgebeulte Hose und einen fleckigen, zerrissenen Mantel. Er trug keinen Hut und seine Haare waren fettig und strähnig. Er richtete die Waffe auf einen langen Holztisch, an dem mindestens zehn Kinder auf den Bänken auf beiden Seiten des Tisches saßen. „Sagt mir, wo Ned ist!“, schrie der Mann mit lallender Stimme. „Oder ihr werdet es bereuen!“ Die zwei Mitarbeiterinnen kauerten neben dem Tisch und schirmten mehrere Kinder ab, die verängstigt weinten. Der Mann trat einen torkelnden Schritt in den Raum hinein und richtete die Waffe wackelnd auf ein beliebiges Kind, einen Jungen, der keinen Tag älter als fünf Jahre aussah. Die Augen des Waisenkindes weiteten sich in seinem blassen Gesicht, aber der Junge rührte sich nicht vom Fleck und gab keinen Ton von sich. Er schaute nur fast resigniert zu dem Mann hinauf, als hätte er solche gewalttätigen Auftritte schon früher erlebt und nähme sein Schicksal an, egal, wie es aussehen mochte. „Sagt mir, wo mein Junge ist, ihr Kinderräuber!“, schrie der Mann wieder und richtete seine Waffe jetzt auf die Mitarbeiterin, die ihm am nächsten saß, die großmütterliche Mrs Trott. „Ich lasse nicht zu, dass ihr ihn wegbringt!“ „Wer ist Ihr Junge?“, fragte Mrs Trott mit zitternder Stimme. Marianne schätzte sich nicht als mutig ein, aber sie konnte nicht tatenlos danebenstehen und zulassen, dass ein Betrunkener einem dieser armen, unschuldigen Kinder etwas antat. Ihr Blick wanderte durch das angrenzende Aufenthaltszimmer, wo die Kinder, die schon aufgegessen hatten, versuchten, sich hinter den spärlichen Stühlen und Tischen unsichtbar zu machen. Ihr Blick fiel auf einen Schürhaken neben dem Kamin. Doch bevor sie ihn ergreifen und als Waffe einsetzen konnte, schob sich Mr Brady an ihr vorbei und drängte sie in seiner Eile zur Seite. Er hatte das Kinn entschlossen vorgeschoben und stürmte auf den Eindringling zu. Marianne wollte ihn aufhalten und daran hindern, etwas Törichtes zu tun. Er hatte doch gewiss nicht vor, sich mit einem Betrunkenen anzulegen, der mit einer Waffe herumfuchtelte. Das war viel zu gefährlich. Aber zu ihrem Entsetzen packte Mr Brady den Betrunkenen, drehte ihn zu sich herum und boxte ihn in den Magen. Der Mann taumelte und krümmte sich, stieß aber trotzdem einen Schwall Beschimpfungen aus, hob die Waffe und richtete sie auf Mr Brady. Erschrocken schaute Marianne zu, wie der Betrunkene den Finger um den Abzug legte. Sie stieß eine Warnung aus, aber es war zu spät. Das Knallen des Schusses übertönte ihre Stimme. Mehr Schreie und ängstliches Weinen erfüllten zusammen mit dem Rauch die Luft. Marianne rechnete damit, dass Mr Brady den Mann loslassen, nach hinten taumeln und zu Boden stürzen würde. Doch stattdessen rammte er die Hand des Mannes gegen den Türrahmen und schlug ihm die Waffe aus der Hand, die scheppernd zu Boden fiel. Binnen weniger Momente hatte Mr Brady die beiden Arme des Mannes unsanft auf dessen Rücken gedreht und aus ihm ein wimmerndes, schluchzendes Häufchen Elend gemacht. Ein schwarzes Loch an der Decke verriet, dass es Mr Brady irgendwie gelungen war, den Lauf der Waffe nach oben zu lenken und sich damit vor einer hässlichen Schusswunde zu retten. Eine Mischung aus Überraschung und Erleichterung machte Mariannes Knie ganz weich und sie musste sich am Treppengeländer festhalten, um nicht zusammenzubrechen. „Wally.“ Mr Brady richtete seinen Blick auf einen der Jungen, die in der Nähe der Tür standen. „Hol bitte den Polizisten, der an der Ecke zur Broadway Street steht. Sag ihm, dass Drew Brady ihn braucht.“ Der dürre Junge nickte ernst. Er huschte zur Tür hinaus und war fort, bevor ihn Marianne anweisen konnte, vorsichtshalber zwei Polizisten mitzubringen. Der Betrunkene begann erneut zu fluchen. Mr Brady zerrte am Arm des Mannes. „Jetzt ist Schluss damit!