Aber Töchter sind wir für immer (Ungekürzte Lesung)

Aber Töchter sind wir für immer (Ungekürzte Lesung)

by Christiane Wünsche

Narrated by Lisa Hrdina, Tanja Fornaro, Valerie Niehaus

Unabridged — 13 hours, 48 minutes

Aber Töchter sind wir für immer (Ungekürzte Lesung)

Aber Töchter sind wir für immer (Ungekürzte Lesung)

by Christiane Wünsche

Narrated by Lisa Hrdina, Tanja Fornaro, Valerie Niehaus

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Overview

Schon lange haben sich die drei Schwestern Johanna, Heike und Britta nicht mehr alle zusammen gesehen. Zu verschieden sind sie, zu weit entfernt voneinander leben sie, zu groß ist das Unbehagen, irgendwie. Jetzt treffen sie sich wieder in ihrem Elternhaus am Bahndamm, inmitten der weiten Felder am Niederrhein. Hier, in diesem Haus, fing alles an: Das mit ihren Eltern Christa und Hans in der Zeit des Wirtschaftswunders. Das Leben der Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Und das mit Hermine. In diesem Haus geschah so vieles und wurde so vieles verschwiegen. Bis zu diesem einen Tag.

Product Details

BN ID: 2940172835612
Publisher: Argon Verlag
Publication date: 07/24/2019
Edition description: Unabridged
Language: German

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Donnerstagnachmittag

Dunst füllte das kleine Blockhaus aus. Wie ein Weichzeichner verwischte er die Konturen der Wände, des Beckens mit den glühenden Steinen darin und der stufenförmig angelegten Holzbänke, so dass wir im Nichts zu schweben schienen. Von ganz realen Frauen, die mitten im Leben stehen, waren wir zu schemenhaften Traumgestalten geworden.

Nach dem Aufguss mit Orangenöl wurde die feuchte Hitze fast unerträglich. Ich holte flach durch den Mund Luft, um meine Atemwege zu schonen. Bald war die Temperatur besser auszuhalten. Mein Organismus reagierte; der Schweiß rann mir aus allen Poren und kühlte wohltuend die Haut. Ich lehnte den Kopf an die Holzwand der Sauna, die meine Eltern vor etlichen Jahren an die Stelle des alten Ziegenstalls hatten bauen lassen, und betrachtete die geröteten Gesichter meiner beiden Schwestern.

Heike saß mir gegenüber auf der obersten Ebene. Ihre kurzgeschnittenen, grauen Haare standen verschwitzt vom Kopf ab. Die wasserblauen Augen ließen sich nur erahnen, ebenso die Lachfalten in ihrem runden Gesicht. Sie hatte ihr Handtuch fest um Hüfte und Brust geschlungen. Sich uns in dieser räumlichen Enge hüllenlos zu präsentieren wäre ihr unangenehm gewesen.

Johanna war viel hemmungsloser und saß nackt im Schneidersitz eine Etage tiefer auf ihrem Badelaken. Mit ihren sechsundfünfzig Jahren war sie drei Jahre älter als Heike, und es ließ sie immer noch kalt, was andere von ihr hielten. Sie hatte ihr kastanienrot gefärbtes Haar aus der Stirn gestrichen; in einer dichten, welligen Masse floss es ihr den Rücken hinunter. Die Augen hatte sie geschlossen, so dass ich ihre Gesichtszüge ungeniert mustern konnte: die gefurchte Stirn, die dunklen, geschwungenen Augenbrauen, die Adlernase und die vollen Lippen. Mit den Jahren war Johanna etwas weicher um Bauch, Hüften und Oberschenkel geworden, aber sie hatte nach wie vor eine schlanke Figur, und weder die kleinen Dellen noch die Besenreiser an den Oberschenkeln schienen sie zu kümmern.

Ich fand sie wunderschön. In meinen Augen war sie die Attraktivste von uns dreien, sogar von uns vieren, wie ich von alten Fotoalben her wusste. Mein Blick wanderte wieder zu Heike, die ihn lächelnd erwiderte. Auch sie war eine hübsche Frau, deren Natürlichkeit und Wärme von innen heraus strahlten, und ihr Lachen war hinreißend.

