Wie du mich siehst (A Very Large Expanse of Sea)

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Overview

Zum Weinen, zum Verlieben, zum Wütendwerden
Bestsellerautorin Tahereh Mafi erzählt einen bewegenden, kraftvollen, autobiographisch geprägten Roman, der Vorurteile enthüllt und uns daran teilhaben lässt, wie Liebe alles Trennende überwindet.
Eine Kleinstadt in den USA: Shirins Alltag ist zum Albtraum geworden. Sie hat genug von den unverschämten Blicken, den erniedrigenden Kommentaren und den physischen Attacken, die sie ertragen muss, weil sie Muslima ist. Sie flüchtet sich ins Musikhören und in das Breakdance-Training mit ihrem Bruder und dessen Freunden. Shirin hat beschlossen, niemandem mehr zu trauen. Bis sie an ihrer neuen High School den Jungen Ocean trifft. Er ist der erste Mensch seit langem, der Shirin wirklich kennenlernen möchte. Erschrocken weist Shirin ihn harsch zurück. Ocean ist für sie aus einer Welt, aus der ihr bisher nur Hass und Ablehnung entgegenschlugen. Aber dann kommt alles anders ...
»Die allerbesten Bücher bewegen dich dazu, die Welt um dich herum zu überdenken, und das ist eines von ihnen.« Nicola Yoon, Bestsellerautorin von ›Du neben mir und zwischen uns die ganze Welt‹

Product Details

ISBN-13: 9783733652234
Publisher: Fischer Sauerländer
Publication date: 11/27/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 352
File size: 1 MB
Age Range: 13 Years
Language: German

About the Author

About The Author

Tahereh Mafi wurde 1988 in einer Kleinstadt in Connecticut, USA, geboren. Sie ist iranischer Abstammung und die Jüngste von fünf Geschwistern neben vier älteren Brüdern. Ihr Debütroman ›Shatter Me‹ (dt.: ›Ich fürchte mich nicht‹), der erste Band einer Trilogie, ist 2011 in den USA erschienen, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und stand auf den Bestsellerlisten der New York Times und der USA Today. Mafi ist mit dem Filmemacher und Schriftsteller Ransom Riggs verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Santa Monica, Kalifornien.

 


Tahereh Mafi wurde 1988 in einer Kleinstadt in Connecticut, USA, geboren. Sie ist iranischer Abstammung und die Jüngste von fünf Geschwistern neben vier älteren Brüdern. Ihr Debütroman ›Shatter Me‹ (dt.: ›Ich fürchte mich nicht‹), der erste Band einer Trilogie, ist 2011 in den USA erschienen, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und stand auf den Bestsellerlisten der New York Times und der USA Today. Mafi ist mit dem Filmemacher und Schriftsteller Ransom Riggs verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Santa Monica, Kalifornien.  

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Es kam mir vor, als wären wir ständig nur am Umziehen, immer, um uns irgendwie zu verbessern, ein besseres Leben zu haben, was weiß ich. Für mich war es das totale emotionale Schleudertrauma. Seit der ersten Klasse war ich auf so vielen unterschiedlichen Schulen gewesen, dass ich ihre Namen durcheinanderbrachte, und die andauernden Schulwechsel hatten mich so zermürbt, dass mir die Lust an meinem Leben verging. Das war jetzt schon die dritte Highschool in weniger als zwei Jahren. Ich kam da nicht mehr mit. Dabei musste ich mich sowieso schon jeden Tag mit so viel Bullshit rumschlagen, dass ich es manchmal kaum mehr schaffte, die Lippen zu bewegen. Ich fürchtete mich davor, zu sprechen oder zu schreien, weil ich Angst hatte, die Wut würde mich an meinen geöffneten Mundwinkeln packen und in Stücke reißen.

Also schwieg ich.