“, knurrte er. „Das hier ist ein gottesfürchtiges Haus mit Frauen und kleinen Kindern. Hüten Sie Ihre Zunge. Sonst zwingen Sie mich, gewaltsam dafür zu sorgen, dass Sie den Mund halten.“ „Geben Sie mir meinen Jungen zurück!“, fauchte der Mann. „Mehr will ich nicht.“ Mr Brady sah aus, als könnte er den Eindringling völlig mühelos festhalten. Aber die Muskeln, die sich unter seinen Ärmeln anspannten, verrieten, dass es ihn viel Kraft kostete, den Mann im Griff zu behalten. „Sie sagen, dass Ihr Junge Ned heißt?“ Der Mann nickte. „Ich habe gehört, dass er in den Westen gebracht werden soll. Nach Illinois. Zusammen mit einem Zug voll anderer Kinder.“ Die Kinder sprachen kein Wort und kauerten sich immer noch zusammen, während sie ängstlich verfolgten, was sich vor ihren Augen abspielte. Der Rest des Essens vor ihnen auf den Tischen wurde kalt. Mr Brady trat gegen den Revolver, der über den Holzboden rutschte und nur wenige Zentimeter vor Mariannes Füßen liegen blieb. Auch ohne dass er etwas sagte, begriff sie, dass sie den Revolver aufheben und dafür sorgen sollte, dass der Betrunkene ihn nicht wieder zwischen die Finger bekam. Sie bückte sich und hob die Waffe auf. Das Metall war kälter und schwerer, als sie erwartet hatte. „Wenn ich Ned fragen würde, warum er von zu Hause weggelaufen ist“, fragte Mr Brady, „was würde er mir dann antworten?“ „Das geht Sie überhaupt nichts an, Sie …!“ Die Beschimpfungen des Mannes verstummten, als ihm Mr Brady den Arm verdrehte. „Er hat wahrscheinlich sehr gute Gründe, warum er von Ihnen fortkommen will, oder?“ „Nach dem Gesetz habe ich das Recht, das Geld, das er verdient, zu behalten.“ „Ned ist ein Mensch, der nach dem Bild des allmächtigen Gottes geschaffen wurde. Und er hat ein Recht darauf, mit Würde behandelt zu werden.“ „Ich kann meinen Jungen so erziehen, wie es mir gefällt.“ „Wenn Sie ihn schlimmer behandeln als einen Hund, können Sie nicht erwarten, dass er Ihnen Loyalität entgegenbringt.“ Marianne wusste nicht, wer Ned war und ob er sich in diesem Gebäude aufhielt. Aber sie würde ihn ganz gewiss nicht diesem Mann übergeben. Marianne wusste ganz genau, was für ein Mensch Neds Vater war. Es war noch gar nicht lange her, dass sie in einer ganz ähnlichen Situation gewesen war. „Sie können ihn nicht vor mir verstecken!“, schrie der Mann. „Ich werde ihn finden, auch wenn Sie mir nicht sagen, wo er steckt. Ich finde ihn immer.“ „Sie wollen doch nicht, dass er so endet wie Sie, oder? Als gewalttätiger Trunkenbold?“ Der Mann wollte etwas sagen, schien aber keine Worte zu finden. „Wollen Sie denn nicht, dass er ein besseres Leben hat?“, ließ Mr Brady nicht locker. Marianne hoffte, dass der Mann mit einem klaren Ja antworten würde, aber sie war nicht überrascht, als er Mr Brady stattdessen verfluchte. Im selben Moment schlug er mit den Armen um sich und trat mit den Beinen nach ihm, um sich aus seinem Griff zu befreien. Mr Brady rang einige Sekunden mit dem Eindringling, bevor er seinen Griff erneut verstärkte. Dann zerrte er den Mann in Richtung Haustür. Einer der Jungen machte die Tür auf und hielt sie weit offen. Erst als Mr Brady im Türrahmen stand, bemerkte Marianne das Blut, das von seinem Ärmel tropfte. Das leuchtende Rot überzog den hinteren Teil seines Oberarms, wo der Stoff an seiner Haut festklebte. Marianne atmete scharf ein. „Mr Brady?“ Er warf ihr einen scharfen Blick über die Schulter hinweg zu, in dem eine strenge Warnung lag. Sie schluckte ihre Worte hinunter. Doch sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, trat sie in Aktion. „Wir müssen einen Arzt holen. Mr Brady wurde angeschossen.“

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