Dass ich als Achtundzwanzigjährige und Nachkömmling der Familie einen jugendlicheren Körper als meine älteren Schwestern hatte, lag auf der Hand, aber schöner fühlte ich mich deshalb nicht. Ich war weder schlank wie Johanna noch mollig wie Heike, sondern irgendetwas dazwischen. Mein hellbraunes, halblanges Haar war bei weitem nicht so spektakulär wie Johannas volle Mähne, aber auch nicht fein und fedrig wie das von Heike. Mein Gesicht hatte sanftere Linien als Johannas und war doch herber als Heikes. Manchmal erschien es mir, als wäre ich allein dazu geboren worden, einen Ausgleich zwischen den beiden zu schaffen – und um eine Lücke zu schließen. Ersteres war geglückt, Letzteres unmöglich.

Ich ertappte mich dabei, wie ich ständig Vergleiche zwischen uns Schwestern zog, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mich bereits den alten Familienmustern ergab. Ich war zu Hause angekommen.

»Na, springen wir noch in den Teich?«, unterbrach Heike meine Gedankengänge, und ich nickte.

»Klar.« Johanna stand auf. »Los, raus in die Winterluft!«

Und schon schlüpften wir in die Badelatschen und rannten über die Streuobstwiese hinter unserem Elternhaus. Es war ein kalter Spätnachmittag im Januar; der Frost knisterte unter den Füßen.

Schnell wurden die bleichen Gestalten meiner Schwestern von der Dunkelheit verschluckt. Heike sprang als Erste in den Teich, dicht gefolgt von Johanna. Ich durchbrach zuletzt die Wasseroberfläche. Bald strampelten wir quietschend und prustend zwischen Schilf und Entengrütze umher, mit hochroten Köpfen und wild pochenden Herzen. Lange hielten wir die Eiseskälte aber nicht aus. Doch während Johanna und Heike schleunigst zwischen den Gerippen der Bäume zu dem kleinen Blockhaus zurückliefen, um sich unter der Dusche im Vorraum aufzuwärmen und erneut in die Hitze der Sauna zu flüchten, hielt ich einen Moment inne und ließ den Blick über den Garten schweifen.

Allzu viel konnte ich im Zwielicht nicht erkennen, aber es genügte mir zu wissen, dass hinter der Wiese mit den knorrigen Obstbäumen auch die mächtige Rotbuche, die Kastanie, die Fichten und die Blumenrabatten mit den Rhododendren und dem Hibiskus da waren. Auf der rückwärtigen Seite der Sauna machte ich weiter hinten die Umrisse des ehemaligen Bahnwärterhauses aus, in dem wir aufgewachsen waren und meine Eltern noch heute lebten. Direkt links neben dem gepflasterten Vorhof stand der uralte Apfelbaum, der inzwischen kaum noch trug und in dessen Rinde die Initialen HF eingeritzt waren. Auf der anderen Seite des Gebäudes grenzten Brombeerbüsche und ein windschiefer Lattenzaun den Garten von den Bahngleisen ab, die keine zehn Meter entfernt an unserem Wohnzimmer vorbeiführten.

Die Strecke war inzwischen sehr befahren. In meiner Kindheit hatten nur wenige Personen- und Güterzüge am Tag die ländliche Ruhe gestört. Heute sauste hier tagsüber alle zwanzig Minuten die S-Bahn entlang, von Düsseldorf bis Mönchengladbach und umgekehrt, nachts immer noch in stündlichen Abständen. An den regelmäßig wiederkehrenden Lärm war ich seit vielen Jahren gewöhnt. Ich hörte ihn kaum noch.

Das alte Backsteinhaus mit seinem großen Garten lag wie eine grüne fruchtbare Insel zwischen den zurzeit winterlich kahlen Äckern und Feldern, die sich auf der einen Seite nach Büttgen hin, zur anderen bis zu den Ortschaften Vorst und Kleinenbroich ausdehnten.

Hier war ich groß geworden; ich kannte jeden Winkel und Strauch. Diese Gewissheit ließ ein Gefühl des Wohlbehagens und der Geborgenheit in mir aufsteigen. Schon lange vor meiner Geburt hatte meine Familie in dem Haus an den Schienen gelebt. Das flache weite Land, durchzogen von geteerten Feldwegen und der Bahnlinie, war mir ebenso vertraut wie die einsame Lage des Häuschens.