Für mich war es beinahe schon Routine. Wieder mal ein erster Schultag in einer wieder mal neuen Stadt. Ich machte es wie an jeder neuen Schule und vermied es, irgendwen anzuschauen. Ich wurde nämlich angeschaut, und sobald ich zurückschaute, fassten die Leute das als Einladung auf, irgendeinen Kommentar von sich zu geben. Das war dann fast immer entweder etwas Beleidigendes oder Dummes oder beides. Deshalb hatte ich schon vor längerer Zeit entschieden, es mir leichter zu machen, indem ich so tat, als wären sie gar nicht da. Die ersten drei Stunden waren ohne größeren Zwischenfall vorübergegangen, aber ich hatte noch Orientierungsprobleme. Der nächste Kurs fand anscheinend in einem ganz anderen Gebäude statt, und ich war gerade dabei, die Zimmernummern an den Türen mit denen auf meinem Stundenplan zu vergleichen, als es zum zweiten Mal klingelte. Bis ich begriff, was los war und entgeistert auf die Wanduhr schaute, hatten sich die Schülerhorden um mich herum schon verzogen, und ich stand allein in einem langen, ausgestorbenen Flur, den zerknitterten Ausdruck meines Stundenplans zwischen den Fingern. Ich schloss die Augen und stieß einen unterdrückten Fluch aus. Als ich das Klassenzimmer endlich gefunden hatte, war ich sieben Minuten zu spät. Ich stieß die Tür auf, die leise in den Angeln quietschte, worauf sich ein paar Schüler umdrehten. Der Lehrer verstummte, die Lippen noch zum letzten Wort geformt, die Mimik zwischen zwei Ausdrücken erstarrt.

Er blinzelte mich an.

Die Wände zogen sich um mich zusammen, ich schaute zu Boden und rutschte wortlos auf den nächsten freien Platz. Ich holte mein Heft aus der Tasche. Einen Stift. Atmete flach. Und während ich darauf wartete, dass der Moment vorüberging, dass sich die Leute wieder umdrehten und der Lehrer weiterredete, räusperte er sich plötzlich. »Wie ich eben schon sagte, werdet ihr für diesen Kurs eine umfangreiche Lektüreliste abarbeiten müssen, und diejenigen, die neu bei uns sind ...«, er zögerte und warf einen Blick auf die Anwesenheitsliste in seiner Hand, » ... werden über unser extrem anspruchsvolles Lernpensum vielleicht erst einmal überrascht sein.« Er schwieg. Zögerte wieder. Sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Zettel.

Dann sagte er unvermittelt: »Entschuldige bitte, falls ich das nicht richtig ausspreche, aber du bist ... Sharon?« Er sah auf, sah mir direkt in die Augen.

»Shirin«, sagte ich.

Wieder drehten sich einige Schüler zu mir um.

»Ah ja.« Der Lehrer – Mr Webber – machte keinen Versuch, meinen Namen noch einmal korrekt auszusprechen. »Willkommen.« Ich sagte nichts.

»Schön.« Er lächelte. »Du weißt, dass das hier ein Englischkurs mit erhöhtem Anforderungsniveau ist.«

Ich stutzte. Was für eine Reaktion erwartete er auf eine so banale Feststellung? Schließlich sagte ich: »Ja?«

Er nickte, dann lachte er. »Na ja, Herzchen, ich fürchte, du bist hier im falschen Kurs.«

Ich wollte ihm sagen, dass er mich nicht Herzchen nennen sollte, wenn er mit mir redete. Ich wollte ihm sagen, dass er überhaupt nicht mit mir reden sollte, niemals, prinzipiell nicht. Stattdessen sagte ich: »Ich bin im richtigen Kurs«, und hielt meinen zerknitterten Stundenplan hoch.

Mr Webber schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. »Kein Problem, das ist nicht deine Schuld. So etwas passiert bei neuen Schülern öfter. Aber das Sekretariat ist gleich ...«

»Ich bin im richtigen Kurs, klar?« Das klang heftiger als beabsichtigt. »Ich bin im richtigen Kurs.«

Genau so ein Scheiß passierte mir ständig.

Es war total egal, wie akzentfrei mein Englisch war. Es war egal, wie oft ich den Leuten sagte, dass ich hier geboren war, dass Englisch meine erste Sprache war, dass sich meine Cousins und Cousinen im Iran über mich lustig machten, weil ich holpriges Farsi mit amerikanischem Akzent sprach – alles egal. Sie nahmen trotzdem automatisch an, ich wäre frisch per Boot aus irgendeinem fernen Land gekommen. Jetzt verflog Mr Webbers Lächeln. »Oh«, sagte er. »Okay.« Um mich herum ertönte Lachen, und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Ich senkte den Blick und schlug mein leeres Heft wahllos irgendwo auf, in der Hoffnung, dem Gespräch damit ein Ende zu machen.