Als Jugendliche hatte ich seine Abgeschiedenheit verflucht und mit fünfzehn so schnell wie möglich den Mofaführerschein gemacht, um mich mit meinen Freunden in Büttgen auf dem Rathausplatz treffen zu können.

Inzwischen wusste ich die Idylle zu schätzen und kam hierher, sooft es die Arbeit erlaubte. Von Düsseldorf aus war es nicht weit, knapp zwanzig Minuten Fahrt über Autobahn und Landstraße. Heike hatte es sogar noch näher. Sie wohnte nur ein paar Kilometer weiter in Kleinenbroich. Johanna dagegen musste von Berlin aus etliche Stunden bis nach Hause auf sich nehmen. Sie besuchte meine Eltern dementsprechend selten, aber wohl auch aus anderen Gründen. Ihr Verhältnis zu unserer Mutter war mir immer etwas kühl vorgekommen.

Als ich merkte, dass ich mittlerweile mit den Zähnen klapperte, eilte ich den beiden schnell in die Sauna nach. Der Kälteschock hatte uns belebt. Jetzt schwiegen wir nicht mehr wohlig wie beim ersten Saunagang, sondern tauschten uns über alles Mögliche aus: über unsere Männer, den Arbeitsalltag, Johanna und Heike über ihre inzwischen schon erwachsenen Kinder. Heikes Zwillinge Katharina und Fabian waren sehr mit ihrem BWL-Studium in Düsseldorf beschäftigt, und Johannas zweiter Sohn Christopher steckte mitten in den Chemie-Masterprüfungen. Sein großer Bruder Bastian war genauso alt wie ich und gerade mit seiner Freundin zusammengezogen.

Es war ungefähr zwei Jahre her, dass wir drei das letzte Mal beisammen gewesen waren, bei Tante Claras fünfundsiebzigstem Geburtstag. Damals hatten wir unsere Männer und Heike und Johanna auch ihre Kinder dabeigehabt, und wir konnten uns nicht in dem Maße aufeinander konzentrieren wie heute. Es war schön, endlich mal wieder in aller Ruhe miteinander zu plaudern.

»Sollten wir uns nicht langsam anziehen und reingehen?«, überlegte Heike auf einmal mit gerunzelter Stirn. »Mama und Papa fragen sich bestimmt schon, wo wir bleiben.«

»Ach was.« Johanna winkte ab. »Sauna dauert eben. Das wissen sie doch.«

Ich nickte und schaute aus dem Fenster, von dessen Scheibe das Kondenswasser rann, hinaus in den dunklen Garten. Zufrieden seufzte ich auf. Ich fand es wunderbar, dass wir fünf – unsere Eltern und wir drei Töchter – endlich wieder vereint waren. Anlass war der bevorstehende achtzigste Geburtstag unseres Vaters. Er hatte sich eine Feier im kleinen Kreis gewünscht, außer uns dreien würden noch mein Onkel Wolfgang und Tante Clara mit meinen beiden Cousins kommen. Dabei wollte Papa es eigentlich bewenden lassen, aber Mama hatte ihn dazu gedrängt, zusätzlich noch seine zwei ehemaligen Geschäftspartner mit ihren Gattinnen einzuladen, bei deren letzten runden Geburtstagen sie selber Gäste gewesen waren. Die Feier würde am Sonntag stattfinden. Zwei Tage lang hatten wir unsere Eltern ganz für uns.

»Also, ich geh jetzt rüber«, wieder war es Heike, die keine Ruhe mehr hatte, »um Mama beim Tischdecken zu helfen.« Wie so oft siegte ihr Pflichtbewusstsein über den Genuss. Das Handtuch über der Brust festhaltend, kletterte sie hinunter auf den Fliesenboden und verließ die kleine Sauna. Kurz darauf hörte ich die Dusche rauschen.

»Sie hat Hummeln im Hintern, wie immer.« Johanna grinste und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Ich hab es nicht so eilig. Und du, Britta?« »Ich bleibe auch noch ein bisschen.« Ich machte mich auf der Holzbank lang und ließ die Wärme durch die Haut in die Knochen dringen. Gerade wollte ich die Augen schließen, als Johanna leise sagte: »Ich weiß nicht, ob ich ein ganzes Wochenende heile Familie aushalte.«

Ihr bitterer Tonfall ging mir durch und durch, viel tiefer, als die Saunahitze es vermocht hätte. Mir fiel keine passende Antwort ein. Stattdessen kam mir wieder die vernarbte Stelle in der Rinde des Apfelbaums in den Sinn, dort, wo die Initialen eingeritzt waren. HF. An meiner Stelle müsste eine andere Frau hier liegen, schoss es mir durch den Kopf, eine, die lange vor meiner Geburt Teil der Familie gewesen war. Wie hätte sie auf Johannas Worte reagiert?

Die Küche empfing uns mit der bulligen Wärme des Kachelofens. Die Hängelampe mit dem Makrameeschirm, den meine Mutter Anfang der achtziger Jahre geknüpft hatte, spendete warmes Licht.

Mama und Heike richteten Platten mit Aufschnitt und Käse auf der zerkratzten Kunststoffarbeitsplatte an, schnitten Brot und Tomaten und hatten bereits Tee aufgegossen. Der fruchtige Duft von Hagebutte und Hibiskus schwebte im Raum. Meine Mutter drehte sich lächelnd zu uns um. Liebevoll betrachtete ich ihr zerfurchtes und mit den Jahrzehnten weicher gewordenes Gesicht, das von einer Wolke weißen Haares umrahmt wurde.

»Da seid ihr ja, ihr beiden«, sagte sie. »Wie schön. Heike hat drüben im Esszimmer gedeckt. Wenn jeder von euch auch etwas trägt, können wir gleich anfangen. Nur Papa müssen wir noch vom Fernseher loseisen. Eigentlich wollte er nur die Nachrichten schauen, ist aber wie üblich hängenblieben.« Sie seufzte und verdrehte die Augen.

»Na, die Aussicht auf frisches Mett mit Zwiebeln wird ihn schon weglocken.« Heike grinste und schwenkte demonstrativ eine randvoll gefüllte Schale mit rosafarbenem Hack. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, während Johanna ihren verzog. Seit vielen Jahren war sie Vegetarierin.

Wenige Minuten später saßen wir fünf einträchtig beisammen an dem ovalen Tisch im Esszimmer. Wie von jeher hatte Papa sich am Kopfende platziert, das Fenster, das zu den Schienen hin lag, im Rücken. Mir fiel auf, wie sehr er in den letzten Jahren gealtert war. Von dem einst hünenhaften Mann war nicht viel übrig geblieben. In sich zusammengesunken schien er, der Rücken gekrümmt, die Hände von der Gicht verformt, das Gesicht gegerbt von der Zeit, vom Wetter und von den Sorgen. Nur seine blauen Augen schauten wach und zugleich träumerisch wie eh und je in die Welt.

Mein Vater war mir immer wie ein Visionär erschienen. Als Architekt hatte er es zu seiner Zeit zu einiger Bekanntheit gebracht. Gemeinnützige Einrichtungen zu konzipieren, in denen Menschen sich geborgen fühlten, war seine Spezialität gewesen. Er hatte Gebäude geschaffen, die Pragmatismus und Ästhetik in sich vereinten.

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich ihn als Zwölfjährige einmal danach gefragt hatte, was ihm an seiner Arbeit Spaß mache, als er gerade über einem Bauplan brütete.

Er erklärte mir, dass das Kulturzentrum, das er zurzeit plante, fremde Menschen zusammenbringen solle und sich das in der baulichen Atmosphäre widerspiegeln müsse. Mit einem versonnenen Lächeln sprach er von der Seele des Gebäudes, die er ihm einhauchen wolle, und dass das jedes Mal eine besondere Herausforderung für ihn sei.

»Ein guter Architekt schafft das«, sagte er. »Und diese Begegnungsstätte im sozialen Brennpunkt ...«, er tippte mit dem Zeigefinger auf die Zeichnung, » ... braucht eine friedliche Seele, eine, die beflügelt, anstatt Grenzen zu verhärten.«

Inzwischen war mein Vater seit vielen Jahren in Rente; seine kurzsichtigen Augen und die versteiften Fingerknöchel hätten es auch gar nicht mehr hergegeben, die metergroßen Baupläne auszuarbeiten, geschweige denn, mit komplizierten Graphikprogrammen zurechtzukommen.

Nun sah er uns der Reihe nach zufrieden an.

»Wie schön, dass ihr drei euch freinehmen konntet. Es ist wunderbar, euch endlich wieder bei uns zu haben. Dieses Haus ist schrecklich leer in den letzten Jahren.« Er nickte und nahm einen Schluck Tee.