Stattdessen hob Mr Webber beide Hände und sagte: »Hör zu – ich persönlich freue mich, dich in der Klasse zu haben, okay? Aber das ist nun mal ein Kurs für Schüler mit besonderem Leistungsprofil, und obwohl ich mir sicher bin, dass dein Englisch wirklich gut ist, bist du trotzdem ...«

»Mein Englisch ist nicht wirklich gut«, sagte ich. »Mein Englisch ist – verfickt nochmal – perfekt.«

Den Rest der Stunde verbrachte ich im Büro des Schulleiters, der mir streng auseinandersetzte, dass ein solches Benehmen von der Schule nicht akzeptiert würde. Falls ich vorhätte, weiterhin ein absichtlich feindseliges und unkooperatives Verhalten an den Tag zu legen, sollte ich vielleicht noch mal überdenken, ob dies die geeignete Schule für mich sei. Und wegen meiner vulgären Ausdrucksweise könnte ich gleich eine Stunde nachsitzen. Während er noch schimpfte, klingelte es zur Mittagspause, und als er mich gehen ließ, raffte ich meine Sachen zusammen und stürzte davon.

Ich hatte es nicht eilig, irgendwo hinzukommen; ich wollte nur weg von den Leuten. Nach der Mittagspause musste ich noch zwei weitere Kurse durchstehen, war mir aber nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Für heute war meine Frustrationstoleranz in Sachen Dummheit anderer Leute eigentlich schon aufgebraucht.

Ich saß in einer Toilettenkabine, balancierte mein Mittagessentablett auf den Knien und hielt meinen Kopf mit beiden Händen im Schraubzwingengriff, als mein Telefon summte.

Mein Bruder.

was machst du?, schrieb er. mittag essen blödsinn. wo versteckst du dich? auf dem klo was? warum? was soll ich sonst 37 minuten lang machen? leute anstarren?

Er schrieb, ich solle verdammt nochmal aus dem Klo kommen und in die Cafeteria gehen und dort mit ihm essen. Anscheinend hatte die Schule schon ein ganzes Aufgebot an neuen Freunden angekarrt, um sein hübsches Gesicht zu feiern. Jedenfalls wollte er, dass ich mich ihm anschloss, statt mich zu verstecken.

danke, kein bedarf, tippte ich.

Und dann warf ich mein Essen in den Müll und verkroch mich bis zum Ende der Pause in der Bibliothek.

Mein Bruder war zwei Jahre älter als ich; wir waren eigentlich fast immer auf denselben Schulen. Aber für ihn waren die Umzüge nicht so schlimm wie für mich. Für ihn bedeutete eine neue Stadt nicht jedes Mal neues Leiden. Allerdings gab es auch zwei große Unterschiede zwischen mir und meinem Bruder: Erstens sah er extrem gut aus, und zweitens lief er nicht mit einer metaphorischen Neonleuchtschrift auf dem Kopf rum, die ACHTUNG! TERRORISTIN IM ANMARSCH blinkte.

Die Mädchen standen Schlange, um ihm die Schule zu zeigen. Er war der »süße Neue«. Der faszinierende Fremde mit der faszinierenden Lebensgeschichte und dem faszinierenden Namen. Der schöne Exot, auf den sich all die hübschen und beliebten Mädchen stürzten, um ihr Bedürfnis nach einem Objekt zum Experimentieren und gleichzeitig auch noch Gegen-die-Eltern-Rebellieren zu befriedigen. Ich hatte aus bitterer Erfahrung gelernt, dass ich mich mittags nicht zu ihm und seiner Clique in die Cafeteria setzen konnte. Jedes Mal, wenn ich auftauchte – mit eingezogenem Schwanz und einem Selbstwertgefühl, das sowieso schon in der Tonne lag –, dauerte es keine fünf Sekunden, bis ganz klar war, dass die neuen Freundinnen meines Bruders nur nett zu mir waren, weil sie sich über mich an ihn ranmachen wollten.

Danke, nein. Da setzte ich mich doch lieber aufs Mädchenklo.

Ich redete mir ein, es würde mir nichts ausmachen, aber das tat es doch. Klar tat es das.

Das politische Klima ließ mir keinen Moment zum Durchatmen. Kurz nach dem 11. September – zwei Wochen nachdem ich in die neunte Klasse gekommen war – hatten mich auf dem Heimweg zwei Typen aus meiner Schule attackiert, aber das Schlimmste ...

... das Schlimmste daran war gewesen, dass es Tage gedauert hatte, bis ich bereit war, mir einzugestehen, was wirklich passiert war. Warum es passiert war. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, es gäbe eine komplexere Erklärung; hatte gehofft, es hätte mehr dahintergesteckt als blinder Hass. Dass etwas anderes sie dazu getrieben hätte. Dass diese zwei, mir komplett unbekannten Jungs einen anderen Grund gehabt hätten, mich bis nach Hause zu verfolgen, einen anderen Grund, mir das Tuch vom Kopf zu reißen und mich damit zu würgen. Ich verstand nicht, warum sie ihren Hass mit solcher Brutalität an mir abreagiert hatten, ohne dass ich irgendwem etwas getan hatte. Warum sie geglaubt hatten, das Recht zu haben, mir am helllichten Tage Gewalt anzutun, obwohl ich doch einfach nur eine Straße entlanggegangen war.

Ich hatte es nicht verstehen wollen.

Aber genau so war es gewesen.

Obwohl ich keine Erwartungen in unseren Umzug hierher gesetzt hatte, spürte ich jetzt doch Enttäuschung darüber, dass diese Schule auch nicht besser war als meine letzte. Wieder mal war ich in einer Kleinstadt gelandet, wieder mal saß ich in einem Universum fest, das von Menschen bevölkert war, die Gesichter wie meines nur aus den Abendnachrichten kannten – und das machte mich wütend. Es machte mich wütend, weil ich genau wusste, wie viele anstrengende, einsame Monate jetzt wieder vor mir lagen, bis man sich an der neuen Schule an mich gewöhnt hatte. Es machte mich wütend, weil ich wusste, wie lang meine Mitschüler brauchen würden, bis sie endlich einsahen, dass ich nicht gemeingefährlich war und dass man vor mir keine Angst haben musste. Es machte mich wütend, weil ich wusste, wie unfassbar viel Mühe und Selbstüberwindung es mich kosten würde, bis ich endlich eine einzige Freundin gefunden hätte, ein Mädchen, das mutig genug war, sich in der Öffentlichkeit neben mich zu setzen. Ich hatte diese immer gleiche, immer schlimme Erfahrung schon so viele Male an so vielen unterschiedlichen Schulen machen müssen, dass ich manchmal am liebsten den Kopf gegen die Wand geschlagen hätte. Alles, was ich mir von dieser Welt noch wünschte, war die totale Unauffälligkeit. Ich hätte so gern gewusst, wie es sich anfühlt, einen Raum zu durchqueren und von niemandem angestarrt zu werden. Aber ein einziger Rundumblick ließ mich erkennen, dass jede Hoffnung darauf hier vergebens war.

Die Schülerschaft meiner neuen Highschool bestand zum allergrößten Teil aus einer Masse von gleich aussehenden Jugendlichen, die anscheinend alle basketballverrückt waren. Ich war schon an Dutzenden von Jubelplakaten vorbeigekommen, und über dem Haupteingang hingen riesige Banner, die das schuleigene Team feierten, obwohl die Saison noch gar nicht angefangen hatte. An den Wänden klebten überdimensionale schwarze Ziffern auf weißem Grund und brüllten den Vorübergehenden den Countdown der Tage bis zum ersten großen Spiel entgegen.

Ich zählte stattdessen die blöden Bemerkungen, die ich mir heute hatte anhören müssen. Obwohl ich schon bei vierzehn war, hielt ich mich ganz gut, bis ich auf dem Weg zu meinem nächsten Kurs im Gang von einem Typen gefragt wurde, ob ich mir die Windel um den Kopf gewickelt hätte, um darunter einen Sprengsatz zu verstecken. Als ich ihn nicht beachtete, meinte sein Kumpel, wahrscheinlich hätte ich unter dem Tuch eine Glatze, und ein dritter verdächtigte mich, ein verkleideter Mann zu sein. Während sie sich gegenseitig zu ihren wahnsinnig originellen Thesen gratulierten, empfahl ich ihnen, sich zu verpissen. Ich hatte keine Ahnung, wie diese Arschlöcher aussahen, weil ich sie keines Blickes gewürdigt hatte und wiederholte in meinem Kopf ständig: »Siebzehn, siebzehn ...«, bis ich – natürlich zu früh – im Klassenzimmer ankam und in dem dämmerigen Raum darauf wartete, dass die anderen eintrudelten.

Diese regelmäßigen Giftspritzen, die mir irgendwelche unbekannten Menschen verabreichten, waren definitiv das Schlimmste am Kopftuchtragen. Das Beste war, dass ich Musik hören konnte, ohne dass Lehrer es mitbekamen.

Unter dem Tuch blieben meine Kopfhörer perfekt verborgen.