»O ja, ihr seid viel zu selten hier«, bekräftigte Mama. Ein vorwurfsvoller Tonfall hatte sich in ihre Stimme geschlichen. »Bis auf Heike natürlich.«

»Kunststück, bei der unglaublichen Anreise von Kleinenbroich«, erwiderte Johanna schnippisch.

Papa nickte Johanna und mir begütigend zu.

»Dass ihr zwei uns nicht öfter besucht, ist ja verständlich.« Neben der Entfernung nach Berlin meinte er vor allem Johannas zeitraubende Arbeit als Staatsanwältin. Und ich war als Reiseleiterin oft wochenlang und in kurzen Abständen irgendwo im Ausland unterwegs. »Ich freue mich einfach, dass ihr da seid und am Sonntag mit mir diesen äußerst zweifelhaften runden Geburtstag feiert.«

Ich wusste, dass Papa das Älterwerden gar nicht behagte, und schmunzelte. Seine Geburtstage feierlich zu begehen war noch nie sein Ding gewesen.

»Achtzig wird man eben nur einmal im Leben«, sagte meine Mutter mahnend, die nur ein Jahr jünger war. »Es wäre einfach nicht in Ordnung gewesen, diesen Jubeltag sang- und klanglos verstreichen zu lassen. Ich finde ja immer noch, dass du auch deine Schwiegersöhne und Enkelkinder hättest einladen sollen, die Nachbarn und die Freunde aus der Gemeinde ...«

»Mir ist es so schon Trubel genug!«, fiel mein Vater ihr ins Wort. Es war erstaunlich, wie er es inzwischen schaffte, ihr Paroli zu bieten. In meinen Kindheitserinnerungen beugte er sich fast immer dem Willen seiner Frau. »Ein kleines Fest und vorher ein paar schöne Tage mit unseren Töchtern, darauf hatten wir uns geeinigt. Lass es gut sein, Christa.« Energisch griff er nach dem Brotkorb. Mama sah ihn konsterniert an, klappte jedoch wortlos den Mund zu.

Eine Weile aßen wir schweigend. Dann fragte ich Johanna nach ihren neuesten Fällen und Heike nach der Situation in der Kindertagesstätte, die sie leitete. Die Ankunft der vielen Flüchtlingsfamilien aus Syrien und Afghanistan in den letzten Jahren hatten ihr Aufgabenfeld verändert, doch sie empfand es als Bereicherung und Herausforderung. Wir plauderten und griffen beherzt zu. Landluft und Sauna hatten uns hungrig gemacht.

Nach dem Abendessen räumten wir Töchter mit unserer Mutter den Tisch ab und die Küche auf, während Papa in seinem geliebten Sessel Platz nahm und schon wieder nach der Fernbedienung griff.

Später spielten wir alle zusammen Rommee, wie wir es früher oft getan hatten. Wie immer gewann Johanna, und wie immer ärgerte sich Heike darüber. Danach gingen die beiden auf die Terrasse, Johanna, um zu rauchen, und Heike, um sie zu begleiten. Ich hörte ihre Stimmen und ihr Gelächter durch das gekippte Fenster. Es versetzte mir einen Stich. Trotz ihrer Unterschiede bildeten die beiden eine Einheit, von der ich aufgrund meiner Jugend ausgeschlossen war. Sie hatten eine andere Kindheit als ich gehabt und teilten andere Erinnerungen.

Während meine Mutter in den Keller ging, um eine Flasche Wein heraufzuholen, erreichten mich einige Fetzen des Gesprächs von draußen.

»... weiß ich, dass es schwer für die beiden ist. Zu solchen Anlässen vermissen sie Hermine besonders«, hörte ich Heike sagen. »Sie waren gestern noch am Grab und haben einen Blumenstrauß hingebracht, hat Mama mir vorhin erzählt.«

»Ich vermisse sie auch.« Johannas Stimme klang ungewöhnlich weich. »Achtundvierzig wäre sie heute, nicht wahr? Vorhin am Esstisch dachte ich, sie säße dort ... auf dem Stuhl, der an der Wand steht, weißt du? Das hätte zu ihr gepasst ... Das volle Licht zu meiden, meine ich, und sich geheimnisvoll zu geben.«

(Continues…)


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