Die Musik erleichterte mir das Leben enorm. Mit Knopf im Ohr fiel es mir leichter, allein durch die Schulflure zu gehen oder einsam herumzusitzen. Ich freute mich, dass keiner sehen konnte, dass ich Musik hörte, weshalb mir auch keiner sagte, ich solle sie ausmachen. Mittlerweile war ich sehr geübt darin, Gespräche mit Lehrern zu führen, die keine Ahnung hatten, dass ich nur die Hälfte von dem mitbekam, was sie zu mir sagten, und das machte mich glücklich. Die Musik verlieh mir zusätzlichen Halt, sie war wie eine Art Ersatzskelett für mich. Ein Skelett, an das ich mich lehnen konnte, wenn ich vor Erschöpfung zusammenzusacken drohte. Der iPod, den ich meinem Bruder geklaut hatte, war im Dauereinsatz, und ich fühlte mich, als würde ich dem Soundtrack zum Film meines Lebens lauschen, während ich durch die Flure ging. Irgendwie gab mir das Hoffnung. Fragt mich nicht, warum.

Als die Teilnehmer des letzten Kurses an diesem Tag schließlich alle im Raum waren, hatte ich die Lehrerin schon auf stumm geschaltet. Meine Gedanken wanderten. Ich schaute immer wieder zur Uhr und konnte es nicht erwarten, endlich hier rauszukommen. Die Fugees füllten das Vakuum in meinem Kopf, während ich auf meine Stiftedose starrte, die ich in den Händen drehte. Ich liebte Druckbleistifte. Schöne, besondere Druckbleistifte. Ich besaß eine kleine Sammlung, die mir eine Freundin aus meiner vorvorvorletzten Highschool aus Japan mitgebracht hatte. Sie waren schmal und bunt und glitzerten, und dazu gab es passende Radiergummis, und alles zusammen steckte in einer echt niedlichen Dose mit einem Comicschaf, das blökte: Mach dich nicht über mich lustig, bloß weil ich ein Schaf bin. Ich fand das witzig und lächelte bei der Erinnerung, als mir jemand auf die Schulter klopfte. Fest.

Ich drehte mich um. »Was?«, fragte ich lauter als beabsichtigt.

Ein Typ. Er sah überrascht aus.

»Was?«, fragte ich noch einmal, diesmal etwas gereizt.

Er sagte etwas, das ich nicht hörte. Ich zog den iPod aus der Tasche und machte ihn aus.

»Wow.« Er blinzelte mich an. Lächelte, wirkte aber auch erstaunt. »Hörst du da drunter etwa Musik?«

»Gibt's irgendwas, was ich für dich tun kann?«

»Ach so, nein, nein. Ich hab dich nur eben aus Versehen mit meinem Buch angerempelt. Ich wollte mich bloß entschuldigen.«

»Okay.« Ich drehte mich um und schaltete den iPod wieder an.

Und dann war der Schultag vorbei.

Mein Name war verunstaltet worden, Lehrer hatten nicht gewusst, was sie mit mir anfangen sollten, mein Mathelehrer hatte einen Blick auf mich geworfen und der Klasse anschließend einen fünfminütigen Vortrag darüber gehalten, dass Menschen, die dieses Land nicht lieben, in das Land zurückgehen sollten, aus dem sie gekommen waren, und währenddessen hatte ich die ganze Zeit in mein aufgeschlagenes Mathebuch gestarrt, so dass sich die quadratische Gleichung auf der Seite in meine Netzhaut gebrannt hatte und ich sie tagelang nicht mehr aus dem Kopf bekam.

Keiner meiner Mitschüler hatte mit mir gesprochen, bis auf den einen, der mir aus Versehen sein Biobuch in die Schulter gerammt hatte.

Ich wünschte, das alles wäre mir egal gewesen.

Auf dem Nachhauseweg spürte ich Erleichterung, war aber zugleich auch gedrückter Stimmung. Es kostete Kraft, den Schutzschild hochzuhalten, der mich vor Verletzungen schützte, und am Ende des Tages war ich oft so ausgelaugt, dass ich am ganzen Körper zitterte.

Während ich die stille Straße entlangtrottete, die mich nach Hause führte, versuchte ich, den schweren, drückenden Nebel aus meinem Kopf zu schütteln und wieder Kraft zu schöpfen, als ein Wagen neben mir das Tempo drosselte und eine Frau rief, ich sei jetzt in Amerika, also solle ich mich gefälligst auch entsprechend kleiden, aber ich war so ... so müde, dass ich noch nicht mal die Energie aufbrachte, wirklich wütend zu sein, als ich dem davonfahrenden Wagen zumindest meinen Mittelfinger hinterherstreckte.

(Continues…)


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